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Plattensüchtig: Sammeln als Extremsport


Plattensüchtig
Sammeln als Extremsport

t-online, Jürgen Schmich

Aktualisiert am 23.05.2017Lesedauer: 3 Min.
Man muss wissen, wo’s den besten Stoff gibt, Schallplattenladen Berlin SchönebergVergrößern des BildesMan muss wissen, wo’s den besten Stoff gibt, Schallplattenladen Berlin Schöneberg (Quelle: Müller-Stauffenberg/imago-images-bilder)
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Ist das noch normal? Wenn sich erwachsene Männer beim Anblick eines Schallplattenladens freuen wie kleine Kinder an Weihnachten?

Wenn sie hunderte Euros für eine zerkratzte Single hinblättern? Wenn sie mehr Vinyl im Regal stehen haben als sie jemals hören können – und dennoch immer noch mehr wollen? Klare Antwort: Ja, das ist völlig normal – zumindest wenn man süchtig nach Schallplatten ist. Aber was macht einen echten Sammler aus, einen Plattenverrückten, einen Plattensüchtigen?

Es beginnt immer mit dem Wunsch, die ersten Schallplatten, die man zusammengetragen hat, zu strukturieren - aus einer konfusen Ansammlung also eine richtige Schallplattensammlung zu machen. "Nachdem ich 50 oder 100 Platten hatte, fing ich an, Listen zu schreiben und die Platten alphabetisch und chronologisch einzuordnen", sagt beispielsweise Andreas Schmauder, renommierter Händler und Sammler von Schellack-Platten.

Lücken zwischen den Platten

Dabei sind die Ordnungssysteme so verschieden wie die Sammler selbst: alphabetisch, chronologisch, nach Musikrichtungen, nach Labels, nach Beats per Minute, sogar nach den Farben der Coverrücken werden die Platten sortiert. Das Schlimme: Während andere Leute Regale voll mit Vinyl sehen, sieht der Sammler nur die Lücken zwischen den Platten.

Die Zeit des wahllosen Kaufens ist für ihn damit vorbei. Das Sammler-Gen zeigt seine Wirkung. Jetzt werden Sammelgebiete definiert: japanischer Heavy Metal oder deutscher Schlager, Punk-Singles oder die Veröffentlichungen eines bestimmten Techno-Labels.

Wer beispielsweise alle Platten von Rammstein sammeln will, meint damit auch: alle Promopressungen, Testpressungen, Fehlpressungen, Schwarzpressungen und alle brasilianischen Pressungen der Band. Als nächstes werden Suchlisten erstellt. Es wird versucht zu komplettieren. Aber mit jeder Platte, die man von der Suchliste streicht, kommen drei neue dazu, die man auch noch – unbedingt, auf jeden Fall, koste es, was es wolle – haben muss.

"Man muss wissen, wo es den besten Stoff gibt"

Die Jagd beginnt. Beute wird in Plattenläden und auf Plattenbörsen gemacht - vor allem aber im Internet, auf Plattformen wie eBay, GEMM, Discogs oder bei spezialisierten Online-Händlern.

Hier lassen sich auch die hochkarätigsten Stücke auftreiben. Die Frage lautet nur noch: Was bin ich bereit zu zahlen? "Die einzige Barriere ist das Geld", bekennt denn auch Edmund Thielow, der alleine von den Beatles 6000 CDs und Vinylplatten in seinen Regalen hat. "Mir würde es sehr, sehr schwer fallen, nein zu sagen, wenn ich einen Tonträger noch nicht habe." Wer in dieser Liga sammelt, muss natürlich auch Experte sein.

Er muss über die Feinheiten verschiedener Pressungen Bescheid wissen, über den Aufbau einer Matrizennummer genauso wie über die Produktionstechniken von Covern. Das Leben dreht sich jetzt vor allem um Schallplatten. Schön, wenn man ein paar Freunde hat, die einen verstehen. Am besten Gleichgesinnte, Gleichverrückte.

Grundvoraussetzung: Perfektionismus

"Nach der raren Platte zu suchen, nicht sie zu finden, ist das eigentliche Vergnügen", sagen die Sammler, die das fortgeschrittene Stadium ihrer Leidenschaft erreicht haben. Und um dieses Vergnügen zu steigern, machen sie sich die Suche auch besonders schwer. Eine rare Platte heißt deshalb nicht nur, dass die Platte in geringer Auflage produziert wurde. Es sollte sich möglichst auch um die originale erste Pressung handeln, möglichst in tadellosem Zustand. Die Suche hört also nie auf. Denn im Normalfall zeigt eine 50 Jahre alte LP auch Altersspuren, Kratzer im Vinyl, abgestoßene Ecken der Hülle, den Namenszug des früheren Besitzers auf dem Label.

Wie akribisch ein Sammler nach dem Ideal einer jungfräulichen Platte strebt, erfahren wir von dem Hamburger Peter Bastine. 4000 Schellack-Picture-Discs von insgesamt 75 verschiedenen Nummern der amerikanischen Firma Vogue hat er im Laufe der Jahre in Händen gehabt. "Ich habe jede einzelne Vogue immer wieder verglichen. Immer wieder. Und wenn auf der einen ein Kratzer mehr war, kam die weg und die etwas bessere ins Regal."

Irgendwann ist nicht mehr so ganz klar, was wichtiger ist: die Musik, die auf einer Platte zu hören ist, oder das Objekt der Begierde, die Platte selbst. Sie wird sorgsam gepflegt und wehe, jemand wagt es einen Fingerabdruck auf dem glänzenden Vinyl zu hinterlassen. Über Reinigungsrituale, die besten Schutzhüllen, über Plattenwaschmaschinen, Mikrofasertücher oder Rettungsmaßnahmen bei verwelltem Vinyl werden Glaubenskriege unter Sammlern geführt.

Ein Normalsterblicher, der zufrieden damit ist, seinen MP3-Player mit Tausenden Songs vollgeladen zu haben, wird über so etwas wahrscheinlich nur verwundert den Kopf schütteln. Schade, denn eigentlich sollten wir diese Vinyl-Junkies beneiden: um das unschätzbare Glück, sich einer Leidenschaft bedingungslos hingeben zu können.

Für alle, die mehr über Leidenschaft und Leiden beim Schallplattensammeln erfahren wollen, ein Buchtipp: "Plattensüchtig" von Jürgen Schmich – ein Interviewbuch, in dem sieben Hardcore-Sammler aus verschiedenen musikalischen Richtungen ihre Sammlergeschichte erzählen. Erhältlich über plattensuechtig.de oder über den Buchhandel (Bestellnummer: ISBN 978-3-00-036732-8).

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