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Schreibaby: Hilfe für Kind und Eltern durch Schreiambulanz


Julia war "nur noch ein brüllendes Etwas"

t-online, Anja Speitel

Aktualisiert am 10.11.2014Lesedauer: 8 Min.
Babys. Die Eltern von Schreibabys sollten sich unbedingt professionelle Hilfe holen.Vergrößern des BildesDie Eltern von Schreibabys sollten sich unbedingt professionelle Hilfe holen. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Babys

Die kleine Julia war ein Wunschkind, endlich ein Geschwisterchen für die vierjährige Sophie. Doch die Freude über das neue Familienmitglied verging der gesamten Familie in Julchens fünfter Lebenswoche. Da fing sie an zu schreien - stundenlang, Tag und Nacht. "Ich habe sie rumgetragen, geschaukelt, in den Schlaf gestillt. Doch all das hat sie nicht beruhigt. Die einzige Rettung war der fahrende Kinderwagen. Und so bin ich gelaufen, bis zu sechs Stunden täglich - bei Regen und Schnee. Ich war so müde, dass ich schon doppelt sah. Aber wehe ich blieb stehen: Dann brüllte sie sofort wieder los", erzählt Julias Mutter Melanie K.

20 Prozent aller Neugeborenen sind Schreibabys

So wie der 38-jährigen Münchnerin ergeht es rund 20 Prozent aller Eltern. Ihre Neugeborenen sind Schreibabys. Typischer Weise beginnt das von Experten als "exzessives Schreien" bezeichnete Baby-Gebrüll in der zweiten Lebenswoche und endet meist im vierten Monat. Als Abgrenzung zu normalem Schreien gilt die "Dreier-Regel": Schreien von mindestens drei Stunden pro Tag, an mehr als drei Tagen in der Woche und über den Zeitraum von drei Wochen hinaus. "Diese Definition ist für unsere Arbeit aber gar nicht so wichtig", erklärt Kinderärztin Margret Ziegler, Leiterin der Spezialambulanz Münchner Sprechstunde für Schreibabys im kbo-Kinderzentrum München. "Trägt die Mutter das Kind permanent am Körper, schreit es vielleicht weniger als drei Stunden und trotzdem ist die Mutter überfordert."

Die Erschöpfung der Eltern sowie Beruhigungs-, Schlaf- und Fütterprobleme beim Kind seien Faktoren, die eine Vorstellung in der Ambulanz rechtfertigten. Denn stundenlanges Beruhigen schlaucht die Eltern genauso wie übermäßiges Schreien. Chronisch erschöpft gelingt es vielen Eltern dann nicht mehr, Müdigkeitssignale des Säuglings richtig zu deuten und entsprechend auf ihr Kind einzugehen. Und schreit das Baby endlich mal nicht, erledigen die Mütter schnell den Haushalt, essen mal etwas oder gehen duschen, statt die positive Zeit mit dem Kind zu genießen. Die Eltern-Kind-Bindung kann dadurch nachhaltig gestört werden. Ein Teufelskreis entsteht.

Krisentelefon hilft, wenn Mütter nicht mehr weiter wissen

"Ich habe mein eigenes Kind nicht mehr verstanden, es nur noch als brüllendes Etwas wahrgenommen", bestätigt Melanie K. "Alle halbe Stunde ist Julia schreiend aufgewacht, an einen geregelten Tagesablauf war nicht mehr zu denken - Totalchaos. Ich war fix und fertig." Am Rande ihrer Kräfte, voller Enttäuschung und Selbstvorwürfen sowie einem ständig schlechten Gewissen der großen Tochter und ihrem Mann gegenüber, suchte Melanie K. über das Internet nach Hilfe. Sie fand die Nummer des Krisentelefons des kbo-Kinderzentrums: Erste Hilfe für Eltern mit einem schreienden Säugling. "Ich rief an und bekam sehr schnell einen Termin - wahrscheinlich hörte ich mich so fertig an."

Bauchschmerzen sind meist nicht der Grund für das viele Schreien

Beim Ersttermin untersuchte Ziegler Julia eingehend, um organische Ursachen für das viele Schreien auszuschließen. Verdauungsprobleme, Milcheiweiß-Unverträglichkeit, Säure-Reflux (Sodbrennen) oder andere Erkrankungen sind aber nur bei den wenigsten Kindern der Grund fürs viele Weinen. Heute weiß man: Blähungen und Bauchkrämpfe kommen durch das Luftschlucken beim Schreien und nicht umgekehrt. Dennoch wird das Gebrüll häufig immer noch als "Dreimonatskolik" bezeichnet - ein irreführender Begriff.

Schreibabys können sich noch nicht selbst beruhigen

Meist sind solche Kinder überfordert: Sie haben eine sehr niedrige Reizschwelle, nehmen mehr auf, als sie verarbeiten können. Dadurch finden sie außergewöhnlich schwer in einen regelmäßigen Tages-Schlaf. Experten sprechen von frühkindlichen Regulationsstörungen, einer Unreife in der Selbstberuhigungsfähigkeit und der Schlaf-Wach-Regulation. Doch wenn ein Baby schreit, sobald man es hinlegt, nimmt jede Mama ihr Kleines wieder hoch. Der Mutterinstinkt lässt uns das nicht aushalten. Was die Mama gut meint, führt beim Kind aber dazu, dass es wieder Reize aufnimmt. Spätestens abends ist "das Fass dann voll" - das Kind brüllt so lange, bis es vor Erschöpfung endlich einschläft.

Besondere Belastungen in der Schwangerschaft stressen auch das Kind

Ziegler erklärt die Besonderheit dieser Babys den Eltern in einem ausführlichen Gespräch. Zudem zeigen Schlaftagebücher, in denen die Eltern Schlafphasen, Füttern, Spielen, Herumtragen, Quengeln und Schreien für fünf Tage notieren müssen, deutlich, wann das Kind in die Phase der Überreizung kommt. Auch ein Psychologe begleitet das Gespräch. Denn Studien haben gezeigt, dass Säuglinge eher zu exzessivem Schreien neigen, wenn ihre Mütter während der Schwangerschaft besonderen Belastungen ausgesetzt waren: etwa übermäßige Ängste um das Ungeborene, Mobbing und Stress am Arbeitsplatz, Paarkonflikte oder der Tod eines geliebten Menschen. "Das Ungeborene nimmt teil. An schönen, aber auch schwierigen Zeiten. Schüttet die Mutter vermehrt Stresshormone aus, sind die Kinder später leichter irritierbar, hat eine Studie an unserem Zentrum gezeigt", so Dr. Ziegler. Wissenschaftlich bewiesen ist auch: Kinder rauchender Schwangeren werden doppelt so oft Schreibabys.

"Es hat sehr lange gedauert, bis ich zum zweiten Mal schwanger wurde. Bei jedem Handgriff hatte ich dann Angst, das Baby könne abgehen. Mein Bauch hat sich bei Aufregung in der Arbeit öfters verhärtet, bereits im fünften Monat wurde ich krankgeschrieben und musste viel liegen", erzählt Melanie K., die als Gymnasiallehrerin arbeitete.

Ein unreguliertes Baby kann man alleine nicht schaffen

Bei ihrem Besuch in der Schreiambulanz stellt sich heraus, dass Julia gesund ist. Mama Melanie hingegen war krank: schwere postnatale Depression. "96 Prozent der Mütter haben ein Erschöpfungssyndrom. Wir schauen, welche individuellen Hilfen die Familie zur Entlastung braucht", sagt Ziegler. "Schreibabys brauchen sehr viel Unterstützung zur Beruhigung und Regulation. Bis das Kind seinen Rhythmus gefunden und gelernt hat, sich selbst zu regulieren, brauchen die Eltern Unterstützung. Das kann man nicht alleine schaffen!" Fehlen Familie oder Freunde, können etwa der Sozialdienst, die so genannten "Frühen Hilfen" oder das "Wellcome-Programm", bei dem Ehrenamtliche schnell und unbürokratisch helfen, zur Entlastung einbezogen werden. "Wir weisen die Eltern auf solche Angebote hin und begleiten sie, bis sich das Schreien des Babys gebessert hat und wieder Stabilität in die Familie eingekehrt ist."

Wut auf das Baby kennen die meisten

Die Schreiambulanz ist für die Eltern ein geschützter Raum. Viele trauen sich hier, auch endlich über ihre Wut zu sprechen. "Dass Aggressionen hochkommen, wenn ein Babys stundenlang schreit wie am Spieß, ist ganz normal", weiß Dr. Ziegler. Deshalb ist diese Gruppe von Babys aber auch hoch gefährdet: Exzessives Schreien ist der häufigste Grund für ein Schütteln des Säuglings. "Eine Sekunde, in der einem die Nerven durchgehen, und das Kind kann Hirnblutungen davontragen: Schwere Behinderungen und Erblindung sind häufige Folgen des Shaken-Baby-Syndroms", warnt die Kinderärztin. Kommen Wut und Verzweiflung hoch, sollten die Eltern ihr Kind an einem sichern Ort ablegen - auch wenn es dann noch mehr schreit. "Erst sich selbst beruhigen, sich am besten Hilfe etwa über das Krisentelefon holen, bevor man wieder zum Baby geht und es auf den Arm nimmt", mahnt Ziegler.

Die Eltern im Alltag unterstützen

Damit es so weit nicht kommt, geben Dr. Ziegler und Team den Eltern in der Sprechstunde und am Krisentelefon Tipps für den Umgang mit ihrem Kind. Das Wichtigste: Reizabschirmung und ein regelmäßiger Tagesrhythmus. Schreikinder bedürfen einem Nachreifungsprozess, den man durch einen konsequente Struktur unterstützen kann: Füttern, spielen, wickeln, schlafen - alles möglichst ruhig und nach dem Motto "Weniger ist mehr". Denn in den ersten drei Lebensmonaten sind eineinhalb Stunden Wachzeit das Maximum für ein Kind. "Ein reguliertes Baby merkt dann von selbst, dass es müde wird und geht aus dem Kontakt mit der Mutter raus. Schreibabys können das nicht. Sie haben oft übergroße, weit aufgerissene Augen. Das wird als Interesse fehlinterpretiert, heißt aber, dass das Kind schon total überreizt ist", weiß Heike Kreß, Dipl. Sozialpädagogin sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin am kbo-Kinderzentrum. Sie besucht betroffene Familien zuhause, hilft ihnen die Signale des Babys richtig zu deuten und die schwierige Zeit durchzustehen.

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Reize fürs Kind minimieren

"Die Mamas machen einen ganz schweren Job. Es ist so hart, das Schreien auszuhalten, wenn man das Kind hingelegt hat. Aber ohne Schreien geht das Schlafen-Lernen leider meist nicht." Wenn man dann nicht auf seinen Kopf höre, bewirke der Mutterinstinkt, dass man das weinende Baby hochnimmt. Doch das setzt neue Reize, das Gehirn kommt nicht zur Ruhe. Heike Kreß schaut bei den Babys zuhause nach allem, was es überfordern könnte - etwa Mobiles überm Bettchen, blendendes Licht oder der laufende Fernseher. "Gut ist auch, das Kind eng zu betten - dann ist es eher wie im Mutterleib. Allerdings muss dabei unbedingt darauf geachtet werden, dass es dem Kind nicht zu heiß wird! Eine gute Belüftung minimiert nämlich das Risiko des Plötzlichen Kindstods." Dicke Decken eignen sich deshalb nicht, eher ein Stillkissen. "Diese Begrenzung unterstützt zudem eine gleichbleibende Position des Babys. Die braucht es über etwa zwanzig Minuten, damit das Gehirn ruhig wird", erklärt Heike Kreß. "Ich schaue, dass die Mütter während dieser Zeit möglichst entspannt am Bettchen sitzen, frage immer wieder nach, ob sie es noch aushalten. Denn das Schreien ist anders als das regulierter Babys, ganz schrill. Es führt schon bei mir als Außenstehende zu einem erhöhten Puls - und die Mütter führt es an ihre absoluten Grenzen."

Die Tipps der Experten dann konsequent zu befolgen, ist doppelt schwer. "Bei mir führte Julias Schreien zu absoluter Hektik", erinnert sich Melanie K. "Frau Kreß war mein Ruhepol. Sie lobte und unterstützte mich. Es war so erleichternd: Endlich sagte mir mal jemand, dass ich das gut mache. Ohne sie hätte ich die Tipps nicht durchgezogen. Denn in der Ambulanz dachte ich mir erst: Was erzählen die da für einen Blödsinn? Julia bekäme die Augen vor lauter Reizen einfach nicht zu. Deshalb solle ich meinem Kind zum Einschlafen die Augen zuhalten."

Jedes Kind kann Schlafen lernen

Zusammen mit Heike Kreß, hat Melanie K. es dann versucht: "Ich saß im abgedunkelten Raum an Julias Bettchen, habe mit dem Daumen den Schnuller fixiert und mit Zeige- und Ringfinger die Äuglein zugestreichelt. Es war wie ein Wunder, so hat sie Schlafen gelernt - und das Schreien war endlich vorbei." Ein weiteres Mittel, das auch Julia half, ist der Pucksack. "Wir fragen die Mütter, ob sie bereit sind, das mal zu probieren, denn häufig wird das Pucken als Zwangsjacke wahrgenommen", sagt Heike Kreß. 99 Prozent der Schreibabys sind motorisch extrem unruhig. Schnellen die Ärmchen hoch - Moro-Reflex genannt -, weckt sich das Kind selbst auf." Pucken, eine uralte Wickelmethode, die Neugeborenen Bewegungsgrenzen setzt, reduziert erwiesenermaßen die Schreineigung in den ersten acht Lebenswochen. "Der Pucksack war das zweite Wunder", bestätigt Melanie K. "Darin eingewickelt hat Julia vier Stunden geschlafen!" Heute geht es Melanie K. wieder gut: "Die Depression ist schnell vergangen und Julia eine ganz tolle Schläferin geworden."

Weitere Infos:

Die Münchner Sprechstunde für Schreibabys erreicht man unter Tel.: 089/71009-330

Das Krisentelefon des kbo-Kinderzentrums, erreichen Sie unter der kostenfreien Rufnummer 0800/7100900. Es ist jeden Mittwoch, Freitag, Samstag und Sonntag zwischen 19 und 22 Uhr besetzt - also gerade dann, wenn der niedergelassene Kinderarzt keine Sprechstunde hat. Und vor allem in den Abend- und frühen Nachtstunden neigen unruhige Babys zu exzessivem Schreien.

Das Elterntelefon - die "Nummer gegen Kummer" - erreicht man unter der gebührenfreien Rufnummer 0800/111 0 550. Das Beratungsangebot bietet montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr spontane Hilfe sowie konkrete Informationen über weitere Hilfen zur Bewältigung von Problemen im Zusammenleben mit Kindern.

Die TelefonSeelsorge ist ein gemeinsames Beratungsangebot der evangelischen und katholischen Kirche und 24 Stunden täglich kostenfrei unter den Telefonnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 zu erreichen.

Konkrete Hilfe bei Baby-Stress, bekommt man auch über die regionalen Sozialdienste sowie durch die Hilfsangebote von www.wellcome-online.de und www.fruehehilfen.de.

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