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Die Schmusetuchlobby – welche Rolle spielen Übergangsobjekte?


Kinderpsychologie
Welche Rolle spielen Übergangsobjekte?

Simone Blaß

04.08.2011Lesedauer: 5 Min.
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Ein Teddybär ist für Kinder von hoher Bedeutung, denn das Kuscheltier ersetzt die Abwesenheit der Bezugsperson.Vergrößern des Bildes
Ein Teddybär ist für Kinder von hoher Bedeutung, denn das Kuscheltier ersetzt die Abwesenheit der Bezugsperson. (Quelle: imago-images-bilder)

Der wohl bekannteste Schmusedeckenfan ist Linus von den Peanuts. Es gibt keine Herausforderung des Alltags, die er ohne seine völlig verschmuddelte Decke überhaupt nur ansatzweise bewältigen könnte oder wollte. Sehr zum Ärger seiner Schwester Lucy, die das reichlich peinlich findet. Der Comic-Zeichner Charles M. Schulz schuf hier den im Englischen inzwischen gängigen Begriff des "security blanket". Doch wie kann eine Decke für Kinder Sicherheit bieten und was steckt genau dahinter?

Häufig kann man Säuglinge dabei beobachten, wie sie sich zum Einschlafen regelrecht an einem Bettdeckenzipfel festklammern. Viele gehen irgendwann dazu über, sich auf einen bestimmten Gegenstand, eine Decke, ein Kissen oder ein Schmusetier zu konzentrieren. Die Wissenschaft, allen voran der amerikanische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott, spricht hier vom "Übergangsobjekt", das den meist noch sehr kleinen Kindern hilft, schwierige Situationen zu meistern.

Ein solches Übergangsobjekt erhält für die Zeit des Schlafengehens und in anderen für das Kind heiklen Momenten eine fast schon lebenswichtige Bedeutung. Schließlich dient es der Abwehr von Ängsten, meist Trennungsängsten. Es hilft dem Kind, die Abwesenheit der Bezugsperson zu akzeptieren und ist dementsprechend stark mit Gefühlen belegt. Es wirkt beruhigend, vermittelt Geborgenheit, Sicherheit und Halt.

Babys müssen zwischen Ich und Umwelt unterscheiden lernen

Doch das Übergangsobjekt dient nicht nur als Mutterersatz, wie der "Vater der Bindungstheorie" John Bowlby meinte. Inzwischen sind sich die Wissenschaftler einig, dass ihm auch im Beisein der Mutter eine ganz entscheidende Rolle zukommt. Und zwar in allen fremden und angstbesetzten Situationen. Studien zeigen, dass Übergangsobjekte wichtig sein können für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Sie helfen einem Baby bei der Unterscheidung zwischen Ich und Umwelt. Daher treten die ersten Übergangsobjekte auch bereits ab dem vierten bis sechsten Lebensmonat auf. Wenn das Baby zunehmend begreift, dass es nicht mit der Mutter identisch ist, sondern als eigenständiges Wesen existiert. Man ihm aber noch nicht erklären kann, warum man zum Beispiel ab und zu aus seinem Blickfeld verschwinden muss. Ein Prozess, der von Enttäuschung, Hilflosigkeit und Angst begleitet wird - und von einem Gefühl der Einsamkeit.

Langes Stillen scheint Auswirkungen zu haben

Nicht jedes Kind sucht sich ein Übergangsobjekt. Manche scheinen es gar nicht zu brauchen, andere schleppen einfach einmal für eine kurze Zeit einen bestimmten Gegenstand mit sich herum, der schnell wieder an Bedeutung verliert. Psychotherapeuten haben beobachtet, dass unter diesen Kindern besonders viele sind, die lange gestillt werden und die dann sozusagen ohne Umwege gleich die Mutterbrust als Übergangsobjekt auswählen.

So manches Mal kann man sich nur wundern, was die Kinder sich aussuchen. Vom Spielzeugauto bis zur Vorratsdose kann das alles sein. Winnicott weist sogar darauf hin, dass selbst Geschwister in bestimmten Situationen eine Art Übergangsobjekt bilden. Zum Beispiel beim gemeinsamen Übernachtungsbesuch bei den Großeltern ohne Mama und Papa. Sogar Musik kann diese Funktion erfüllen. Genau wie selbst erzeugte Laute oder ein bestimmtes Wort, so der Kinderpsychoanalytiker Daniel Stern.

Ein Übergangsobjekt darf man dem Kind nicht wegnehmen

Allerdings entscheiden sich die meisten Kinder dann doch eher für etwas Materielles und hier für einen Teddy, eine Puppe oder ein Kissen. Man kann übrigens von Glück reden, wenn es ein ökologisch wertvolles "Etwas" ist, denn oft ist es ein besonders buntes Werbegeschenk.

Auch wenn es schwerfällt, hier gilt es, die Zähne zusammenzubeißen. Das Kind jetzt überzeugen zu wollen, dass etwas anderes doch viel sinnvoller sei, kann man sich sparen, denn nur es selbst kann sein eigenes Übergangsobjekt erwählen. Und ist die Wahl erst einmal getroffen, wird sie so schnell auch nicht rückgängig gemacht. Dem Kind das Kuschelobjekt wegzunehmen oder es heimlich auszutauschen, wäre grausam. Genau wie ein Kind auf diese Weise zu bestrafen. Ein solches Verhalten kann zu einem Trauma führen und hat mit Erziehung oder Konsequenz gar nichts zu tun.

Ein bisschen abgeschmiert ist völlig in Ordnung

Schmutziggrau, abgewetzt, zerrissen oder einäugig - geliebt wird es trotzdem. Oder vielleicht sogar genau deswegen. Allzu häufiges Waschen sollte man vermeiden. Ein Übergangsobjekt hat einen bestimmten Geruch, der wichtig ist für das Kind und seine Beziehung zu ihm. Wird es einem hygienisch gesehen dann doch einmal zu bunt, dann sollte man entweder das Kind an der Wäsche beteiligen und das Handwaschbecken benutzen oder mit kleinen Tricks arbeiten: So manches Kuscheltier fährt genauso gerne Karussell wie sein Besitzer. Nur dass Teddybär und Co am liebsten Waschmaschine fahren. Wobei man damit rechnen muss, dass das Kind die folgende Stunde vor der Trommel verbringen wird, um sicherzugehen, dass wirklich alles in Ordnung ist.

Vergisst man das geliebte Übergangsobjekt mal zuhause, dann kann man dem Kind übrigens auch mit einer Kleinigkeit von sich selbst helfen. Eine Kette, ein Schlüsselanhänger oder ein Halstuch wirken Wunder.

Immer Ersatz parat halten

Was man auf jeden Fall nicht versäumen sollte, ist, ein Ersatzkuscheltier zu besorgen. Für den Fall, dass das Erste einmal verloren- oder kaputtgeht. "Als unsere Tochter eine Hundehandpuppe zu ihrem Liebling Nummer eins auserkoren hat, da habe ich nicht schnell genug reagiert", erzählt Susanne, Mutter der fünfjährigen Melina. "Und als der kleine weiße Hund eines Nachmittags verschwunden war, konnte mein Mann nur noch ein gleiches Exemplar mit dunklen Haaren auftreiben. Gott sei Dank hat Melina uns geglaubt, dass der Kleine beim Friseur war und sich, ganz wie die Mama ab und zu, die Haare hat färben lassen."

So ein Übergangsobjekt muss was aushalten können. Denn es bekommt nicht nur die Liebe und Zärtlichkeit des Kindes ab. Es kann auch vorkommen, dass an ihm die eine oder andere Aggression ausgetobt wird. Professor Tilmann Habermas vom Institut für Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt schreibt in seinem Buch "Geliebte Objekte" "Wichtig ist, dass es alle wüsten Behandlungen unbeschadet übersteht. Damit besänftigt das Kind seine Ängste, das von ihm Geliebte zu zerstören."

Selbst Erwachsene greifen in schwierigen Situationen zu Übergangsobjekten

Schnuller, Schmusetuch oder Teddybär - irgendwann ist ein solches Übergangsobjekt nicht mehr notwendig und verliert seine massive Bedeutung für das Kind. Trotzdem gibt es viele Erwachsene, die besitzen heute noch ihr inzwischen völlig abgenutztes Kuschelkissen oder ihre verschlissene alte Schmusedecke beziehungsweise zumindest einen Zipfel davon. Tilmann Habermas erweitert Winnicotts Begriff des Übergangsobjektes noch um den symbolischen Aspekt.

Es ist also völlig normal, wenn auch für Jugendliche und Erwachsene in schwierigen Situationen Gegenstände mit Symbolcharakter eine besondere Bedeutung haben oder Geborgenheit geben. Der Psychoanalytiker geht nämlich davon aus, dass persönliche Objekte eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Identität spielen - auch bei deren Verlust. Denn auch Demenzkranke gehen erstaunlich oft eine Beziehung mit einer Puppe oder einem Stofftier ein.

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