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Jahrestage 2018: Hört ihnen zu, den Zeitzeugen, solange es sie noch gibt


Historisches Gedenken
Hört den Zeitzeugen zu, solange es sie noch gibt

  • Gerhad Spörl
MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

28.01.2018Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Zeugen der NS-Diktatur: Überlebende des KZ Mauthausen (Österreich) bei einer Gedenkveranstaltung im Mai 2017.Vergrößern des Bildes
Zeugen der NS-Diktatur: Überlebende des KZ Mauthausen (Österreich) bei einer Gedenkveranstaltung im Mai 2017. (Quelle: Peter Lechner/Bundesheer/APA/dpa-bilder)

2018 ist ein Jahr voller Gedenktage: an Stalingrad, das Ende des Ersten Weltkriegs, die Wende des Zweiten Weltkriegs. Muss das sein? Ja, denn unsere Väter, Mütter und Großeltern hat diese Erfahrung geprägt – und damit uns auch.

In diesem Jahr haben wir besonders oft Grund, uns an die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Vorgestern war es 73 Jahre her, dass eine Aufklärungseinheit der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz erreichte. Die SS-Wachen waren längst auf und davon. 600 ausgemergelte Menschen lebten noch. Der befehlshabende Offizier ließ Sanitäter holen und auch Fotografen, die das Grauen dokumentierten.

Am Mittwoch wird es 75 Jahre her sein, dass Generalfeldmarschall Friedrich Paulus kapitulierte und mit den Resten der 6. Armee, knapp 110.000 Mann, in Kriegsgefangenschaft ging. Die schreckliche Schlacht von Stalingrad war vorbei, 700.000 Menschen waren tot, in der Mehrheit Soldaten der Roten Armee. Seit Weihnachten habe er gewusst, „dass wir verraten und verloren waren“, sagt Hans-Erdmann Schönbeck, der damals 20 Jahre alt war, in seinem eindrucksvollen Interview mit t-online.de. Stalingrad war der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkriegs, den Deutschland entfesselt hatte.

So viel Gedenken – muss das eigentlich sein?

Weiter: Im November vor hundert Jahren ging der Erste Weltkrieg zu Ende, dankte der deutsche Kaiser ab, ging das Osmanische Reich und die k.u.k. Monarchie zugrunde, übernahmen die Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Auf den Krieg folgte Anarchie, folgten Morde der Freikorps, folgte der Aufstieg Hitlers und schließlich wieder Krieg.

Da gibt es ziemlich viel zu gedenken, an historische Zäsuren, an Leid und Tod, an verwirkte Neuanfänge, an neues Leid, neuen Tod. Zu viel Gedenken? Und muss das eigentlich sein?

Es muss sein, denn es gibt keine deutsche Familie, die nicht den Vater oder Großvater oder Urgroßvater oder Onkel oder Großonkel oder Großmutter oder Großtante betrauern würde. Zwei Brüder meiner Mutter starben bald nach Kriegsbeginn, der Bruder meines Vaters blieb für immer vermisst, mein Vater wurde am 3. Februar 1942 in der Nähe von Charkow (auf dem Weg nach Stalingrad) so stark verwundet, dass ihm beide Beine unterhalb der Knie amputiert werden mussten. Er war Jahrgang 1920 und starb 2008.

Mein Vater hat meine Einstellung zum Leben und zum Leid stark beeinflusst. Ob wir wollen oder nicht, die Biografien unserer Familie prägen uns mit.

Die Generation der Zeitzeugen stirbt allmählich aus

Heute gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die erzählen können, wie es war, damals im eiskalten russischen Winter, damals in Auschwitz, damals in den Trümmern der Städte. Hans-Erdmann Schönbeck ist 94 Jahre alt und die KZ-Überlebenden, die deutschen Schulkindern erzählen, was sie erlebt haben, sind kaum jünger. Sie sind die kleine Minderheit aus einer Generation, die allmählich ausstirbt.

Wie sie sich erinnern, ist naturgemäß subjektiv. Aber wer so alt ist, dem wächst eine eigene Autorität zu und deshalb hören wir zu. Wir wollen kaum glauben, was sie erlebt haben. Was ging in ihnen vor? Würden wir so viel Irrsinn aushalten?

Das Erzählen der Alten löst Rückfragen an uns aus, denen wir nicht ausweichen können. Wie würden wir uns verhalten haben, im Wissen, dass Hitler Krieg bedeutete? Hätten wir uns an das Regime angepasst oder unser Leben riskiert? Das erschrockene Staunen führt fast zwangsläufig zu philosophischen Überlegungen: Irgendetwas steckt im Menschen, das ihn anderen Menschen Unbegreifliches antun lässt. Irgendetwas steckt im Menschen, das ihn Unfassbares ertragen lässt.

Zermürbende Auseinandersetzung mit dem Grauen

Heute beschäftigen wir uns einigermaßen frei mit der deutschen Vergangenheit. Dafür hat vor allem die Zeit gesorgt, der Abstand zu 1945, zum Grauen und zu den grauenhaften Irrtümern. Ich kann mich an zermürbende Debatten erinnern, zum Beispiel über die Verstrickung der Wehrmacht in Kriegsverbrechen, ausgelöst durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Helmut Schmidt, ehemals Oberleutnant, verwahrte sich dagegen, dass die Wehrmacht an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen war. War sie aber.

Es hat auch viel zu lange gedauert, bis Menschen wie Georg Elser oder Dietrich Bonhoeffer oder Sophie Scholl, die Widerstand geleistet hatten, so genannt werden durften, wie sie genannt werden müssen: Heldinnen und Helden. Es hat noch länger gedauert, bis Konzerne und Banken ihre Geschäfte im „Dritten Reich“ aufarbeiten ließen. Es war die Rede von Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, die befreiend wirkte, weil darin der entscheidende Satz vorkam: Wer sehen wollte, konnte sehen, was vor sich ging.

Das Interesse an Geschichte scheint ungebrochen

Nun stirbt die Kriegsgeneration dahin und damit auch die persönlich verbürgte Erinnerung an Geschehenes und Erlebtes. Wer heute jung ist und sich für Geschichte interessiert, muss sich auf Geschriebenes stützen. Wenn er Glück hat, findet sich unter den Hinterlassenschaften des Vaters oder Großvaters ein Tagebuch. Er kann Erinnerungen, Biografien, Autobiografien und Geschichtswerke lesen und sich auf diese Weise ein eigenes Bild machen. Bisher war es noch immer so, dass sich jede Generation diese Vergangenheit vergegenwärtigen wollte, weil sie das Leben des Vaters oder Großvaters, der Mutter oder Großmutter geprägt hatte. Das Interesse scheint ungebrochen zu sein, wie auch die Rezeption herausragender Fernsehserien – „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Babylon Berlin“ – uns bestätigen.

An Gedenktagen eignet sich die Gegenwart die Vergangenheit immer auch selektiv an. Frankreich feiert an jedem 14. Juli den Ausbruch der Revolution im Jahr 1789, als gäbe es keine koloniale Vergangenheit in Algerien oder Indochina. Amerika begeht mit Pomp und Trallala jeden 4. Juli, den Beginn des Unabhängigkeitskriegs 1776, unter souveräner Missachtung von Sklaverei und Rassismus.

Das Erinnern an unsere Vergangenheit bestimmt auch unsere Gegenwart

Und wir? Die deutsche Geschichte wird durch die letzten 100 Jahre beherrscht, das ist nun einmal so, und das Monopol der Klage darüber darf die AfD behalten. Dazu gekommen ist in der jüngsten Vergangenheit die Wiedervereinigung, an die wir uns fröhlicher erinnern könnten, als wir es tun.

Jede Demokratie bestimmt durch die Erinnerung an ihre Vergangenheit auch ihre Gegenwart. Damit zeigt sie, was ihr wichtig ist und wofür sie Verantwortung übernimmt. An Gedenktagen hält sie inne, schaut zurück und zugleich nach vorne. Ob sie es souverän angeht oder manieriert, ob sie Ernst walten lässt oder nur Routine übt, sagt einiges über ihr Selbstverständnis und ihr Selbstvertrauen aus.

Ich bin für souveränes Gedenken. Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks, hat Hegel geschrieben. Ja, so ist es, und am wenigsten nun einmal der deutsche Anteil im 20. Jahrhundert.

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