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Ein Tag im Waldorfkindergarten


Kleinkind
Ein Tag im Waldorfkindergarten

t-online, Simone Blaß

30.09.2011Lesedauer: 7 Min.
Natur wird großgeschrieben in der Waldorfpädagogik.Vergrößern des BildesNatur wird großgeschrieben in der Waldorfpädagogik. (Quelle: imago-images-bilder)
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Weltweit gibt es etwa 2000 Waldorfkindergärten in 60 Ländern. Mehr als ein Viertel davon findet man in Deutschland. Das pädagogische Konzept gleicht sich, ist aber stark durch die jeweiligen Erzieher geprägt. Allen aber ist eines gemeinsam: Das Bedürfnis eines kleinen Kindes nach Urvertrauen, Geborgenheit und Harmonie zu erfüllen.

Freundliche Atmosphäre

Es ist neun Uhr morgens und rund 25 Kindergartenkinder wuseln fröhlich in einem lichtdurchfluteten Raum einer alten Nürnberger Villa herum. Die "Rote Villa" ist ein Haus für Säuglinge und Kinder bis elf Jahren. Von der Wiegestube über den Kindergarten bis hin zu den Hortkindern spielt sich hier soziales Leben ab.

Der "Jahreszeitentisch", der in keiner Waldorfeinrichtung fehlen darf, ist liebevoll mit Lampionblüten, Kürbissen und Beerenzweigen geschmückt. An der in das Zimmer integrierten Küchenzeile mit Wurzelholzgriffen und gefühlten 100 Gläsern selbst gemachter Marmelade steht der Waldorferzieher Christian Kähler an der Flotten Lotte und passiert Äpfel für später. Mit seiner schönen, dunklen Stimme singt er leise vor sich hin. Und baut in diesen Gesang immer wieder kleine Anweisungen an die Kinder ein.

"Auch der Weiseste kann unermesslich viel von Kindern lernen"

Während der Erzieher das Frühstück vorbereitet, haben die Kleinen Freispielzeit - in der sie fleißig sind. Flynn funktioniert ein Stück Holz zum Handy um und telefoniert geschäftig, Leo und Simon-Nepomuk zaubern aus getrockneten Pfirsichkernen, Kastanien und Muscheln ein Müsli, während die fünfjährige Maja und ihre Freundin Ida Pfannkuchen backen. Mit Sand gefüllte Kisschen werden auf einen Teller gelegt. Dazu wird mit viel Liebe ein bisschen Rinden-Zimt darüber gerieben.

Barbara Schulz, die Leiterin der Gruppe und seit 18 Jahren Waldorfpädagogin, erklärt: "Wir sind die Vorbilder, an uns Erwachsenen können sich die Kinder 'hochentwickeln'." Was innerlich das schöne Bild einer bunt blühenden Rankpflanze hervorruft, ist der Kernpunkt der Waldorfpädagogik. "In der Umgebung des Kindes sollte nichts geschehen, was nicht von diesem nachgeahmt werden darf." So hat es Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik und Anthroposophie selbst formuliert.

Waldorferzieher haben eine besondere Ausbildung

Waldorfpädagogen sind staatlich anerkannte Erzieher mit einer Zusatzausbildung, die meist berufsbegleitend gemacht wird. Wichtig ist, im Rahmen dieser Zusatzausbildung die Grundlagenarbeit zu erkennen. Das Verständnis dafür zu entwickeln, dass alles, was wir den Kindern vorleben, das ist, was sie ebenfalls tun werden.

Um zehn haben alle kräftig Hunger, doch bevor es Frühstück gibt, formen die Kinder ihre Hände zu kleinen Schalen. Die Erzieherin geht durch den Raum und verreibt liebevoll bei jedem Kind ein paar Tropfen Calendulaöl in den Händen. Danach reichen sich alle die Hand und wünschen sich einen gesegneten Appetit. Und den haben sie. Schüsselweise werden Gerstenschrotbrei mit Apfelmus, Zimt und Zucker verspeist. "Kann ich bitte noch mal von allem?" kommt es schon nach kurzer Zeit aus jeder Ecke.

Typisches Ökokind?

Der Begriff Waldorf weckt nach wie vor bei vielen das Bild des typischen Ökokindes. Ausgestattet mit selbst gestrickten Pullovern in undefinierbarer Farbe, einer Puppe, bei der man nicht weiß, wo oben und unten sein soll und Strumpfhosen, die einen schon beim Hinsehen kratzen. Alles Vorurteile! Dazu kommt, dass 90 Prozent der Kinder nicht aus echten Waldorf-Familien kommen. Der Gedanke also befürwortet, aber nicht komplett gelebt wird. Antonia, Sibylle, Samuel und Leo sind ganz "normale" Kinder, die bestens Bescheid wissen über kleine quietschbunte Plastikpferdchen, die am liebsten Trampolin springen oder Fußball spielen und Glitzerblumen auf dem T-Shirt tragen. Und die direkt nach der gemeinsamen Aufräumzeit, in der "die Bodenpolizei" alles blitzblank hinterlassen hat, "Wurzelfüßchen" bekommen.

Waldorfpädagogik ist keine Kuschelpädagogik

Wenn auch manchmal Luftwurzeln, so wie die auf dem Tisch sitzende und schmunzelnde dreijährige Elina. Die aber, wie alle anderen auch, die Hände bei verschränkten Armen mal ausruhen lässt und still sitzend zuhört, wie weitere Aufgaben verteilt werden.

Rutscht einer mal aus der Reihe, wird er sanft und ohne viel Worte wieder in die Gruppe integriert. Doch natürlich gibt es auch in einem Waldorfkindergarten immer mal wieder kleine Trotzköpfe. "Wir sind ja leider auch hier nicht im Himmel", lacht die Erzieherin. "Trotzdem ist für uns jedes Kind ein Himmelskind. Wir suchen nach Lebensräumen, damit es seine Fähigkeiten und Talente auf die Erde bringen kann. Trotzphasen verstehen wir als Entwicklungsphasen, die dem Kind helfen, seine Willenskraft auszuprobieren und seine Grenzen kennenzulernen. Wir Pädagogen versuchen dann, den Kindern Möglichkeiten aufzuzeigen, die ein persönliches Ausleben in der Gemeinschaft zulassen." Größere Kinder fordern aber natürlich auch hier die Gruppe und die Erzieher gelegentlich heraus. Und müssen dann mit liebevoller Konsequenz rechnen. "Die Konsequenz liegt darin, sowohl dem Einzelnen als auch der Gruppe Entwicklungsraum zu lassen. Manchmal hilft auch schon die äußere Ruhe, um innerlich wieder ruhig zu werden. Ein besonderes Plätzchen, wo man sich zurückziehen kann und trotzdem in der Gemeinschaft ist, ist da wohltuend."

Wiederholung, Harmonie und Rhythmus spielen eine wichtige Rolle

Der Tag ist so strukturiert, dass sich Freispielzeit, kleine Aufgaben, Geschichten, Fingerspiele und rhythmische Bewegung abwechseln - häufig unterstützt von leisem Gesang. "Die Wiederholung ist uns ganz wichtig. Innerhalb weniger Wochen dringt sie in das Handeln und das Bewusstsein der Kinder vor", erklärt Barbara Schulz, selbst Mutter von drei Kindern, durch die sie damals auf die Waldorfpädagogik kam. "Unsere Kinder kommen in den Tag hinein und sie wissen, wenn es dies oder jenes zum Frühstück gibt, dann kommt Folgendes auf sie zu. Für uns ist der Rhythmus entscheidend." Wobei mit Rhythmus nicht eine bloße Taktvorgabe gemeint ist, kein starres System, sondern eher ein Rhythmus, wie er in der Musik vorkommt. Leicht veränderbar, aber als Thema immer wiedererkennbar.

Der Kreislauf der Natur

Nach dem Frühstück und dem gemeinsamen Zähneputzen wartet der weitläufige Garten mit einem Sandkasten, Baumhäusern und vielen Erdhügeln zum Graben und Matschen. Der vierjährige Simon-Nepomuk geht als Erster. Geschäftig trägt er ein Sieb mit den Apfelresten. "Die Mutter Erde hab ich da“, erklärt er. "Die bring ich jetzt zum Kompost.“ Nachdem die Kinder den Rest des Vormittags spielend im Garten verbracht haben, treffen sie sich um kurz vor zwölf im blauen Tücherzelt auf vielen gemütlichen Kissen zur Geschichte über den Großvater, der eine Rübe ernten möchte. Die allerdings ist so groß, dass er dies nur mit der Hilfe der anderen Familienmitglieder schaffen kann.

Danach ist Sophia die heutige Auserwählte, die vor die Tür schauen darf, welche Eltern denn dort zur Abholung bereitstehen. Wer nach Hause geht, verabschiedet sich artig und verschwindet in die Arme von Mama, Oma oder Papa. Die anderen helfen beim Tischdecken fürs Mittagessen. Es gibt Nudelsuppe, Kürbisgemüse mit Reis und zum Nachtisch etwas Süßes. Die Kinder verteilen massives Tongeschirr und kleine mit Namen versehene Filztäschchen für die Stoffservietten. Und sie freuen sich auf einen Nachmittag mit viel Freispielzeit.

Bedürfnisse der Kinder sind wichtig

"Für mich ist das Begeisterndste an der Lehre Rudolf Steiners das Menschenbild. Waldorfpädagogik ist eine Menschenbildung. Die Kinder dürfen sich in den einzelnen Entwicklungsabschnitten selbst entwickeln und bekommen die Möglichkeit, bestimmte Schritte alleine zu gehen“, so Barbara Schulz. "Wenn man Kinder genau beobachtet, dann bemerkt man, wie fein ihre Wahrnehmung ist. In den ersten Lebensjahren ist es für sie wichtig, die Welt erst einmal zu begreifen." Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Daher findet man in einem Waldorfkindergarten nur Spielzeug, das alle Sinne ansprechen soll. Bunte Tücher in allen Größen, Steine, selbst gehäkelte Bänder, Wäscheklammern und gestrickte bzw. gefilzte Püppchen bieten den Kindern tausenderlei Möglichkeiten, die sie auch äußerst fantasievoll nutzen. Gerade noch war das gelbe Tücher-Zelt in der Mitte des Raumes eine Küche, jetzt ist es eine abgesperrte Baustelle.

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"Aus der Art, wie ein Kind spielt, kann man erahnen, wie es seine Lebensaufgabe begreifen wird"

"Für ein Kind ist das Spiel das ernsthafte Leben und je mehr es dem nachgehen kann, desto ernsthafter geht es später auch seine Arbeit an." Für die es mit fast hundertprozentiger Sicherheit einen Computer brauchen wird. Wie sieht es also mit der heute so wichtig scheinenden Medienkompetenz aus? "Ich bin mir sicher: Hätte Rudolf Steiner in der heutigen Zeit gelebt, hätte er auch dem Computer an einer bestimmten Stelle der Entwicklung einen Raum gegeben. Allerdings bestimmt nicht in den ersten Lebensjahren." Das Wichtige in diesem Lebensabschnitt, im ersten Jahrsiebt, wie man es bei den Anthroposophen nennt, ist die absolute Präsenz und Achtsamkeit beim Erledigen von Aufgaben und im Zusammenleben mit den Kindern. Also eben nicht mal schnell noch dies oder das tun, sondern möglichst alles bewusst gestalten und achtsam mit einem Kind umgehen.

Von der Krippe bis zum Abitur

Der Weg, den man gehen kann, führt über den Kindergarten, manchmal auch schon über die Krippe, bis hin zum Abitur. Oft allerdings ist es Eltern nicht möglich, ihr Kind in eine Waldorfschule zu geben. Zum Beispiel, weil diese zu weit entfernt liegt. "Die Kleinen werden wohl in eine öffentliche Schule gehen - leider! Aber die nächste Waldorfschule ist 90 Kilometer entfernt. Das tu ich mir und den Kindern nicht an", schreibt eine Mutter im Internet.

Natürlich ist es stark abhängig von der Lehrkraft, aber grundsätzlich kommen die Kinder letztendlich auch in der Regelschule gut zurecht. "Trotzdem ist es sicher besser", bestätigt Barbara Schulz, "wenn man den anthroposophischen Gedanken leben möchte, eine entsprechende Schule zu besuchen. Damit die Pädagogik mehr ineinandergreift." In Nürnberg nutzen fast alle Eltern die Möglichkeit einer durchgehenden Erziehung. "Wir verstehen uns als Bildungshaus - Bildung von 0 bis 18 Jahren!" Wobei auch in einem Waldorfkindergarten Bildungsprogramme eine Rolle spielen. "Am Anfang waren wir alle ein bisschen geschockt von dem neuen Bildungsplan", erinnert sich die Waldorfpädagogin. "Dann aber haben wir festgestellt, dass wir die Kinder mit unseren Methoden ja sowieso schon zu Sozialkompetenz, Sprachkompetenz und Kompetenz in Naturwissenschaften erziehen. Dazu brauchen wir keine Extra-Stunden, bei uns ist das in die täglichen Abläufe bereits integriert."

Kindergartenarbeit ist auch Elternarbeit

Nicht überall ist es einfach, einen Platz in einem Waldorfkindergarten oder einer Waldorfschule zu bekommen. Und es ist, auch trotz möglicher Zuschüsse, nicht gerade günstig. "Wir führen Aufnahmegespräche, in denen wir die Eltern darauf hinweisen, dass es wichtig ist, die Waldorfpädagogik auch zu wollen und nicht dagegen zu arbeiten." Denn dadurch können sich für das Kind schnell unverständliche Spannungsfelder ergeben. "Es macht aber auch genauso wenig Sinn, wenn wir hier in vielen Bildern sprechen und den Kindern zum Beispiel erklären, dass es regnet, damit es schöne Pfützen gibt und zuhause überschüttet man das gleiche Kind dann mit wissenschaftlichen Erklärungen."

Doch Barbara Schulz räumt ein, dass es im Lauf ihrer Berufslaufbahn auch immer wieder Kinder gab, bei denen sie dachte, es sei heilsamer, ein paar Stunden am Tag die Ruhe und Gelassenheit der Waldorfpädagogik zu erleben als gar keinen festen Pol im jungen Leben zu haben.

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