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Scharfe Peperoni statt "Ritzen" - Neue Therapie für Jugendliche


Ritzen
Scharfe Peperoni statt Ritzen - Therapie für Jugendliche

dpa, aro

Aktualisiert am 10.08.2012Lesedauer: 4 Min.
Etwa jeder dritte Teenager hat sich schon einmal geritzt.Vergrößern des BildesEtwa jeder dritte Teenager hat sich schon einmal geritzt. (Quelle: imago-images-bilder)
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Ob mit Messer, Rasierklinge oder Scherbe - viele Jugendliche haben sich schon mal absichtlich selbst verletzt. Heidelberger Ärzte und Psychologen wollen helfen und erarbeiten nun eine neue Therapie.

Große innere Spannung

Zuerst kneift man sich vielleicht nur in den Arm oder schlägt mit der Faust an die Wand. Doch irgendwann reicht das nicht mehr, um die große innere Spannung abzubauen und man ritzt sich mit einem Messer in den Unterarm. Für viele mag das unvorstellbar sein, dennoch kommen Ritzen und andere Selbstverletzungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer wieder vor.

"Unter selbstverletzendem Verhalten wird das absichtliche Zufügen von äußerlichen Wunden verstanden", erklärt der Psychiater Michael Armbrust, Chefarzt der Schön Klinik Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein und langjähriger Experte auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen. Dazu gehörten zum Beispiel Schnitte mit dem Messer oder anderen Klingen, Verletzungen mit einem heißen Bügeleisen oder das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut. "Dabei werden meist die Arme und Beine verletzt." Betroffen sind vor allem Mädchen.

Was sind die Ursachen für das Ritzen?

Aber woher kommt der Drang sich selbst zu verletzen? "Das kann verschiedene Ursachen haben", berichtet Psychotherapeutin Inka Saldecki-Bleck. Meist spiele eine depressive Entwicklung eine wichtige Rolle. "Oft liegt es an Störungen in der Kindheit." Es könne zum Beispiel sein, dass jemand als Kind abgelehnt wurde, wenig Liebe erfahren hat und so kaum ein Selbstwertgefühl entwickeln konnte. "Auch ein traumatisches Erlebnis kann eine Ursache sein", sagt die Psychologin. Beispiele sind sexueller oder emotionaler Missbrauch, eine schlimme Scheidung der Eltern oder der frühe Tod eines Elternteils. "Dinge wie diese können unter anderem dazu führen, dass man innerlich wütend ist, viel mit sich machen lässt und sich nicht durchsetzen kann." Dadurch kann sich Spannung aufbauen, die irgendwie raus muss.

Sich selbst wieder spüren

"Betroffene berichten, dass sie durch das Ritzen oder anderes selbstverletzendes Verhalten inneren Druck abbauen können", sagt der Mediziner Armbrust. Außerdem hätten viele Betroffene das Gefühl, neben sich zu stehen, sich und ihr Leben von außen zu beobachten - ein Gefühl von Taubheit und gewisser Leere. "Sie berichten, dass sie sich durch das Ritzen wieder spüren und lebendig fühlen."

Studie zu neuem Therapieansatz

Wenn Jugendliche sich selbst verletzen, stehen ihre Eltern oft ratlos da - mit einer Studie will ein Team der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg nun eine frühzeitige Therapie erarbeiten. "Wir möchten herausfinden, ob die neue Therapie den betroffenen Schülern entscheidend besser hilft als herkömmliche Verfahren", erklärt Studienleiter Michael Kaess.

Es gehe darum, den Selbstverletzungsdruck durch alternative Handlungen oder starke Sinnesreize zu vermindern und Gefühle zu regulieren. Gleichzeitig soll das Wohlbefinden und Selbstwertgefühl der Jugendlichen gestärkt werden. "In akuten Stresssituationen kann es zum Beispiel helfen, eine SMS an die beste Freundin zu senden, Musik zu hören, bestimmte Düfte zu riechen oder auf eine scharfe Peperoni zu beißen, die sie mit sich tragen", so die Experten.

Bisherige Behandlungsmethoden oft nicht ganz treffend

Die Ärzte und Psychologen wollen bis 2014 etwa 70 Schüler zwischen 12 und 17 Jahren aus Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis befragen und Hilfe bieten. Vorgesehen ist eine verhaltenstherapeutische Kurzzeittherapie mit Einzelsitzungen. Jugendliche sollen Strategien erlernen, die sie sofort anwenden können. Ein Manual, das die Jugendlichen gemeinsam mit dem Therapeuten erarbeiten, soll dann auch zu Hause weiterhelfen.

Herkömmliche Behandlungsmethoden orientieren sich nach Angaben von Studienkoordinatorin Gloria Fischer oft an der Behandlung Depressiver oder der Borderline-Störung, für die Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen typisch sind. "Dabei handelt es sich oft um Jugendliche, die im Alltag ganz normal "funktionieren"", weiß Fischer.

Fast jeder fünfte Teenager "ritzt" häufiger

Dass viele Schüler riskante Verhaltensweisen haben, zeigte eine repräsentative Untersuchung der Klinik im Jahr 2010. Unter mehr als 1400 Schülern aus dem Rhein-Neckar-Kreis im Alter von 14 bis 16 Jahren gab ein Drittel aller Mädchen an, sich schon einmal absichtlich eine Schnittverletzung zugefügt zu haben; rund 18 Prozent der Schülerinnen und acht Prozent der Schüler tun dies häufiger. "Wir waren schockiert, wie viele dies tun", so Fischer.

Rund ein Drittel der Mädchen berichtete von Depressivität, 15 Prozent hatten schon Selbstmordabsichten, acht Prozent hatten demnach bereits versucht, sich umzubringen. Jungen lagen dagegen bei Drogen und Alkohol vorn. Am Ende der aktuellen Studie soll ein standardisiertes Manual stehen. Die Dietmar-Hopp-Stiftung unterstützt das Forschungsprojekt mit 40.000 Euro.

Ritzen ist keine Lösung - was wirklich helfen kann

Eine wirkliche Hilfe ist das selbstverletzende Verhalten natürlich nicht. Denn die eigentlichen Probleme verschwinden damit nicht. Besser ist es, sich jemandem anzuvertrauen und professionelle Hilfe zu holen. "Man muss sich für dieses Verhalten nicht schämen", betont Expertin Saldecki-Bleck. "Es ist besser, sich Hilfe zu suchen, als das alles mit sich selber abmachen zu wollen." Zum Beispiel könnten Kinder- und Jugendberatungsstellen, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder spezielle Ambulanzen erste Anlaufstellen sein - auch für Eltern, die bemerken, dass sich ihre Kinder selbst Verletzungen zufügen.

Hilfe gibt es auch in vielen Kliniken. "Wir können zum Beispiel Medikamente geben, um die unerträgliche Spannung abzubauen", sagt Armbrust. "Das kann schon sehr schnell helfen." Doch nach dieser ersten, medikamentösen Hilfe empfiehlt Armbrust eine spezielle Therapie. Häufig findet diese stationär in einer Klinik statt.

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