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Tim überlebte seine eigene Abtreibung


Geburtstag statt Todestag
Tim sollte abgetrieben werden und überlebte

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

03.08.2015Lesedauer: 5 Min.
Tims leibliche Eltern wollten ihren Sohn abtreiben - doch der überstand den Schwangerschaftsabbruch im sechsten Monat.Vergrößern des BildesTims leibliche Eltern wollten ihren Sohn abtreiben - doch der überstand den Schwangerschaftsabbruch im sechsten Monat. (Quelle: Familie Guido; adeo Verlag)
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Gerade hat Tim seinen 18. Geburtstag gefeiert. Das ist ein Wunder, denn nach dem Willen seiner leiblichen Eltern wäre er jetzt nicht am Leben. Sie hatten sich zu einer Spätabtreibung entschlossen, weil bei dem Ungeborenen das Down-Syndrom diagnostiziert wurde. Wider Erwarten starb Tim bei dem Schwangerschaftsabbruch nicht. Seine Pflegeeltern haben ein bewegendes Buch über das Schicksal des Jungen geschrieben.

Als Tims Mutter im sechsten Monat schwanger war, stellten die Ärzte bei einer Routineuntersuchung die Genmutation fest. Für die Eltern war das ein Schock. Sie wollten auf keinen Fall ein behindertes Kind zur Welt bringen. Weil die Mutter mit Selbstmord drohte, leiteten die Ärzte in einem Krankenhaus in Oldenburg eine Frühgeburt ein.

Auf die tödliche Injektion von Kaliumchlorid ins Herz des Kindes verzichtete der diensthabende Gynäkologe, weil er davon ausging, dass der kleine Junge den anstrengenden Geburtsvorgang nicht überleben würde.

Wann Spätabtreibungen erlaubt sind

Juristisch gesehen kam in jener Nacht Paragraf 218 a Absatz 2 des Strafgesetzbuches zur Anwendung. Er definiert, dass ein später Abbruch der Schwangerschaft straffrei bleibt, wenn ein medizinisches Gutachten bescheinigt, dass eine werdende Mutter ihr Kind aus körperlichen, seelischen oder anderen lebensbeeinträchtigenden Gründen nicht austragen kann. Eine Frau, die mit Selbstmord droht, gilt es demnach zu schützen. Das ungeborene Leben ist damit per Gesetz zweitranging hinter dem Leben der Mutter. Selbst dann, wenn die Schwangerschaft schon weit fortgeschritten ist.

Tim blieb bleibt stundenlang unversorgt liegen

Bei der Spätabtreibung von Tim im Juli 1997 war jedoch alles anders. Er starb nicht. Bei seiner Geburt in der 25. Schwangerschaftswoche war er 32 Zentimeter klein und 690 Gramm leicht. Er atmete weiter, wenn auch unregelmäßig und in langen Abständen. In der Erwartung, dass ihn doch irgendwann die Kräfte verlassen würden, blieb er in Tücher gewickelt neun Stunden unversorgt liegen, ohne ärztliche Behandlung. Die Folge waren Schäden an Lunge, Gehirn und Augen. Tims Körpertemperatur war mittlerweile auf 28 Grad Celsius gesunken.

Tims Glück war der Schichtwechsel in der Klinik. Das neue Team entschied mit Einverständnis der Eltern, das Ruder herumzureißen und das Baby zu retten: Tim kam auf die Intensivstation und rang dort weitere sechs Monate um sein Leben.

Tims Pflegeeltern: "Er hat uns ausgesucht"

In der Klinik sahen ihn zum ersten Mal seine künftigen Pflegeeltern Simone und Bernhard Guido. Das Jugendamt hatte angefragt, ob sie sich um Tim kümmern wollten. Das Ehepaar, das schon zwei leibliche Söhne hatte, wollte eigentlich kein krankes Kind in Pflege nehmen. Dennoch schauten sie auf der Frühchen-Station vorbei. Durch eine Glasscheibe sahen sie den kleinen Kämpfer, dessen tragische Geschichte sie noch gar nicht kannten.

Diese Begegnung hatte Folgen: "Er hat uns mit seinen großen blauen Augen angeschaut. Er sah ziemlich lädiert aus, aber seine Augen blitzten. Es heißt doch, ein Kind sucht sich seine Eltern aus. So war das auch bei uns."

Down-Syndrom ist für viele Ungeborene ein Todesurteil

Wegen der dramatischen Umstände seiner Geburt wurde Tim das berühmteste Pflegekind der Republik. Ins Medizin-Lexikon ging er als "Oldenburger Baby" ein, dessen Fall eine Ethikdiskussion über Spätabteibungen auslöste.

Für 2014 verzeichnet das Statistische Bundesamt 584 Schwangerschaften, die nach der 22. Schwangerschaftswoche oder später abgebrochen. Häufig wären die Babys nicht lebensfähig gewesen. Doch zu einem großen Teil betrifft es auch Ungeborene mit Down-Syndrom. In Deutschland werden neun von zehn Schwangerschaften nach dieser Diagnose abgebrochen.

Im Freundeskreis der Familie Guido gab es anfangs kein Verständnis für den Entschluss, Tim aufzunehmen. "In Deutschland herrscht das Bild, dass mit einem behinderten Kind kein glückliches Leben möglich ist", schreiben Simone und Bernhard Guido in ihrem Buch "Tim lebt". Trotzdem hätten sie nie Bedenken gehegt. Auch die Skepsis der Freunde und Verwandten wandelte sich bald in Solidarität und Hilfe.

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Betreuung und Pflege rund um die Uhr

Mit dem neuen Familienmitglied begann ein anstrengender und intensiver Alltag. Tim musste viele weitere Krankenhausaufenthalte und Operationen über sich ergehen lassen. Oft hing sein Leben am seidenen Faden. Doch die Guidos meistern seit fast 18 Jahren mit viel Engagement alle Krisen. Sie fördern Tim mit Therapien, von denen sich vor allem eine Delfin-Therapie in den USA bewährt hat.

Trotz aller Zuwendung: Tim wird immer schwerstbehindert sein und muss rund um die Uhr betreut werden. Fachpersonal unterstützt die Pflegeeltern dabei. Tim wird über eine Magensonde ernährt, weil er nicht schlucken kann. Er trägt Windeln. Er hat erst sehr spät laufen gelernt, spricht nicht, zeigt zudem autistische Züge und autoaggressives Verhalten. Das Leben mit Tim in Dauerbereitschaft ist eine kräfteraubende Herausforderung für die gesamte Familie.

Die Guidos haben ihre Entscheidung dennoch nie bereut. Sie hätten Tim jederzeit abgeben können. "Jeder hätte das verstanden, aber es war für uns nie eine Option. Wir waren immer fest davon überzeugt, dass er zu uns gehört", sagt Pflegevater Bernhard.

Tim ist ein lebensfroher Mensch

Die liebevolle Fürsorge hat sich gelohnt. Davon sind die Simone und Bernhard überzeugt. Tim hat sich innerhalb seiner Möglichkeiten prächtig entwickelt. Trotz seiner zusätzlichen Behinderungen durch die Spätabtreibung ist er in den Augen seiner Pflegeeltern ein glücklicher und lebensfroher Mensch. "Er bejaht das Leben hundert Prozent. Selbst wenn es ihm schlecht geht, sieht man ihm an, dass es ihm gefällt zu leben. Er ruht in seiner Mitte."

Mittlerweile haben zwei weitere Kinder mit Down-Syndrom ein Zuhause bei den Guidos gefunden: Die 15-jährige Melissa und die elfjährige Naomi. Die beiden ältesten Söhne, die früher manchmal für Tim zurückstecken mussten, sind mittlerweile erwachsen und wohnen nicht mehr in ihrem Elternhaus. Sie stehen aber zu ihren besonderen Geschwistern. Ein Leben ohne Tim kennen sie ohnehin kaum, denn ihr Pflegebruder kam zu ihnen, als sie sechs und drei Jahre alt waren.

Mit dem Erlös aus dem Buch möchten Simone und Bernhard Guido nicht nur weitere Delfin-Therapien und den behindertengerechten Umbau ihres Haus finanzieren. Sie wollen mit der Veröffentlichung ihrer Erlebnisse mit Tim, Melissa und Naomi vermitteln, dass ein Zusammenleben mit Down-Kindern bereichernd und schön sein kann - und keine Katastrophe darstellt.

Sie betonen: "Ein fitter Down-Mensch führt ein glückliches und zufriedenes Leben, kann Sport treiben, essen, trinken, sprechen und mit seinen Möglichkeiten arbeiten. Das Wenige, was er schlechter kann, ist vielleicht rechnen, lesen und schreiben, sein Denken ist langsamer. Dafür kann er andere Dinge besser, Gefühle ehrlich und direkt zeigen und auch sehr viel Empathie für seine Mitmenschen aufbringen. Hier offenbart sich eine Facette des Lebens, die in unserer Gesellschaft immer mehr verloren geht, weil es immer weniger Menschen mit Down-Syndrom gibt."

Tims leibliche Mutter wollte ihren Sohn nur einmal kurz sehen. Sie starb 2005 in Alter von 41 Jahren. Der Vater hat seinen Sohn ab und zu in der Pflegefamilie besucht. Doch seit dem Tod seiner Frau hat er sich nie mehr gemeldet.

Buchtipp: Simone und Bernhard Guido mit Kathrin Schad, Tim lebt!, adeo Verlag, 2015

Weitere Informationen: www.tim-lebt.de

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