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Tischfußball, Papierkronen: So bekämpfen Asylbewerber den Lagerkoller


Sport, Kultur und Ein-Euro-Jobs
So bekämpfen Asylbewerber den Lagerkoller

dpa, Von Nico Pointner

18.10.2015Lesedauer: 3 Min.
Auch der SC Freiburg unterstützt Flüchtlinge bei ihrer Suche nach Ablenkung vom tristen Lagerleben.Vergrößern des BildesAuch der SC Freiburg unterstützt Flüchtlinge bei ihrer Suche nach Ablenkung vom tristen Lagerleben. (Quelle: dpa-bilder)
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Diverse Auseinandersetzungen in den vergangenen Wochen belegen: Langeweile und Überbelegung in Flüchtlingsunterkünften bergen Zündstoff. Im Kampf gegen den Frust werden Asylbewerber immer häufiger selbst aktiv.

Im Winter könnte die Situation in den Lagern, Hallen und Zelten noch brenzliger werden. Doch wird bereits einiges gegen den Lagerkoller unternommen: Mit Sport, Kultur, Deutschlernen und kleinen Ein-Euro-Jobs suchen die Flüchtlinge nach kurzweiliger Ablenkung.

Vom Ingenieur zum Kindergärtner

In seinem früheren Leben war Sammy Samour Computer-Ingenieur. Nun spielt er Tischfußball, bastelt Papierkronen und liest aus Bilderbüchern vor.

50 Kinder rennen durch den kleinen Betreuungsraum in der Landeserstaufnahmeeinrichtung, kurz "Lea", für Flüchtlinge im baden-württembergischen Ellwangen. Ständig ruft ein Kind nach Samour, zupft an seinem Hemd. Ein kleines Mädchen reicht ihm stolz ein gemaltes Bild. Der 26-Jährige liest den arabischen Schriftzug darauf vor: "Syrien, wir werden dich nicht vergessen."

Samour mag seinen neuen Job. "Ich will meinem Volk helfen und Deutschland etwas zurückgeben", sagt der Syrer. "Und wir haben doch so viel Zeit."

3600 statt 500 Menschen in Flüchtlingsunterkunft

Langeweile und Überbelegung in Flüchtlingsunterkünften bergen viel Zündstoff. In der "Lea" Ellwangen sollten ursprünglich 500 Menschen leben, die ehemalige Kaserne beherbergt mittlerweile 3600 Flüchtlinge. Junge Männer, teils traumatisch belastet, warten hier auf engstem Raum, in Hallen und Zelten, auf eine ungewisse Zukunft. Dreimal am Tag gibt es etwas zu essen - und ansonsten wenig zu tun.

"Es gibt Aufenthaltsräume für Jugendliche, es gibt Betreuung für Kinder", berichtet "Lea"-Leiter Berthold Weiß. "Für die Erwachsenen gibt es gar nichts." Kein Café wie in anderen Unterkünften, keinen Aufenthaltsraum zum Teetrinken. "Hätten wir den gehabt, hätten wir Betten reingestellt", sagt Weiß.

Sportlehrer bieten Fußball und Basketball an

Prügeleien machten hier Schlagzeilen. Erst Mitte September wurden neun Menschen bei einer Massenschlägerei verletzt, weil sich ein Flüchtling bei der Essensausgabe vordrängelte.

Der Kampf gegen die Langeweile bestimmt deshalb den Alltag in der "Lea". Sportlehrer bieten Fußball und Basketball an. Ehrenamtliche geben Deutschunterricht.

Einige Flüchtlinge werden auch selbst aktiv: Einige arbeiten gemeinnützig für 1,05 Euro die Stunde, sie helfen in der Küche, geben Kleider aus, sammeln Müll, dolmetschen für ihre Landsleute.

"Um dem Lagerkoller entgegenzutreten, braucht es eine räumliche Entflechtung und eine gute Tagesstruktur mit vielen Aufgaben", sagt Weiß.

"Die Arbeit macht mich zum Menschen"

"Ich will die Zukunft in meine eigenen Hände nehmen", sagt Haitham Sairafy. Der 23-Jährige steht jeden Tag sechs Stunden in der Essenshalle der Lea. Seit sechs Wochen schon. Er hat Wirtschaft in Aleppo studiert, nun macht er Tische sauber, kocht Tee, gibt Essen aus, löst Streitigkeiten, wenn einem das Gericht nicht schmeckt. "Die Arbeit macht mich zum Menschen", sagt er.

Es ist kurz nach eins, Mittagszeit. Hunderte Flüchtlinge warten in einer Schlange auf eine von 2700 aufgewärmten Portionen schwäbische Fleischküchle, Salzkartoffeln und Lauchgemüse. Es muss schnell gehen an der Ausgabe, um die Massen zu bewältigen. "Jalla, Jalla!" (schnell, schnell!) ruft der Mann vom Sicherheitsdienst den Flüchtlingen in der Schlange zu, halb scherzhaft, halb um sie voranzutreiben.

Große Freude über Hühnchen

Sairafy greift die Rationen mit seinen Plastikhandschuhen aus einer Styropor-Box und legt sie den Flüchtlingen auf einen Pappdeckel. Alle drei Sekunden geht eine Portion über den Tresen. Nach wenigen Momenten ist die Kiste leer. "Wenn es Hühnchen gibt, dann freuen sich die Syrer", erzählt er. "Dann singen und tanzen sie."

"Bei den Flüchtlingen darf keine Langeweile aufkommen", sagt der Bremer Psychologie-Professor Dietmar Heubrock. "Alles, was eine Ablenkung und eine vielfältigere Reizstruktur bietet, ist gefordert: Unterricht, Informationsveranstaltungen, persönliche Ansprache, Reden über das Erlebte und Sportangebote."

Wie mit Kindern

"Beschäftigung ist wichtig", findet auch Marike Meerwald. Die 34-jährige Sozialbetreuerin sorgt in der "Lea" für etwas Unterhaltung. In einem ehemaligen Verwaltungstrakt der Kaserne können Flüchtlinge Billard und Karten spielen, Musik machen oder mit Fitnessgeräten trainieren. "Das ist wie mit Kindern. Wenn sie nicht beschäftigt werden, wird ihnen langweilig."

Langweilig ist dem Kinderbetreuer Sammy Samour nicht. Er hängt das gemalte Bild des Mädchens zu den Dutzenden anderen an der Wand - darauf sind zu sehen: Liebeserklärungen an Deutschland, weinende Flaggen, Bilder von Krieg und Flucht.

Viele traumatisierte Kids

Die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingskindern sei alles andere als einfach, sagt er. "Viele sind psychisch krank, werden schnell aggressiv und wütend. Manche können nicht mal mehr spielen."

Samour erzählt von einem kleinen Mädchen, das mit ansehen musste, wie ihr Vater getötet wurde. Sie habe viel Angst, esse nichts mehr, erzählt er. Sammy Samour sieht Sinn in seiner Arbeit. Er hilft deshalb auch ehrenamtlich hier, will kein Geld. Sein Lohn ist ein anderer: "Ich hoffe, dass die Kinder mich lieben."

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