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Depression bei Jugendlichen: Tims lebensbedrohliche Krise


"Die Depression hätte uns fast den Sohn genommen"

t-online, Anja Speitel

12.07.2016Lesedauer: 6 Min.
Depressionen bei Jugendlichen: Tim kapselte sich völlig ab. (Symbolfoto)Vergrößern des BildesSymbolfoto: Aus Liebeskummer wurde eine lebensbedrohliche Depression. Der 17-jährige Tim kapselte sich völlig ab. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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In Deutschland erkranken drei bis zehn Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 an einer Depression. In den Gefühlswirren der Pubertät können Eltern ernste Warnzeichen leicht übersehen. So war es bei Tim, dessen Depression einen dramatischen Verlauf nahm.

Tim* war 15 Jahre alt, als er in eine tiefe Krise stürzte. Seine erste große Liebe hatte ihn nach zwei gemeinsamen Jahren verlassen. "Sara war sein Ein und Alles", erzählt Tims Mutter Tina*. "Tim verkroch sich in sein Zimmer und hatte schlimmen Liebeskummer. Ich versuchte, mit ihm zu reden, ihn damit zu trösten, dass es noch viele andere nette Mädchen gebe – aber ich kam gar nicht mehr an ihn ran. Tim zeigte kaum noch Interesse an irgendetwas. Er traf sich nicht mehr mit Freunden, vernachlässigte seine Hobbys, schleppte sich nur noch zur Schule und stocherte lustlos und wortkarg in seinem Essen."

Erstmal dachte sich Tina nicht viel dabei: "Ich weiß noch gut, wie ich mich bei meinem ersten Liebeskummer fühlte. Dass sich bei Tim daraus eine schwere Depression entwickelte, verstand ich leider erst drei Monate später."

Daran unterscheidet sich Depression von Pubertätskrisen

Es ist nicht einfach, die Symptome einer Depression bei Jugendlichen von "normalen" pubertären Krisen abzugrenzen. "Während der Pubertät gibt es sicherlich Phasen sozialen Rückzugs mit Antriebslosigkeit oder anderen Stimmungsauffälligkeiten. Aber typisch für die Pubertät ist, dass das stark schwankt. Bei einer Depression hingegen hält dieser Zustand mehrere Wochen lang unvermindert an", erklärt Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor an der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum.

"Eine Depression beeinträchtigt den Alltag: Ich kann Dinge, die mir eigentlich Spaß machen, nicht mehr tun. Deshalb kann eine Depression die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erheblich beeinträchtigen", warnt der Experte.

Wenn ein Jugendlicher über vier Wochen immer nur traurig, lustlos oder ängstlich ist, sich Konzentrationsmangel, Leistungsstörungen oder vermindertes Selbstvertrauen zeigen, sollten Eltern das Gespräch mit Fachleuten suchen, appelliert Holtmann. Auch hinter körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen, Gewichtsverlust, übermäßigem Schlafbedürfnis oder Schlafstörungen könne eine Depression stecken. Erste Anlaufstelle für Eltern sind dann der Kinderarzt oder Spezialisten, wie Kinder- und Jugendpsychiater und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.

Tims Selbstmordversuch rüttelte die Familie wach

Als sich auch Tims Noten stark verschlechterten, war Tinas Geduld am Ende: "Zwei Monate, nachdem Sara mit Tim Schluss gemacht hatte, konnte ich keine Toleranz mehr aufbringen. Tim war stark in der Schule abgesackt, tauchte dort öfters auch gar nicht auf und ließ sich nur noch hängen. Wir stritten viel. Dadurch wurde alles noch schlimmer. Oft lief Tim stundenlang weg oder schloss sich in seinem Zimmer ein. Morgens jammerte er oft über Kopfweh und wollte nicht in die Schule."

Auch der Vater, der mit Tim früher intensiv im Tennisclub aktiv war, kam weder über den Sport noch über Gespräche an Tim heran. Konflikte in der Familie waren an der Tagesordnung – bis es im Sommer 2014 knallte: Tim versuchte, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. "Nachdem Tim über Stunden nicht die Zimmertür geöffnet hatte, brach mein Mann sie auf und wir fanden Tim bewusstlos auf seinem Sofa liegend. Ich rief sofort den Notarzt, der Tim in eine Kinderklinik brachte", erinnert sich Tina. "Ich werde diesen Tag nie vergessen. Er hat unsere Familie für immer verändert."

Erhöhte Suizidgefahr bei Menschen mit Depression

Das Beispiel von Tim zeigt, dass eine Depression in eine lebensbedrohliche Krise münden kann: "Neun von zehn Suiziden werden im Rahmen psychischer Erkrankungen verübt", weiß Holtmann. In Deutschland nehmen sich pro Jahr rund 200 Jugendliche zwischen 15 und 19 das Leben; bei den 10- bis 14-Jährigen sind es 28 Fälle. "Das sind erschreckende Zahlen", sagt Holtmann. "Es gibt in Deutschland insgesamt mehr Suizide als Verkehrstote."

Erst der Suizidversuch brachte Tim eine adäquaten Behandlung ein. In der Kinderklinik konnte sein Leben gerettet werden. Es folgten Gespräche mit Psychiatern und Psychologen. Sie diagnostizierten eine schwere Depression und behielten Tim zwei Wochen dort. Danach konnte Tim einmal pro Woche weiter mit den Therapeuten sprechen und an einem speziellen Sportprogramm teilnehmen, bis er einen Platz für eine ambulante Verhaltenstherapie bekam.

"Durch den Selbstmordversuch hat sich Tim geöffnet", sagt die Mutter. "Er hat begriffen, dass er krank ist und Hilfe braucht. Er hat einen riesigen Schreck bekommen, dass er sich und uns das angetan hat. Er war einfach nur froh, dass er überlebt hat; und wir natürlich auch. Ich mache mir schwere Vorwürfe, dass ich Tims Depression nicht früher erkannt habe."

Wege aus der Depression

"Je nach Schweregrad erfolgt die Behandlung ambulant, tagesklinisch oder stationär", erklärt Holtmann. "Wichtig ist, den Jugendlichen und die Eltern über Depression aufzuklären und zu beraten. Jedem Depressiven tut es gut, feste Tages- und Wochenstrukturen zu haben: Es ist wichtig, dass man morgens aufsteht und dass man Dinge tut, die einem normalerweise Spaß machen – auch wenn es erst schwer fällt. Wenn man macht, was einem gut tut, kommt die Stimmung oft hinterher."

Ab einer mittelschweren Depression umfasst die Behandlung eine Psychotherapie, wobei die Effizienz von kognitiver Verhaltenstherapie als gesichert gilt. Daneben kommt bei einer schwer ausgeprägten Depression auch bei Kindern und Jugendlichen eine medikamentöse Therapie in Betracht: "Wenn ein junger Patient nur noch so wenig Antrieb hat, dass er es nicht mehr in die Schule schafft, ist eine stationäre oder tagesklinische Betreuung anzuraten", sagt Holtmann.

"Wenn das nicht die gewünschten Erfolge bringt, gilt als Medikament erster Wahl der Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Fluoxetin. Dieser Wirkstoff ist schon ab acht Jahren zugelassen. Diese Tabletten sollten Depressive aber nach einer Stabilisierung noch etwa ein Jahr lang einnehmen und dann nur schrittweise absetzen. Also nicht absetzen, sobald es einem wieder besser geht", warnt Holtmann. "Es braucht Zeit, bis man nach einer schwer-depressiven Phase wieder in stabilem, ruhigem Fahrwasser ist. Man sollte sich und seiner Seele Zeit geben."

Rückfälle vermeiden

Die Depression ist eine Erkrankung mit Rückfall-Risiko: Ein Drittel der Betroffenen neige zu einem chronischen Verlauf, weiß Holtmann. Ein weiteres Drittel habe weiterhin unterschwellig Schwierigkeiten, und ein Drittel werde nie wieder depressiv.

Es gelte, Strategien zum Gegensteuern zu entwickeln, wenn sich wieder eine depressive Phase aufbaut, sagt der Professor. "Die Warnzeichen sind zwar sehr individuell, aber bei jedem einzelnen sehr typisch: Der eine kann sich nicht mehr so gut konzentrieren, der andere hat Schlafstörungen, der nächste keine Lust mehr, sich mit Freunden zu treffen. Diese individuellen Muster lassen sich mit einem Psychotherapeuten gut ausarbeiten. Mit ihm bespricht man auch die Rückfall-Prophylaxe."

"Ich habe meinen Jungen endlich wieder"

Tim geht es heute, nach rund zwei Jahren Psychotherapie, wieder gut. "Ich habe meinen Jungen endlich wieder", sagt Tina. "Seitdem wir wissen, dass Tim anfällig für Depressionen ist, achten wir sehr auf einen geregelten Tagesablauf und versuchen jede Woche etwas Schönes oder Lustiges zusammen zu machen. Und wir setzen uns einmal im Monat alle zusammen und reden. Dabei darf jeder sagen, was ihn stört und wir versuchen gemeinsam Lösungen zu finden", berichtet die Mutter. "Denn die Depression hätte fast unsere Familie zerstört, uns Tim genommen..."

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Hier finden Jugendliche Rat und Hilfe bei Depressionen

Unter www.fideo.de (Fighting Depression Online) finden Betroffene Informationen über Erkrankung Depression. Junge Menschen ab 14 Jahren können sich dort online austauschen. Das Selbsthilfeforum wird durch eine angehende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin betreut. Bei fideo.de gibt es auch einen Bereich für die Angehörigen - also die Eltern, Geschwister, Großeltern und Freunde.

*Name von der Redaktion geändert

Anmerkung der Redaktion: Suizidalität ist ein schwerwiegendes gesundheitspolitisches und gesellschaftliches Problem. Wenn Sie selbst zu dem Kreis der Betroffenen gehören, finden Sie z.B. Hilfe bei der Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter den Rufnummern 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 sind die Berater rund um die Uhr erreichbar. Die Anrufe sind anonym. Hilfe für Angehörige und Betroffene bietet auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker durch Telefon- und E-Mail-Beratung: Unter der Rufnummer 01805-950 951 und der Festnetznummer 0228-7100 2424 sowie der E-Mailadresse seelefon@psychiatrie.de können die Berater kontaktiert werden. Direkte Anlaufstellen sind zudem Hausärzte sowie auf Suizidalität spezialisierte Ambulanzen in psychiatrischen Kliniken.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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