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Flucht aus Afrika: Wie zwei Nigerianer um ihre Landleute kämpfen


"Bitte bleibt hier!"
Wie zwei Nigerianer um ihre Landsleute kämpfen

Von chrismon-Autor Marc Engelhardt

18.08.2019Lesedauer: 9 Min.
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"Macht das Grün grüner", das soll heißen: Leute, macht Nigeria besser, statt euch auf die Reise zu machen.Vergrößern des Bildes
"Macht das Grün grüner", das soll heißen: Leute, macht Nigeria besser, statt euch auf die Reise zu machen. (Quelle: Thomas Lohnes/chrismon)

Die Reise nach Europa ist die Hölle, sagen Nosa und Happiness – aus Erfahrung. Sie kämpfen um die Menschen und für ein besseres Leben in Nigeria. Aber die Schleuser sind mächtig und gut vernetzt.

Nosa Okundia hat in den dreißig Jahren seit seiner Geburt schon viele Leben gelebt. Er war der Sohn mittelloser Eltern, die eines Nachts bei einem Brand ihr Obdach verloren. Er war ein Träumer, der in Europa sein Glück suchen wollte, ein Flüchtling und die Ware brutaler Schleuser. Im libyschen Kerker war Nosa Sprecher der Hoffnungslosen und wurde abgeschoben. Heute glaubt Nosa Okundia, endlich das Leben zu leben, das ihm bestimmt ist. Zurück in seiner Heimat Nigeria versucht er, andere davon abzuhalten, seinem Beispiel zu folgen und nach Europa aufzubrechen. Dafür besucht er Schulen, Kirchengemeinden, Marktplätze. Manche halten ihn für einen Rufer in der Wüste.

An diesem Tag ist Nosa in der Hauptstadt Abuja unterwegs. Mit ausdruckslosem Blick beobachtet der kahlgeschorene schlaksige Mann das Treiben auf einem Busbahnhof am Rande der Stadt. Schaffner verkaufen letzte Tickets, selbst ernannte Helfer wuchten Koffer und Taschen auf die heißen Busdächer, Fahrgäste drängen in die dicht gepackten Busse. "Da sind einige dabei, die auf dem Weg nach Europa sind", sagt Nosa.

"Eine Freundin sagte: Geh doch nach Europa"

Neben ihm steht Happiness Ehimen. Sie ist so alt wie er und gut einen Kopf kleiner. Ihre Haare hat sie mit blonden Extensions verlängert. "Am Busbahnhof ist es oft zu spät, um den Entschlossenen diese Reise durch die Hölle noch auszureden", sagt Happiness. Sie weiß das aus eigener Erfahrung. Sie und Nosa haben den Höllentrip hinter sich.

"Ich habe mir vorgenommen, Nigeria zu verlassen, als meine Mutter starb – sie hatte nur Husten, aber wir hatten kein Geld für Medizin, und dann starb sie einfach", sagt Happiness. Ein Jahr später erkrankte ihr Vater, und sie musste die jüngeren Geschwister allein versorgen. Es war ein täglicher Kampf ums Überleben, das Geld reichte nie, und irgendwann wusste sie nicht mehr weiter. "Eine Freundin sagte zu mir: Das ist einfach zu viel für dich, warum gehst du nicht nach Europa, machst dort mit deinem Talent als Friseurin viel Geld und schickst es nach Hause, um deiner Familie wirklich zu helfen?"

In ihrer Notlage klang das wie eine gute Idee. Viele entschließen sich ähnlich leichtfertig wie sie damals. Inzwischen hat Happiness so viele Geschichten gehört, die mit einer Notlage beginnen und mit jemandem, der angeblich helfen will. Mal sind es Freunde, mal von den Schleusern bezahlte Lockvögel. Happiness war Mitte zwanzig und schöpfte zum ersten Mal in ihrem Leben Hoffnung.

Die modernen Sklavenkarawanen der Sahara

Damit andere mehr wissen als sie damals, hat die junge Frau ihre Geschichte inzwischen viele Male erzählt. Trotzdem ist immer noch diese Dringlichkeit in ihrer Stimme, die Eile, mit der sie die Details ihrer Reise abruft und gleich wieder wegschiebt. Wie die Nacht, in der sie mit drei anderen Frauen gedrängt auf einem Motorrad saß, das ohne Licht in halsbrecherischem Tempo über die grüne Grenze nach Niger raste. Auf einmal ein Schlag, Schreie, die Maschine schlitterte über den Boden. Der Fahrer war in der Dunkelheit in einen Baum gekracht. Geistesgegenwärtig klammerte sich Happiness an seinem Hosenbund fest und schrie ihn an, wenn sie noch mal falle, falle er mit ihr. Zu dritt fuhren sie weiter, eine Frau blieb zurück. Der Fahrer, glaubt Happiness, hatte in dieser Nacht wohl genauso viel Angst wie sie.

Wenn Happiness und Nosa die Etappen ihrer Irrfahrt durch die Sahara beschreiben, für die sie von Verwandten umgerechnet 1.100 Euro zusammengekratzt hatten – für viele Nigerianer ein Jahresgehalt –, dann erklärt das das Geschäftsmodell derjenigen, die junge, hoffnungshungrige Afrikaner auf einer mehr als 4.000 Kilometer langen Reise bis zum Mittelmeer schleusen.

Es sind moderne Sklavenkarawanen, die sich durch die Sahara wälzen. Da sind die Fahrten: Mit 24 anderen auf der offenen Ladefläche eines Pick-ups, viele sitzen und liegen übereinander. Bei den Zwischenstopps in Städten wie Zinder oder Agadez in Niger, Brach oder Bani Walid in Libyen wird die menschliche Ladung an die nächste Schleusergruppe übergeben, die Migranten müssen in Rohbauten oder Ziegenställen ausharren, in der Sahara unter freiem Himmel. Jeder Stopp verläuft ähnlich. "Alle müssen raus, dann schreien sie: Wo ist dein Geld? Wo ist dein Geld?, und schlagen mit Gewehrkolben oder Schlagstöcken in die Menge", erinnert sich Nosa.

Die Männer wurden geschlagen, die Frauen vergewaltigt, sagt Happiness. "Wir waren mitten in der Sahara, da haben sie die Frauen zusammengestellt, sich ein paar rausgegriffen und den anderen gesagt: Guckt in die Sonne – und dann haben sie ihre Opfer hinter uns vergewaltigt, wir konnten die Schreie hören. Und dann haben sie sich die Nächsten gegriffen."

Die Horror-Geschichten allein wirken nicht

Wer so etwas hört, hoffen Nosa und Happiness, der zweifelt hoffentlich an den Versprechungen der Schleuser, widersteht dem Drängen der Freunde und Verwandten. Doch sie wissen, dass das allein nicht reicht. Happiness und Nosa tragen das gleiche T-Shirt, auf dem ihr Motto aufgedruckt ist: "Make the green greener". Es bezieht sich auf das englische Sprichwort, nach dem das Gras woanders immer grüner ist als das eigene. "Wir müssen es bei uns grüner machen, nur dann riskieren die Jungen nicht ihr Leben", sagt Happiness.

Und so tingelt sie von Gemeinde zu Gemeinde, von Schule zu Schule. Manchmal spendieren die Gastgeber jedem eine Limo, dann setzen sich alle auf den staubigen Boden unter freiem Himmel zusammen in einen Kreis und hören schweigend zu, wenn Happiness vom Tod erzählt, dem sie nur knapp entgangen ist, bei einem Zwischenstopp, als auf einmal Schüsse fielen.

Offenbar stritten sich zwei Banden darum, wer die menschliche Ware weiter transportieren durfte. Alle stoben auseinander und rannten davon. "Und auf einmal war ich allein, allein in der Wüste, ich heulte, dann bin ich hin und her gelaufen, ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist die Ladefläche eines fahrenden Pick-ups, irgendwer hatte mich gefunden und zu einer anderen Gruppe geworfen." Die anderen, die mit ihr davonrannten, hat sie nie wieder gesehen. Sie glaubt, dass sie in der Wüste verdurstet sind.

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Viele sterben auf der Reise nach Europa, sie verdursten, werden totgeprügelt oder erschossen. 2016, als Nosa und Happiness flohen, schafften es den Vereinten Nationen zufolge 40.000 Nigerianer bis nach Italien. Wie viele scheiterten, weiß niemand. Und obwohl immer weniger ankommen, machen sich immer noch täglich Dutzende Nigerianer auf den Weg nach Norden und begeben sich in die Hände von Menschenhändlern, von denen jeder versucht, mit brachialer Gewalt noch ein bisschen Gewinn aus den Opfern zu pressen. Die reichen Hintermänner, die ihr Geld im Voraus bekommen, lassen es geschehen.

Im Kampf gegen Schleuser liegt Afrika weit hinten

Mary George ist stellvertretende Chefin einer Sondereinheit der nigerianischen Polizei in der Hauptstadt Abuja, die Menschenhändlern ihr Handwerk legen soll. Mit ihren Kollegen sitzt sie im zweiten Stock eines Flachbaus in einem schummrigen Raum. Die Klimaanlage grollt und spotzt, aber die stickige Luft steht. Auf dem Boden stapeln sich Papiere und Ordner. Stühle werden hereingetragen. "Wir sind bereit für unsere Aufgabe", verkündet Mary George, "aber uns fehlt die nötige Ausstattung."

Sie hätten kein Geld, um Informanten zu bezahlen. Wenn jemand der zentralen Dienststelle in Abuja trotzdem einen heißen Tipp gibt, nutzt das wenig. "Wenn wir zum Beispiel hören, dass irgendwo im Westen Nigerias ein Menschenhändlerring eine Gruppe Frauen schleust, dann fehlen uns die Fahrzeuge, um dahin zu kommen und einzugreifen." Kürzlich war Mary George bei einem Seminar von Interpol in Singapur, es ging um Kinderhandel. Für das Ticket musste sie einen Privatkredit bei der Bank aufnehmen, das Innenministerium überwies das nötige Geld Wochen später.

"Dieses Treffen hat mir die Augen geöffnet: Wenn es um den Kampf gegen Menschenhändler und Schleuser geht, liegt Afrika ganz, ganz weit hinten, uns fehlt auch die Expertise. Die Beamten, die hier für uns arbeiten, sind überhaupt nicht richtig ausgebildet." Wie viele Menschenhändler die Sondereinheit schon verhaftet hat, kann Mary George nicht sagen. Sie hat keinen Computer, und eine Datenbank gebe es leider auch nicht. Aus dem Stegreif kann sie sich an einen Fall erinnern.

Einige Polizisten sind selber Schleuser

Was Mary George nicht sagt, ergänzt Lesmore Gibson Ezekiel. Der jungenhafte Mann mit einer tiefen Predigerstimme war früher Pfarrer in der lutherischen Kirche. Jetzt unterstützt er als Direktor der Hilfsorganisation "Symbols of Hope" Happiness und Nosa. "Von den Sicherheitskräften, die die Schleuser bekämpfen sollen, arbeiten einige für die Schleuser", sagt er. Die Kartelle, die den Menschenhandel organisieren, seien vermögend genug, um nigerianische Polizisten zu kaufen. Ein Polizist verdient im Monat nicht mehr als umgerechnet 450 Euro. Den Kampf gegen die gut vernetzten Schleuser müssten deshalb die Rückkehrer führen, sagt Gibson Ezekiel.

"Unser gemeinsamer Plan ist es, ein Zentrum für Rückkehrer zu bauen: Wer dort strandet, kann ein Jahr bleiben und eine Traumatherapie machen, eine Ausbildung absolvieren, als Schreiner vielleicht, Friseur, Mechaniker, etwas, womit man sich selbstständig machen kann. Und natürlich die eigene Geschichte erzählen, um andere abzuschrecken, so wie es Happiness und Nosa versuchen. Doch es fehlt das Geld für das geplante Zentrum.

"Der Staat lässt uns im Stich", ärgert sich Nosa. "Die EU hat der Regierung in meinem Bundesstaat Edo Geld gegeben, um Rückkehrer zu integrieren – und was geschieht? Sie geben jedem ein bisschen Bargeld, das war’s, danach sind sie wieder allein und sitzen auf der Straße." Wie viel sinnvoller wäre es, in Ausbildung zu investieren!, sagt Nosa. Wenn Happiness und er keine Vorträge halten, klappern sie Werkstätten und kleine Läden ab, um nach Ausbildungsstellen zu fragen. Einige Hundert Rückkehrer wollen sie inzwischen vernetzt haben, den meisten geht es schlecht.

"Die meisten Leute nehmen unseren Rat nicht an"

An einem anderen Tag sprechen Nosa und Happiness mit Menschen in der nigerianischen Stadt Benin City. Hier stranden die meisten Migranten und Rückkehrer. Auch hier gibt es nicht genügend Arbeit für die Jungen, und die Flucht nach Europa bleibt für viele eine Verlockung. "Wir erzählen unsere Geschichten, wir zeigen Videos, die wir mit dem Handy aufgenommen haben, aber trotzdem nehmen die meisten Leute unseren Rat nicht an", sagt Happiness. "Sie fragen: Okay, wir sollen nicht nach Europa fliehen, aber was bietest du uns stattdessen an?" Auch darum müsste sich das Rückkehrerzentrum irgendwann kümmern. Und Happiness ahnt, dass diese Aufgabe wohl zu groß sein könnte für die Freiwilligen, so motiviert sie auch sein mögen.

Nosa und Happiness trafen sich auf dem Schlauchboot, auf das 250 Leute gezwängt wurden. Am viel zu kleinen Außenborder saß ein Gambier, ein Flüchtling wie sie. Auf See fiel das Navigationsgerät aus, der Schleuser riet über Satellitentelefon, in irgendeine Richtung weiterzufahren. Nach ein, zwei Stunden sahen sie ein Schiff am Horizont. Happiness erinnert sich, wie froh sie alle waren. "Es war ein Boot der libyschen Küstenwache, sie hatten Gewehre im Anschlag und schrien: Wo ist eure Plakette?, und wir fragten: Plakette? Welche Plakette? Und sie sagten: Die, die uns bestätigt, dass euer Schleuser uns gut versorgt hat und ihr weiterfahren könnt." Es gab keine Plakette, und das Schlauchboot lief schon leck. Die Küstenwache brachte die 250 Menschen zurück nach Libyen in eines der berüchtigten Internierungslager.

"Das Leid in diesen Lagern war unbeschreiblich, wir lagen dicht gedrängt in dem gleichen Raum, in dem wir unsere Notdurft verrichten mussten. Du konntest da nicht raus, wir haben nie die Sonne gesehen." Nosa konvertierte zum Islam, eine Schutzmaßnahme, sagt er. Als Mussa Mohamed habe er für seine Gruppe von Inhaftierten mit der Internationalen Organisation für Migration verhandelt, die schließlich den Rückflug nach Nigeria organisierte.


Die Rückkehr, erzählt Nosa, war fast schwieriger als die Flucht. Er hatte das ersparte Geld verbraucht, er hatte hohe Schulden, sein Ruf bei Familie und Freunden war dahin. Auch deshalb blieb er in Benin City, so wie die meisten Rückkehrer. Nach Hause können sie nicht. So alleingelassen fragen sich selbst die, die schon einmal durch die Hölle gegangen sind, ob sie es noch einmal versuchen sollen. Legale Wege nach Europa können auch Happiness und Nosa nicht bieten.

Sie machen weiter, versuchen, die Menschen zu überzeugen, hierzubleiben, auch wenn die Widerstände groß sind. "Ich werde bedroht, schon mehrere Schleuser haben mir gesagt: Ich gebe dir Geld, wenn du aufhörst, diese Geschichten zu verbreiten", sagt Nosa.

Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Weiterführende Links auf chrismon.de:

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