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Kolumne: Der Tag hat 24 Stunden und genau das ist das Problem


Keine Zeit
Der Tag hat 24 Stunden – und genau das ist das Problem

MeinungVon Larissa Koch

04.04.2018Lesedauer: 3 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Geschäftsmann rennt mit Kinderwagen.Vergrößern des Bildes
Im Wettlauf mit der Zeit: Wir rennen und rennen. Aber was ist das Ziel? (Quelle: UrsulaDeja/getty-images-bilder)

Meine Kinder hören von mir laufend irgendwelche Hetzsätze: "Kommt jetzt!", "Nu macht schon!", "Los! Wir sind zu spät!" Immer feuere ich sie an. Ständig scheuche ich sie von A nach B. Und wenn wir bei B angekommen sind, zurück nach A. Das Karussell dreht sich schneller und schneller. Mir ist schwindelig. Kinder, wo ist die Zeit geblieben?!

Der Tag hat 24 Stunden. Und genau das ist das Problem. Das reicht hinten und vorne nicht! Wir sind Sklaven der Optimierungsgesellschaft. Von Leistungshunger getrieben, rennen wir durchs Hamsterrad der Effizienz und drohen dabei herauszufliegen oder durchzudrehen. Und unsere Kinder? Die müssen mit. Es gibt nur noch die Überholspur. Wer ausschert, landet in der Sackgasse.

Abends heißt es: "Nein, ihr könnt jetzt nicht mehr spielen. Es ist zu spät." Morgens heißt es: "Nein, ihr könnt jetzt nicht in Ruhe frühstücken, wir haben nicht genug Zeit." Nachmittags heißt es: "Los, beeilt euch! Wir müssen noch in die Bibliothek, die macht gleich zu." Abends heißt es wieder: "Los, jetzt esst mal schneller, sonst können wir nicht mehr lesen!" Und wie oft wohl ruft man zwischendurch Worte wie: "Zacki, zacki!", "Dalli, dalli!" oder "Hopp, hopp!" Sagt man überhaupt noch irgendetwas ohne Zeitbezug? Nein, unser Leben wird bestimmt durch Hetze-Gesetze. Egal wo, egal wann: Schnell, schneller, am schnellsten lautet der Algorithmus, der uns steuert.

Ich muss los, ich muss weg!

Den Müßiggang kennen wir doch nur noch aus der klassischen Literatur, aus Erzählungen von Eichendorff, Goethe oder Fontane. Ich glaube sogar, ich habe das Schlendern verlernt (Ich hatte es erst mit 'ä' geschrieben – das sagt doch alles!). Wenn ich es denn jemals konnte. Ich gehe auch viel lieber joggen als spazieren. Man hat das Gefühl, man sieht mehr, man schafft mehr, man ist mehr, man ist wer. Dabei bremsen mich meine Kinder ständig aus, weil sie im Gegensatz zu mir (noch) keinen Tunnelblick haben und links wie rechts Dinge entdecken, Zeit zu haben scheinen. Woher nehmen sie die? Ich empfinde meine Kids manchmal regelrecht als Zeitdiebe. Statt mich zum Beispiel unterwegs mal ihrem Tempo anzupassen, passiert folgendes: Ich laufe im Stechschritt vorne weg, um dann festzustellen, dass die beiden weit zurückgefallen sind und warte dann ungeduldig auf sie, winke, gestikuliere, pfeife laut. Wenn sie endlich auf meiner Höhe sind, laufe ich wieder hektisch los, um dann abermals auf meine zwei Trödelbacken zu warten. Was soll das? Was bringt das? Ein tolles Zusammensein ist das!

Lasst uns alle gemeinsam aus der Kurve fliegen und im Gras liegen

Ja, das wär' schön! Denn jetzt versuchen wir, uns Zeit zu klauen bei uns selbst. Viele von uns knapsen Tag für Tag etwas von ihrem Zeitkonto ab und machen Schulden bei ihrer Gesundheit. Sie unterschreiten etwa notorisch ihren persönlichen Schlafbedarf. Die Folge sind zunehmende Schlafstörungen. Außerdem werden immer mehr Menschen psychisch krank. Und der Puls rennt mit, der Blutdruck steigt, der Geduldsfaden reißt! Für unsere Kinder ist das normal. Sie wurden in eine ADHS-Gesellschaft hineingeboren. Neulich abends habe ich meinen Kindern die letzten beiden Seiten eines Kapitels im Affenzahn vorgelesen, weil ich beim Blick auf die Uhr dachte: "Oh Gott, schon neun! Ihr müsst schlafen!" Ich wollte die Zeit überlisten. Ideales Programm zum Runterkommen. Die aufgekratzten Seelen holten sich die gestohlene Zeit natürlich auf kreative Weise zurück und riefen: "Maaaamaaaaaa, du hast vergessen, uns einen Gutenachtkuss zu geeeeeben!" Ich drückte ihnen den schnellsten Kuss der Welt auf den Mund und hastete wieder aus dem Zimmer. Herrschaftszeiten! Ich hatte noch unendlich viel zu erledigen, stand kurz vor dem Agenda-Kollaps!!

Ich glaube, ich muss die Notbremse ziehen

Immer wieder ist die Rede von der Entschleunigung. Huhu! Entschleunigung, wo bist du? Komm doch mal schleunigst zu mihiir! Mmmmm, vielleicht sollte ich sie anders ansprechen: Liebe Entschleunigung, könnte ich einen Termin bei dir haben? Es eilt! Es ist ein Notfall! Nein, das hört sie auch nicht gern. Ich muss mir was anderes überlegen. Der Tag hat 24 Stunden – vielleicht sollten wir das akzeptieren. Ups, ich sehe grade, es ist ja schon vier! Ich muss sofort los, die Kinder holen!!!!

Larissa Koch ist Redakteurin bei t-online.de und hat zwei Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren. In ihrer Kolumne "Der ganz normale Wahnsinn" beschreibt sie regelmäßig, was Eltern durchmachen müssen oder dürfen – je nachdem.

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