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Prävention gegen Jugendgewalt


Schulkind & Jugendliche
Null Bock auf Faustrecht: Präventionsmaßnahmen gegen Jugendgewalt

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

01.04.2011Lesedauer: 7 Min.
Entgegen dem Eindruck sinkt die Zahl der Fälle von Jugendgewalt.Vergrößern des BildesEntgegen dem Eindruck sinkt die Zahl der Fälle von Jugendgewalt. (Quelle: imago)
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"Messerstecherei in U-Bahn“, "Prügelei vor Einkaufszentrum“ oder "brutale Attacke in der Fußgängerzone“, solche Meldungen sind fast täglich in den Tageszeitungen zu lesen. All diese Gewalttaten haben eine Gemeinsamkeit: Sie wurden von Jugendlichen begangen. Besonders traurige Berühmtheit hat der Fall "Dominik Brunner“ in München erlangt und auch die brutale Schlägerei in einem Berliner U-Bahnhof vor einigen Wochen machte bundesweit Schlagzeilen. Jugendkriminalität ist allgegenwärtig in den Medien und vermittelt den Eindruck, dass die Anzahl jugendlicher Straftäter stark zunimmt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die von den Polizeibehörden zusammengestellte Kriminalstatistik verzeichnet rund 39.700 Gewalttaten und damit fast neun Prozent weniger Tatverdächtige im Alter zwischen 14 und 18 Jahren bei Gewalttaten und Sachbeschädigungen als noch 2008. Doch besorgniserregend ist dagegen die wachsende Gewaltbereitschaft vieler Jugendlicher. Eine Negativ-Tendenz, der durch zahllose Präventionsmaßnahmen entgegengewirkt werden soll - durchgeführt und unterstützt von Polizei, Schulen und sozialen Einrichtungen.

Hemmungslose Brutalität

"Die beiden Opfer lagen schon am Boden und bluteten stark. Ich glaube bei dem einen war die Nase gebrochen und der andere hatte eine schlimme Verletzung am Bein. Doch die zwanzig Jungs hörten nicht auf und traten weiter auf die jungen Männer am Boden ein, bis sich jemand traute dazwischen zu gehen und nach der Polizei rief. Dann hauten sie endlich ab“, so die Schilderung einer 15-jährigen Schülerin, die zusammen mit ihrer Freundin den Überfall beobachtete, der an einem Samstag im Januar in einer belebten Fußgängerzone geschah. Später wurde sie als Zeugin bei der Polizei vernommen und erfuhr dort, dass viele der von ihr beschriebenen Täter einschlägig als gewalttätig bekannt waren und fast alle aus einem Problembezirk der Stadt kamen.

Solche extremen Übergriffe sind für die Justiz keine Einzelfälle. Immer öfter müssen sie sich mit jugendlicher Gewalt auseinandersetzen, die keine Hemmungen und keine Grenzen mehr kennt. Statistisch lässt sich dieses Phänomen der Verrohung bislang nicht beschreiben. Dazu fehlen schlicht die Instrumente. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die einzige bundesweit verfügbare Datenbankquelle, erfasst nicht, ob ein Überfall beispielsweise aus heiterem Himmel erfolgte oder ob ihm ein längerer Streit vorausging. Sie registriert nur bestimmte Delikttypen. Dennoch sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Laut Polizeistatistik haben die Fälle von schwerer Körperverletzung seit 1998 um 54 Prozent zugenommen. Darüber zu urteilen ist unter anderem die Aufgabe der Berliner Jugendrichterin Antje Keune. In einem TV-Interview bestätigte sie die zunehmende Brutalität der jungen Täter, die eine extrem niedrige Frustrationsschwelle hätten: "Da ist überhaupt kein Gefühl mehr für den Schmerz oder das Leid, das man jemandem zufügt.“ Tabus und Grenzen gebe es bei vielen Jugendlichen einfach nicht mehr.

Meist Kinder aus bildungsfernen Familien betroffen

Die Düsseldorfer Diplompädagogin Carmen Trenz von der nordrhein-westfälischen "Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz“ (AJS) hat sich beruflich auf das Thema Gewaltprävention spezialisiert: "Gewalt ist vor allem ein tendenzielles Problem bei bildungsfernen Familien.“ Besonders häufig vertreten seien bei schweren Gewaltformen männliche Migranten, die durch fehlende schulische Ausbildung zusätzliche schlechte Zukunftsperspektiven hätten. Oftmals würden die Jugendlichen, so Carmen Trenz, in ihrem häuslichen Umfeld selbst Gewalt und Demütigung erfahren und erleben. Dabei stumpften sie nicht nur ab, sondern lernten zugleich, dass Konfliktbewältigung nur physisch ausgetragen werden könne.

Breites Angebot von Präventionsmaßnahmen

Dennoch ist die Düsseldorfer Sozialpädagogin zuversichtlich. Sie schreibt die leicht rückläufigen Zahlen in der Kriminalstatistik der Zunahme der erfolgreichen Präventionsmaßnahmen zu, die nicht nur in den großen Ballungsräumen von einer Vielzahl von Einrichtungen angeboten werden. Wichtig sei dabei, so Carmen Trenz, dass die Prävention und die Beschäftigung mit dem Thema gewaltfreie Konfliktlösung schon im Kindergarten beginne. In Schulen gäbe es ja mittlerweile fast flächendeckende Angebote an Gewaltpräventionsprogrammen. "Im Mittelpunkt sollte dabei eine Sensibilisierung der Kinder stehen. Sie müssen erkennen, dass es nicht nur körperliche Gewalt gibt, sondern dass Gewalt schon viel früher anfängt. Auch Mobbing und Ausgrenzung ist eine Form der Gewalt“, meint die Sozialpädagogin.

Schulung für Erzieher, Lehrer und Eltern

Bei ihrer Arbeit hat Carmen Trenz auch den Fokus auf die Erwachsenwelt gerichtet: Für die "Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz“(AJS) entwickelt sie neben Trainingskursen zur Konfliktbewältigung auch Präventionsprogramme, in denen Erzieher, Lehrer und auch Eltern sich zum Thema weiterbilden können und es dann im Kindergarten, in der Schule oder zuhause mit ihren Schützlingen umsetzen. Das Programm "Die wilde Hilde und der kluge Hugo“ zielt beispielsweise darauf ab, Kindern zwischen vier und zwölf Jahren zu vermitteln, ihre Gefühle wahrzunehmen, sich sozial zu verhalten oder Konflikte konstruktiv zu lösen. Um die soziale Kompetenz an Schulen zu steigern, hat die AJS auch spezielle Streitschlichter und Antimobbingkurse und außerdem Trainingsprogramme erarbeitet, bei denen speziell Eltern angesprochen werden.

Keine Chance mehr für "Bullies“

Einig sind sich die Fachleute darüber, dass das Ziel einer erfolgreichen Gewaltprävention nur gelingen kann, wenn man die Aktivitäten und Projekte verschiedener Institutionen miteinander geknüpft. Nur durch die Zusammenarbeit von Eltern, Schulen, Polizei, Justiz, Wirtschaft und Medien können alle Risikofaktoren erkannt und frühzeitig abgebaut werden.

Ein Beispiel für eine Kooperation von Polizei und Schulen ist das bereits erfolgreich erprobte "Anti-Bullying-Programm.“ Dabei soll vor allem an Schulen gezielt gegen das sogenannte und weit verbreitete "Bullying“ (Mobbing) vorgegangen werden, bei dem bestimmte Schüler ausgegrenzt und systematisch psychisch und physisch schikaniert werden. Grundlage des "Anti-Bullying-Programms“ sind die Ideen des schwedischen Psychologen Dan Olweus, der den pädagogischen Leitfaden 1982 entwickelte, nachdem sich in der norwegischen Stadt Bergen drei Schüler aufgrund massiver Bullying-Attacken das Leben genommen hatten. Die wichtigsten Kernthesen des Programms, bei dem die Stabilisierung des Klassen- und Schulklimas durch bestimmte Verhaltensweisen verbessert werden soll, hat die Polizei zusammen mit Pädagogen zusammengestellt und unter dem Titel "Herausforderung Gewalt“ als Broschüre veröffentlicht.

Gewalt vorbeugen durch vielfältige Initiativen

Wie präsent das Thema Gewalt und Gewaltprävention in unserer Gesellschaft ist, sieht man, wenn man beispielsweise das breite pädagogische Hilfsangebot im badischen Freiburg unter die Lupe nimmt. Hier hat der Verein "Sicheres Freiburg“ unter dem Motto "Gewalt vorbeugen“ mehr als vierzig Einrichtungen, Projekte, Kurse, Initiativen und Beratungsstellen zusammengefasst. Zahlreiche Anlaufstellen wie zum Beispiel "Faustlos“, "Bei Stopp ist Schluss“, "Gewaltfrei stark“ oder "Respekt“ richten sich speziell an Kinder und Jugendliche und werden von der Stadt unterstützt.

Jugendliche helfen Jugendlichen

Ähnliche Angebotsvielfalt gibt es in den meisten bundesdeutschen Gemeinden. Einen speziellen pädagogischen Ansatz hat ein Projekt in Aachen. Die 1997 gegründete Initiative "Wirbelsturm“, die dem katholischen Verband für Mädchen- und Frauenarbeit "IN VIA“ angehört, kooperiert eng mit der Polizei und setzt auf Konfliktbewältigung unter Gleichaltrigen. Hier engagieren sich Jugendliche, die selbst schon einiges auf dem Kerbholz haben, gegen Gewalt und Rassismus. Auf ihrer Webseite stellen sich selbstbewusst vor: “Nein wir sind keine gewalttätigen ehemaligen Kriminellen. Wir haben Fehler begangen und daraus gelernt und unsere Einstellung geändert.“ Und weiter schreiben sie: “Nein, wir sind nicht ohne Probleme oder Aggressionen. Aber wir können darüber sprechen und ihre Ursachen verstehen lernen.“ Und um ihren neuen Weg zu untermauern, haben sich die Jugendlichen klare und unmissverständliche Regeln auferlegt. Ihr Credo lautet: Null Bock auf Gewalt! Nicht wegsehen bei Gewalt! Im Notfall helfen oder Hilfe organisieren! Auf Stress nicht mit Gewalt reagieren! Lehrern und Mitschülern gegen Gewalt helfen! Keine Drogen!

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Wertevermittlung als wichtigste Präventionsmaßnahme

Achim Pöhland engagiert sich seit Jahren als sozialpädagogischer Mitarbeiter beim "Wirbelsturm“ und weiß wie wirkungsvoll es ist, wenn sich Jugendliche untereinander disziplinieren: "Oft ist dann der große Bruder oder der Freund vom großen Bruder Vorbild und zeigt den Jüngeren, dass man raus kommt aus der Gewalt-Spirale. Und ist dann jemand neu in der Gruppe und meint er müsse den Tarzan machen, wird er schnell begreifen, dass er sich eingliedern muss. Dabei helfen unsere Regeln.“ Dennoch weiß Achim Pöhland, dass es ohne sozialpädagogische Begleitung der Jugendlichen nicht geht. Vor allem die Vermittlung elementarer Werte im zwischenmenschlichen Umgang und das Erlernen von sozialer Kompetenz seien wichtig: "Sie müssen begreifen, dass Gewalt nicht erst anfängt, wenn die Nase blutet. Eine gute Grundlage dafür kann bereits ein wenig Praxisschulung in Benimmregeln und Höflichkeit sein. Schon beim Essen kann man Respekt und Rücksicht gegenüber seinen Mitmenschen üben. Da darf man sich eben nur ein Kotelett nehmen, und grabscht sich nicht zwei, wenn für jeden nur ein Stück Fleisch da ist!“

Positive Autorität vorleben

Ein gutes Ventil, um Aggressionen abzubauen, sind "Austobe-Optionen“. Dazu wird beim "Wirbelsturm“ unter anderem freies Boxen ohne Vereinsverpflichtung angeboten. Der Boxtrainer, der ehrenamtlich tätig ist, sei mehr als nur ein Sportlehrer, so Achim Pöhland, denn er stelle für die Jugendlichen, bei denen es sich größtenteils um Jungs aus bildungsfernen Migranten-Familien handelt, eine Art Vaterfigur dar, bei der sie Autorität einmal positiv erfahren könnten.

Zu Hause erleben diese Kinder Autorität oftmals als negative Gewaltausübung und lernen, dass Konflikte nur physisch gelöst werden können. Aus diesem Grund ist eine Zusammenarbeit mit den Eltern besonders wichtig. Doch die "Wirbelsturm“-Mitarbeiter beißen mit diesem Hilfsangebot oft auf Granit, weiß Achim Pöhland: "Unser Ziel ist es zu vermitteln, dass es nichts bringt, wenn man prügelt. Doch in vielen patriachalischen Kulturen ist diese Art von Auseinandersetzung tief verwurzelt. Hinzu kommen erhebliche Sprachbarrieren und ein großes Misstrauen gegenüber jeglicher institutioneller Einmischung von außen. Das ist für uns eine harte Nuss, an der wir auch manchmal scheitern.“

Echte Zukunftsperspektiven brauchen Zeit

Deshalb ist es für Antigewalt-Initiativen wie dem "Wirbelsturm“ umso wichtiger, die Jugendlichen so lange wie möglich zu begleiten und in der Gruppe zusammenzuhalten. "Wir wollen kontinuierlich über viele Jahre Vertrauen aufbauen und so nachhaltig Einfluss nehmen. Unser Ziel ist es auf Dauer beständige Werte zu vermitteln und begreiflich zu machen, dass Gespräche wesentlich deeskalierender sind als das Faustrecht. So können die Jungs es selbst schaffen, sich in der Gesellschaft Türen für ihre Zukunft zu öffnen“, fasst Achim Pöhland die Idee vom Aachener "Wirbelsturm“ zusammen. Und die Erfolgsquote dieser pädagogischen Präventionsstrategie ist nicht schlecht: Im Laufe der Jahre sind von neunzig "Wirbelsturm-Jugendlichen“, die gute Chancen auf eine kriminelle Laufbahn hatten, nur vier tatsächlich kriminell geworden.

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