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Schnüffeln: Tödlicher Rausch aus der Dose


Schnüffeln
Tödlicher Rausch aus der Dose

spiegel-online, Julia Jüttner, Spiegel Online

10.08.2010Lesedauer: 6 Min.
Mehrere Deo-Spray-Dosen.Vergrößern des BildesDas Schnüffeln an einem Deodorant kann schon beim ersten Mal tödlich enden. (Bild: imago) (Quelle: imago-images-bilder)
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Sie gingen zur Drogerie statt zum Drogendealer: Nico und Fabian liebten den Rausch - und fanden ihn im Badezimmer, im Schränkchen über dem Spiegel. Die Jugendlichen schnüffelten sich mit Deodorants zu Tode. Ein Vater kämpft nun gegen den Tod aus der Spraydose.

Ein Moment überirdischer Euphorie, falscher Sorglosigkeit inklusive Allmachtsphantasien kostet 1,29 Euro. Der Rausch breitet sich langsam aus, er kommt aus der Dose. Er dauert manchmal nur zwei, drei Minuten, je nach Dosis auch etwas länger. Nico und Fabian - zwei Jungen, die sich nie begegnet sind - waren fasziniert von diesem Schweben, der plötzlichen Leichtigkeit ihres Seins. Sie hat beide das Leben gekostet. Nico und Fabian haben sich mit Deosprays zu Tode geschnüffelt.

Die Gefahr lauerte im Badezimmerschrank

Petra M. entdeckt ihren Sohn im Hobbykeller, eine Plastiktüte über dem Kopf. Die Kinderkrankenschwester glaubt zunächst an einen Einbruch. Alle Souterrainfenster sind weit aufgerissen. Der 14-Jährige ist längst tot, aus seinem Mund tropft Blut. Nico ist innerlich erstickt. Er starb an einem toxikologischen Schock in Verbindung mit Sauerstoffverlust.

Sein Kinderzimmer im Dachgeschoss eines Hauses in einer norddeutschen Kleinstadt ist noch vier Jahre nach seinem Tod so, wie er es verlassen hat, als er in den Hobbykeller hinabstieg. An einer Pinnwand hängen Fotos von Klassenausflügen, Maskenbällen, Gartenpartys. Auf dem Kleiderschrank stapeln sich Gesellschaftsspiele, an der Tür baumelt eine Lichterkette vom HSV.

Sein Tod hat seine Eltern und Schwestern in ein anderes Leben katapultiert, zermürbt von Selbstvorwürfen. "Wir hatten Angst vor Alkohol, harten Drogen, falschen Kreisen", sagt Petra M. Dass die Gefahr im Badezimmerschrank lauert, damit hatte die 48-Jährige nicht gerechnet.

11,5 Prozent der deutschen Minderjährigen suchen die Grenzerfahrung

Gerade Kinder und Jugendliche nutzen diese Art des Rauschkonsums. Sie schnüffeln Butangas aus Deosprays, Lösungsmitteln, Haarsprays, Filzstiften, Nagellackentfernern, Klebstoffen und Verdünnungsmitteln - alles legal und günstig zu erwerben. Die Anwendung ist simpel: Die Stoffe werden in eine Tüte gefüllt und inhaliert. Alternativ kann man sie auf Tücher träufeln oder sprühen und einatmen.

Laut der Europäischen Schülerstudie Espad suchten im Jahr 2007 11,5 Prozent der deutschen Minderjährigen die Grenzerfahrung mit dieser Form des Substanzmissbrauchs, in Bayern liegt die Quote der unter 16-Jährigen bei 14 Prozent. In Deutschland werden die Todesfälle durch Lösungsmittel nicht gesondert registriert, weil sie nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen. Anders in Großbritannien und Spanien, wo die meisten Opfer an Butangas-Missbrauch sterben.

Schon das erste Mal kann tödlich enden

Oft suchen die Jugendlichen den Kick in der Gruppe, was die Gefahr nicht mindert: Eine gezielte Dosierung ist nahezu unmöglich, Wirkung und Nebenwirkung lassen sich schwer kontrollieren. Das einmalige Ausprobieren kann tödlich sein. Ein Viertel aller Schnüffelopfer sterben beim Erstkonsum.

Burkhard Nachtigall klammert sich zunächst an die Hoffnung, sein Sohn Fabian sei beim erstmaligen Experimentieren mit dieser Rauschmethode gestorben. Der 41-jährige Historiker findet seinen Sohn am 29. Januar in dessen Zimmer. Mit einem gelben Müllsack halb über dem Kopf liegt er bäuchlings vor seinem Bett. Die Lippen haben sich bereits blau verfärbt, ebenso die Ohren. Auch er blutet aus dem Mund. Neben dem Jungen steht noch das Deospray. Verzweifelt müht sich der Vater, sein einziges Kind wiederzubeleben. Auch die zwei eintreffenden Notärzte versuchen, mit einer Adrenalin-Spritze den 15-Jährigen zurück ins Leben zu holen.

"Er hat anscheinend Deo inhaliert", sagt einer der Ärzte. Nachtigall steht hilflos daneben, sah die Nulllinie auf dem kleinen Monitor. "Ich wusste überhaupt nicht, wovon der Mann redet."

Als der Leichnam seines Sohnes aus dem Haus in Überlingen am Bodensee getragen wird, findet Nachtigall einen weiteren, benutzten Müllsack in Fabians Holzbett, zwischen den Matratzen. Der Rausch aus der Spraydose war also doch nicht Fabians erster. "Ich werde diesen Geruch nie vergessen", sagt sein Vater.

Strafanzeige gegen Hersteller und Discounter

Nachtigall hat bei der Staatsanwaltschaft Konstanz Strafanzeige gegen den Hersteller des Sprays und den Discounter gestellt - wegen fahrlässiger Tötung. Der Historiker ist davon überzeugt, dass die Unternehmen von dem Missbrauch wissen. Eine Mitarbeiterin der Handelskette schrieb beispielsweise in einem Internetforum: "Ich (...) beobachte immer die gleichen Kiddies, wie sie in großen Mengen Deo kaufen. So viel Deo braucht kein Mensch zur üblichen Anwendung. Was kann man denn da tun?"

Deospray - Das Mordinstrument im Badezimmerschrank

Nachtigall kämpft um Aufklärung und darum, dass Firmen mit ausdrücklichen Hinweisen vor Missbrauch warnen mit Slogans ähnlich denen auf Zigarettenpackungen wie "Das einmalige Inhalieren kann tödlich sein". Der Anwalt der Supermarktkette antwortete Nachtigall in einem Schreiben vom April 2010, dass es sich um "eine nicht vorhersehbare Fehlanwendung des Produkts" handele.

"Man schützt sein Kind vor dem Straßenverkehr, vor Pädophilen, hat ständig Angst um sie", sagt Nachtigall. "Auf einmal ist es 15, vernünftig und fast erwachsen - und dann stirbt es zu Hause durch Deo - davor muss man doch warnen!" In den USA laufen im Fernsehen und in den Kinos längst Warnvideos. Die Firma Unilever wirbt beispielsweise für ihr bekanntestes Männerdeo "Axe" mit dem Slogan: "Axe schnüffeln macht dein Spiel kaputt." Auf Deos in Deutschland dagegen findet man lediglich allgemeine Warnhinweise.

"Unfassbar, dass jeder von uns solch ein Mordinstrument im Badezimmerschrank hat", sagt Nachtigall und wehrt sich auch dagegen, dass sein Sohn in der Statistik als "Unfalltoter" geführt wird, nicht als "Drogentoter". Laut Rechtsmedizin des Universitätsklinikum Magdeburg starb Fabian am Sudden Sniffing Dead Syndrom (SSDS). Demnach nahm das Adrenalin durch das Inhalieren im Körper zu, unterbrach die Reizleitung am Herzen und verursachte zunächst ein Herzklappen-, später ein Herzkammern-Flimmern. Auf die Herzrhythmusstörungen folgte der Herzstillstand.

Fabians und Nicos Eltern schöpften keinen Verdacht

Weder Petra M. noch Burkhard Nachtigall haben bislang eine Antwort gefunden auf die Frage, warum Nico und Fabian nachmittags nach der Schule diesen Kick suchten. Beide wuchsen in guten, behüteten Verhältnissen auf, erlebten eine unbeschwerte Kindheit, pflegten zu den Eltern ein inniges, warmherziges Verhältnis. Deren Sorge vor der bevorstehenden Pubertät taten beide Jungen ab. Offen wurde über Alkohol- und Drogenmissbrauch gesprochen. Glaubhaft versicherten die Teenager ihren Eltern, vernünftig zu sein, keine Experimente zu machen.

Die Familien schöpften keinen Verdacht. "Wir hatten nicht die leiseste Ahnung", weint Petra M. "Im Nachhinein fällt einem dann auf, dass er auf einmal öfter gelüftet hat oder man öfter ein leeres Deospray im Schrank vorfand", sagt Nachtigall. "Aber wer kommt denn auf den Gedanken, dass sich das Kind damit in einen Rausch versetzt?"

Beide Jungen waren beliebt, hatten Freunde. Diese wollen von "dem Spleen", wie es zwei Gleichaltrige nennen, nichts gewusst haben. "Der war doch gar nicht der Typ für so etwas", sagt ein Schulkamerad von Nico. Ein anderer: "Hätte er es regelmäßig betrieben, hätte er es uns nicht verheimlichen können."

Was wussten die Kinder über das Schnüffeln?

Beide Jungen hatten viele Hobbys. Fabian ruderte, spielte Schach, fuhr Snowboard, absolvierte einen Tanzkurs, seit Weihnachten hatte er eine Freundin. Nico spielte im Verein Fußball, kickerte in einem von ihm gegründeten Club und sammelte Briefmarken. Beide Jungen waren gute Schüler. Nico engagierte sich als Klassensprecher, gute Zensuren kosteten ihn keine Mühe. Fabian hatte am Tag seines Todes gerade ein Zwischenzeugnis bekommen. Seinem Vater las der Gymnasiast seine Noten am Telefon vor: sechs Zweier, drei Einser - eine davon in Chemie.

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Das Schnüffeln von Benzingasen oder Klebstoff war in den achtziger Jahren bei Jugendlichen in Großstädten ein Trend, eine Art Arme-Leute-Droge, meist in sozialen Randgruppen. Für viele war der Trip aus der der Tube der Einstieg in eine Drogenkarriere, die bei Kokain oder Heroin endete. Vor allem in Entwicklungsländern, in den Ghettos von Südamerika und Osteuropa schnüffeln viele Minderjährige, um sich zu betäuben, abzuschalten. Auf einen kurzen, euphorischen Erregungszustand folgen Bewusstseinseintrübung, Halluzinationen, Bewusstlosigkeit. Die giftigen Stoffe können im Gehirn einen Ausfall des Atemzentrums auslösen. Inhaliert man zu stark, erstickt man am Sauerstoffmangel. Die Gefahr der psychischen Abhängigkeit ist ständiger Begleiter.

Oft kommt es beim Missbrauch von Sprays zu Unfällen durch Überschätzung und Bewusstseineintrübung oder zu Explosionen. Im Mai 2009 schnüffelte ein Schüler in einem Hotel in Duisburg Deodorant, zündete sich berauscht eine Zigarette an. Der 17-Jährige erlitt schwerste Brandverletzungen.

Burkhard Nachtigall will aufrütteln. Sich auch von der aussichtslosen Klage nicht abbringen lassen. Er hat die Fabian-Nachtigall-Stiftung gegründet und kämpft für ein Verbot von Deosprays mit herkömmlichen Treibgasen. Er wirkt wie ein Getriebener, gejagt von der selbst auferlegten Mission, anderen Eltern dieses unendliche Leid zu ersparen. Fabians Tod soll wenigstens diesen Sinn haben.

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