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ADHS-Therapie: Therapeut kommt mit in die Schule


ADHS-Therapie
ADHS-Kinder bringen den Therapeuten mit in die Schule

10.10.2013Lesedauer: 4 Min.
Kinder mit ADHS lassen sich in der Schule besonders leicht ablenken.Vergrößern des BildesKinder mit ADHS lassen sich in der Schule besonders leicht ablenken. Ein begleitender Therapeut kann typische Situationen erkennen und Lösungen aufzeigen. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Immer mehr verhaltensauffällige Kinder bekommen die Diagnose ADHS, und immer häufiger werden Medikamente wie Ritalin verordnet. Das sehen viele Psychotherapeuten mit großer Skepsis. Seit September wird in Magdeburg für Kinder mit ADHS eine neue Therapieform erprobt, die darauf abzielt, dass weniger oder gar keine Medikamente nötig sind.

Unter dem Motto "Die Situation entspannen" haben das Magdeburger Ausbildungsinstitut für Psychotherapeutische Psychologie (MAPP), die AOK Sachsen-Anhalt und die Kassenärztliche Vereinigung ein ADHS-Versorgungsprojekt ins Leben gerufen. Das Besondere: Die Psychotherapie spielt sich nicht nur in Praxisräumen ab, sondern Therapeuten begleiten die Kinder auch in der Schule und in die Familien. So ist es möglich, individuelle Probleme zu erkennen, die Bezugspersonen der Kinder einzubeziehen und die Therapie darauf abzustimmen.

Interview mit dem Psychotherapeuten Wolfgang Pilz

Das Modellprojekt ist für ein Jahr angesetzt und derzeit auf den Raum Magdeburg beschränkt. Wenn es sich bewährt, könnte es auch von anderen Krankenkassen übernommen werden. Die Eltern-Redaktion von t-online.de sprach mit dem Initiator des Projekts, dem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Wolfgang Pilz, über die Vorteile der begleitenden Therapie und über die Zunahme der ADHS-Diagnosen.

Was sind Ihrer Meinung nach Gründe dafür, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen bundesweit in den letzten Jahren so stark zugenommen hat?

Pilz: Die Diagnose wird oft nicht sorgfältig genug gestellt. Da Methylphenidat [der Wirkstoff des Medikaments Ritalin, Anm. der Red.] ähnlich wie Doping im Sport generell positive Wirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit aller Kinder hat, ist es verführerisch, Diagnosen zu stellen, um die Verabreichung des Dopings zu legitimieren. Viele als "ADHS" etikettierte Kinder haben tatsächlich andere Störungen: Anpassungsstörungen nach Trennung der Eltern, Bindungsstörungen, Entwicklungsstörungen mit schulischer Überforderung - um nur einige Beispiele zu nennen.

Aufgrund der insgesamt gesunkenen Kinderzahl ist der gesellschaftliche Druck enorm gewachsen, dass die wenigen Kinder perfekt funktionieren sollen. Mit Hilfe des Medikaments scheint dies aufzugehen. Ich selbst sehe das aber sehr kritisch. Die Indikationsstellung für medikamentöse Behandlung müsste wesentlich enger erfolgen.

Ist es nicht auch einfacher, auf Medikamente zu setzen, statt auf eine langwierige Verhaltenstherapie?

Pilz: Tatsächlich ist es wesentlich mühsamer, sich auf eine längerfristige Therapie mit wöchentlichen Terminen einzulassen, als regelmäßig eine Pille zu schlucken. Der langfristige Gewinn durch eine Psychotherapie ist jedoch meiner Ansicht nach höher. Dadurch wird das Kind zum aktiven, bewussten Gestalter seines Verhaltens, seiner Emotionen, seiner Gedanken und schließlich seines Lebens, wohingegen bei der Medikamenteneinnahme die Aktivität stark eingeschränkt wird. Auf die gar nicht eindeutig geklärte Wirkweise einer Chemikalie wird blind vertraut.

Gibt es auch Kinder mit ADHS, denen man nur mit Medikamenten helfen kann?

Pilz: Es gibt solche Fälle, in denen ich selbst den Eltern empfehle, durch einen Facharzt für Kinderpsychiatrie die Indikation für eine solche Behandlung stellen zu lassen. Es geht hier nicht darum, Psychopharmaka generell zu verteufeln.

Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Modellprojekt?

Pilz: In aller Munde ist, dass wir dem Phänomen ADHS mit einem "bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell" am ehesten gerecht werden. Wenn wir den Begriff ernst nehmen, ist es gut, in der Behandlung der Erkrankung soziale Einflussfaktoren von Anfang an zu berücksichtigen. Durch Präsenz des Therapeuten vor Ort, im sozialen Umfeld des Kindes, kann dies am besten geschehen.

Welche Probleme haben Kinder mit ADHS in der Schule?

Pilz: Durch die Reizoffenheit bei ADHS lassen sich diese Kinder in der Schule von minimalen Störungen in ihrer Umgebung leichter ablenken und sich selbst zum "Stören" animieren. Noch zu wenige Menschen reflektieren aber, dass sich die Konzentrationsfähigkeit genauso trainieren lässt wie Muskelaufbau im Fitnessstudio. In diesem Bereich lässt sich therapeutisch sehr viel erreichen

Und welche Probleme bereitet ADHS im Elternhaus?

Pilz: Im Elternhaus scheint mir das größte und häufigste Problem zu sein, dass die Interaktion mit den Eltern massiv gestört wird, wenn sich Eltern bei alltäglichen Aufforderungen als uneffektiv erleben, weil das Kind diese Aufforderungen gar nicht wahrzunehmen oder zu ignorieren scheint. Der Kleinkrieg um das Zähneputzen, das pünktliche Fertigwerden, das Einhalten der abendlichen Ruhezeit, die Anfertigung von Hausaufgaben belastet die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Durch den Therapeuten als unabhängigen Mittler zwischen Kind und Eltern kann sie positiv beeinflusst werden.

Wie oft ist der Therapeut in der Schule oder im Elternhaus präsent?

Pilz: Diese Präsenz soll nicht nach "Schema-F" erfolgen, sondern wird mit Eltern und Schule im Einzelfall vereinbart. Denkbar ist eine Anwesenheit einmal im Monat ebenso wie einmal im Jahr.

Was genau macht der Therapeut in der Schule - ist er Beobachter, oder greift er auch ein?

Pilz: Ein direktes Eingreifen ist nicht angedacht. Der Therapeut ist Beobachter, nimmt gegenüber dem Lehrer eine Rolle als Supervisor ein. Das Verständnis des Therapeuten für die Gesamtsituation wächst, wenn er das Umfeld des Kindes kennengelernt hat. In der Schule kann die Beobachterrolle beispielsweise beinhalten, dass der Therapeut protokolliert, wie oft ein "ADHS-Kind" im Vergleich mit einem als "unauffällig" klassifizierten Kind in einem bestimmen Zeitraum tatsächlich stört. Das gibt wiederum Gesprächsstoff mit den Lehrern.

Wesentlich ist, dass der Therapeut direkt Anteil nimmt an Prozessen, in denen sich das Kind mit seinen Bezugspersonen befindet. Durch die Beziehungsaufnahme zwischen den Beteiligten entsteht ein Raum, in dem der Kopf wieder frei wird für individuelle Lösungen. Das Endergebnis kann schlicht sein - aber ohne den vorherigen Beziehungsprozess gar nicht denkbar. Es ist hinlänglich bekannt, dass wir alle in Krisensituationen nicht mehr klar genug denken können, um an die einfachsten Lösungen zu kommen.

Ist diese Art der therapeutischen Begleitung nicht enorm teuer?

Pilz: Grundsätzlich ja. Allerdings ist auch viel Idealismus dabei, weil ja etwas Neues angeschoben werden soll. Rechnet man allerdings zu den puren Medikamentenkosten noch Arztbesuche und Folgeuntersuchungen hinzu, die bei der Einnahme von Methylphenidat erforderlich sind, dann liegen diese Kosten nur sehr knapp unter denen für unser Projekt.

Darüberhinaus hat der Gesundheitsökonom Michael Schlander dargelegt, dass die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten durch ADHS enorm sein können - durch die erhöhte Unfallhäufigkeit, niedrige Bildungsabschlüsse, Beziehungsabbrüche, psychische Folgeerkrankungen, Arbeitslosigkeit und anders mehr. Diese Spätfolgen rechtfertigen einen höheren finanziellen Einsatz für die betroffenen Kinder.

Welche Kinder sind für das Projekt geeignet?

Pilz: Kinder, bei denen die Diagnose von einem anderen Behandler schon einmal in den Raum gestellt wurde und von mir, beziehungsweise unserem Team überprüft wurde. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Eltern und Kinder erreichen würde, die sich darauf einlassen, für ein Jahr auf medikamentöse Behandlung zu verzichten, um den Effekt einer solchen Therapie auszuprobieren.

Wie geht es nach dem Projektjahr für die Kinder und Familien weiter?

Pilz: Nach dem Jahr können die Kinder im Rahmen der bereits bestehenden Regelversorgung weiterbetreut werden. Der Weg in eine Einzelpsychotherapie, teil- oder vollstationäre kinderpsychiatrische Behandlung, Hilfen des Jugendamtes und so fort, ist ja durch das Projekt nicht versperrt.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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