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Depressionen im Alter: "Das ganze Scheißleben, das ich geführt habe"


Gesundheit
Depressionen im Alter: "Das ganze Scheißleben, das ich geführt habe"

spiegel-online, Annette Langer, Spiegel Online

23.12.2011Lesedauer: 6 Min.
Viele alte Menschen leiden unter Depressionen.Vergrößern des BildesViele alte Menschen leiden unter Depressionen. (Quelle: imago-images-bilder)
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Einsam, gebrechlich, machtlos: Wer das Alter als lustige Best-Ager-Party verklärt, lügt. Immer mehr über 60-Jährige leiden unter Depressionen. Ärzte und Betroffene erzählen, wie sie die Abwärtsspirale durchbrechen.

Zynisch: Wie viele Alte können wir uns leisten?

Ein Szene-Restaurant in Hamburg, um den Tisch sitzen gutverdienende Mittvierziger und beklagen die explodierenden Kosten im Gesundheitswesen. "Die Überalterung der Gesellschaft kommt uns teuer zu stehen", sagt Jochen S., 55, Seniorenbetreuer und Freund gezielter Provokationen: "Psychotherapie für Alte? Die würde ich ab 70 gar nicht mehr behandeln!" Die Tischnachbarn sind empört: "Euthanasie durch Unterversorgung, oder was?"

Mit dem Alter wachsen die Sorgen

Wir werden alle immer älter - und das ist in den seltensten Fällen eine spaßige Angelegenheit. Mit dem Renteneintritt schwindet der gesellschaftliche Einfluss, der Verlust von Zukunft und Verantwortung hat mitunter katastrophale Folgen für das Selbstwertgefühl. Wer zudem chronisch krank ist, finanzielle Probleme hat oder seinen Lebenspartner verliert, hat statistisch gesehen ein hohes Risiko, auch als Hochbetagter noch an einer Depression zu erkranken.

Hohe Suizidquote bei über 60-Jährigen

Knapp zwei Drittel der über 65-Jährigen leben inzwischen allein - was sie laut Experten anfälliger macht für Depressionen. Alarmierend: Fast 40 Prozent aller Suizide im Land werden von Männern über 60 begangen. Gerade diese Gruppe geht aber am seltensten zur Therapie, wie Untersuchungen ergeben haben. Bei den Frauen ist jede Zweite, die sich selbst tötet, älter als 60.

Deutschland - ein Seniorenland

Deutschland ist schon jetzt das Land mit der zweitältesten Bevölkerung weltweit. Weil die Zahl der Alten wächst, steigt auch die der psychisch Kranken unter ihnen - doch es gibt zu wenig Geriatrie-Experten, die sich um die spezifischen Probleme der Alten kümmern. In der Regel bewilligen Krankenkassen Therapien auch für Hochbetagte ohne Murren. Noch.

Kriegstrauma als Gottesstrafe

Josef Badem ist froh, dass man ihn nicht allein gelassen hat, als er den Boden unter den Füßen verlor. Als ihn die Schuld langsam in die Mangel nahm, die ewig wiederkehrenden Bilder vom Krieg, "das ganze Scheißleben, das ich geführt habe". In Belgrad geboren, lebte er von 1969 bis 1980 in Deutschland und ging dann zurück nach Serbien. In Bosnien baute der gelernte Dreher Raketen in einer Waffenfabrik. "Ich habe nicht darüber nachgedacht, es war schwer, überhaupt Arbeit zu finden, ich war froh, dass ich gut verdient habe", sagt er heute. "Die Gottesstrafe kam später."

Badem sah die brennenden Häuser, roch die verkohlten Tierkadaver, hörte die Bomben einschlagen. Irgendwann verstand der gläubige Katholik, dass er mithalf, im Bürgerkrieg Landsleute zu töten. Er bekam Panikattacken und schlief nicht mehr. Er sorgte sich um seine Tochter, seine Finanzen, seine Ex-Frau und seine Freundin. Er sorgte sich so lange, bis er nicht mehr entscheidungsfähig war, weil jeder Schritt der falsche sein konnte.

Badem kehrte nach Deutschland zurück und versuchte, eine Arbeit zu finden: "Ich wollte nicht bis zur Rente herumsitzen und von anderen abhängig sein", sagt er und drückt den Rücken durch. Doch noch nicht einmal ein Ein-Euro-Job sei bei seinen Bewerbungen herausgesprungen. Er wurde vergesslich, man untersuchte ihn auf Demenz - und diagnostizierte eine Depression.

Befreiende Tränen in der Therapie

Der 64-Jährige bekam einen Therapieplatz in der Schön-Klinik in Hamburg-Eilbek, die sich mit einer gerontopsychiatrischen Tagesklinik auf die Bedürfnisse älterer Patienten spezialisiert hat. "Dieser Ort ist eine Oase für mich", sagt Badem, ein sportlicher Brillen- und Jeansträger, der kontrolliert wirkt und zugleich besonders sanft und höflich. "Hier fühle ich mich aufgehoben." Am Anfang habe er sich noch geniert, sei nicht aus sich herausgekommen. "Jetzt lasse ich den Tränen freien Lauf. Das ist, als würde ich mich entleeren und meine Batterien neu aufladen." Ob er jemals an Selbstmord gedacht habe? "Nein, so feige bin ich nicht", sagt Badem mit einem feinen Lächeln.

Kriegsgeneration verdrängt Depressionen

"Ältere Patienten haben größere Hemmschwellen, sie kommen selten aus eigenem Antrieb zum Psychologen", beobachtet Reinhard Lindner, der seit vielen Jahren im Therapiezentrum für Suizidgefährdete des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) Betagte mit Depressionen behandelt: Die über 80-Jährigen, die während der Nazi-Herrschaft sozialisiert wurden, betrachteten psychische Krankheiten als etwas Bedrohliches und Gefährliches. "Sie sind in der Mehrheit der Meinung, dass man Probleme mit sich selbst ausmachen muss", so Lindner.

Auch der Umgang mit Autoritäten, in diesem Fall den Ärzten, sei ein anderer. In Interviews, die Lindner mit Betroffenen geführt hat, kam heraus, dass die meisten Angst hatten, das gute Verhältnis zu ihrem Haus- oder Nervenarzt zu trüben, indem sie ihn mit ihren psychischen Problemen "belasten".

"Aufgeben verboten!"

Angehörige der wohlerzogenen, gehorsamen Kriegsgeneration erlauben sich demnach nicht, über Selbstmord zu reden - selbst wenn sie seit langem darüber nachdenken. "Aufgeben verboten! Das hat man ihnen von Kindesbeinen an beigebracht", sagt Lindner. "Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl" - diese Losung Hitlers habe das Selbstbild geprägt.

Die heute Hochbetagten haben Tod, Vergewaltigung und Zerstörung erlebt - und verdrängt. Diese Generation empfindet es als besonders schlimm, wenn die Gesundheit nachlässt, erste altersbedingte Krankheiten auftreten. "Der Körperpanzer bricht auf", nennt Lindner das. Das Ende der idealisierten, funktionierenden Physis wird als besonders vernichtend erlebt.

Lieber sterben als ins Pflegeheim müssen

Mehr als 10.000 Menschen nahmen sich laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2010 das Leben. Dabei war der Anteil der Männer mit 74 Prozent fast dreimal so hoch wie der der Frauen. "Der typische Suizidale im Alter ist männlich, über 80, hat Alkoholprobleme und schlechte Erfahrungen mit Beziehungen gemacht", resümiert Facharzt Lindner.

"Es gibt auch viele Paare, die gemeinsam sterben wollen. Oder solche, bei denen sich vorhandene Konflikte im Alter durch Krankheit und gegenseitige Abhängigkeit so radikal zuspitzen, dass man beschließt, dass einer von beiden gehen muss", so Lindner. Studien der vergangenen Jahre ergaben: Der Verlust von Selbstbestimmung und die Angst vor Pflegeheimen begünstigen Suizide mehr als alles andere.

Auch Medikamente können Depressionen auslösen

Fast jeder zweite Patient über 65 leidet laut einer Studie aus dem Jahr 2007 an mindestens drei chronischen Krankheiten - eine Belastung, der die behandelnden Ärzte und Therapeuten Rechnung tragen müssen.

So will eine medikamentöse Behandlung von psychisch kranken älteren Patienten gut überlegt werden, schlucken diese doch in der Regel schon jede Menge andere Tabletten. "Manchmal werden aus Unkenntnis Wechselwirkungen mit anderen Mitteln ignoriert und gerade dadurch wird eine Depression erst hervorgerufen", warnt Alexander Spauschus, Leiter der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Schön Klinik Hamburg Eilbek. So mancher Arzt vergesse, dass viele Ältere pharmazeutische Wirkstoffe langsamer abbauten. Deshalb sollten sie prinzipiell zunächst eher niedrigere Dosen bekommen.

Es fehlt an Geriatrie-Spezialisten

Viele Patienten würden zudem wahllos von einem Spezialisten zum anderen geschickt und landeten nur mit viel Glück bei einem Neurologen mit psychiatrischer Kompetenz: "Die Hausärzte müssen aufmerksam sein, denn oft haben ältere Menschen keine anderen Ansprechpartner." Reinhard Lindner vom UKE fordert mehr Geriatrie-Experten, weil die psychosomatische Kompetenz vieler Ärzte immer noch nicht ausreicht.

Todgeweihte dürfen traurig sein

Anders ist die Situation von betagten Schwerstkranken, die wissen, dass sie bald sterben: "Unsere Gäste dürfen im Angesicht des nahen Todes traurig sein", sagt Kai Puhlmann vom Helenenstift in Hamburg-Altona. "Wir drücken Depressionen nicht weg." Seit 2001 betreut das Hospiz in der Hansestadt Sterbende - mit nur 16 Betten in kleinem Rahmen, dafür aber mit einem ungewöhnlich guten Personalschlüssel.

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Im Hospiz erfahren Todkranke Zuwendung

Bisher habe es hier keinen Selbstmordversuch gegeben, "auch wenn der Wunsch nach Sterbehilfe bei vielen ein Thema ist". Einige Kranke fühlten sich wertlos und wollten niemandem zur Last fallen. Weil aber die Hospizbewegung kategorisch gegen Eingriffe von außen sei, versuche man, die Patienten "aus dem negativen Gedankenkreislauf herauszubekommen" - mit Gesprächen, Ablenkung, Ausbrüchen aus dem Hospiz-Alltag oder auch Medikamenten. Tatsächlich ist die Zahl der Selbstmorde in Altenheimen und Hospizen in der Regel viel niedriger als anderswo, was vor allem an der besseren Kontrolle liegt.

Fragwürdige Sterbehilfe

Wer unbehandelt an einer Altersdepression herumlaboriert, riskiert, in die Hände selbsternannter Helfer wie Roger Kusch zu geraten. Der umstrittene Hamburger Ex-Justizsenator (in der Behörde "die lächelnde Guillotine" genannt) erfand vor Jahren die "Tötungsmaschine", eine Apparatur, die auf Knopfdruck zwei tödliche Substanzen in den Körper pumpt. Noch heute hilft er mit seinem Verein "SterbeHilfeDeutschland" kranken, alten oder einfach lebensmüden Menschen auf dem Weg ins Jenseits: "In diesem Jahr werden es rund zwei Dutzend sein", brüstete sich Kusch im August im "Berliner Kurier". 24 Menschen, deren Leben mit mehr Pflege, mehr Zuwendung oder einer passenden Therapie vielleicht hätte gerettet werden können.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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