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Ukraine-Krieg | Furcht vor Russland: Unser Gehirn spielt Putin in die Hände


Welt in der Dauerkrise
Wie Putin geschickt unsere Angst ausnutzt

MeinungEin Gastbeitrag von Philipp Kohlhöfer

Aktualisiert am 03.05.2022Lesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin: Unser Gehirn ist süchtig nach schlechten Nachrichten, wie nun aus dem Ukraine-Krieg, schreibt Philipp Kohlhöfer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Unser Gehirn ist süchtig nach schlechten Nachrichten, wie nun aus dem Ukraine-Krieg, schreibt Philipp Kohlhöfer. (Quelle: Alexei Druzhinin, Sputnik, Kremlin Pool/ap-bilder)

Der Ukraine-Krieg ist fern, Corona (fast) überstanden und das Klima zumindest hierzulande noch relativ stabil. Und dennoch gruseln und fürchten sich die Deutschen. Schuld ist ausgerechnet unser Gehirn, erklärt Philipp Kohlhöfer.

Ich habe noch nie was getwittert. Aber ich folge rund 200 Menschen. Darunter ist kein einziger Komiker, niemand, der Produkte auspackt und sich darüber freut und, abgesehen von Arnold Schwarzenegger, auch kein Star. Dafür: Wissenschaftler aller möglichen Disziplinen, ehemalige und aktive Botschafter, Präsidenten und Ministerien – im Moment vor allem Verteidigung. Es macht keinen Spaß. Ich nutze das trotzdem ständig.

Philipp Kohlhöfer ist Autor und Kolumnist und lebt in Hamburg. Er arbeitet unter anderem für das Magazin "Geo" und das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kohlhöfer verfasst zudem Drehbücher und entwirft Kommunikationskonzepte. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere marschierte er tagelang durch den Regenwald. 2021 hat er den Bestseller "Pandemien. Wie Viren die Welt verändern" veröffentlicht.

Berufsbedingt habe ich zudem fast alles abonniert, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und ein paar Tage nach der Veröffentlichung des IPCC-Reports (Intergovernmental Panel on Climate Change) am 4. April las ich in der "Los Angeles Times", dass die Welt "on track" sei, leider aber auf der falschen Spur, nämlich dazu, dass der Planet bald "unlivable" sei. "Unbewohnbar", also.

Ein einziger Satz auf der Titelseite, zur Story bitte auf Seite 3, Rubrik "World". "Unbewohnbar", ein größeres Wort gibt es vermutlich nicht, aber so wichtig, ach Gott, ist es dann auch wieder nicht, dass es nicht bis Seite 3 warten kann. Eine größere Katastrophenleugnung habe ich lange nicht gesehen. Ich habe sehr schlecht geschlafen danach – weil ich davor alles gelesen hatte, was auch nur damit zu tun hat.

Schlimmer geht es immer

Schon lange gibt es Studien, die sich mit der Wirkung von Nachrichten auf unser Stressempfinden beschäftigen. Bereits 2013 zeigte eine Untersuchung der University of California, dass Menschen, die sich über einen Zeitraum von sechs Stunden Nachrichten über den damaligen Anschlag auf den Boston Marathon ansahen, "mehr akute Stresssymptome aufwiesen als Menschen, die den Anschlägen direkt ausgesetzt waren", wie es damals hieß. Die Symptome ähnelten einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und wir können nicht wegsehen bei so etwas.

Im Gegenteil: Wir Menschen sind fokussiert auf negative Inhalte. Wir speichern sie schneller ab, verarbeiten sie schneller und suchen sogar danach. Das Phänomen nennt sich "negativity bias" und bedeutet, dass negative Ereignisse einen größeren Einfluss auf unsere Psyche haben als positive – selbst, wenn sie eigentlich von gleicher Intensität sind.

Wir sind außerdem fokussiert auf schlechte Nachrichten, weil wir Unsicherheiten schlecht ertragen – und sie zu beseitigen versuchen, indem wir mehr schlechte Nachrichten konsumieren. Weil uns das möglicherweise beim Verstehen hilft. In unserem Gehirn, das las ich zumindest neulich in einer Studie mit dem schönen Titel "A prefrontal network integrates preferences for advance information about uncertain rewards and punishments", ist das so angelegt.

Es gebe, wissenschaftlich umständlich formuliert, "präfrontale Neuronenpopulationen, die auf relativ valenzspezifische Weise Gelegenheiten zum Informationsgewinn antizipieren". Die Neuronen befinden sich in Unterregionen des Gehirns, die direkt anatomisch miteinander verbunden sind. Wer es genau wissen will: im anterioren cingulären Kortex (ACC) und dem ventrolateralen präfrontalen Kortex (vlPFC).

Menschliches Gehirn ist unterentwickelt

Die Autoren aus St. Louis und Harvard nennen diese Informationssuche auf neuronaler Ebene "punishment". "Die Gehirne der Menschen sind für das Informationszeitalter nicht gut gerüstet", sagt der Hauptautor Ilya Monosov, Professor für Neurowissenschaften, Neurochirurgie und Biomedizintechnik an der Washington University School of Medicine in St. Louis.

Dabei hat sich fokussieren auf schlechte Nachrichten in der Evolution durchaus bewährt – weil es tendenziell lebensrettend ist. Kann ja sein, dass das Rascheln im Busch vielleicht doch nicht die Steinzeitfrau war, die Beeren sammelt, sondern der hungrige Säbelzahntiger. Im Zweifel ist Flucht eben die bessere Option.

Unser Weltbild ist daher eher negativ. Wir gehen vom Schlimmsten aus, weil das über Hunderttausende von Jahren gut funktioniert hat. Bei Entscheidungsfindung und Risikoabwägung sind wir wiederum eher vorsichtig, könnte ja nach hinten losgehen. Aktuelles Beispiel: Waffenlieferungen in die Ukraine.

Angeblich gibt es sogar einen Zusammenhang zwischen politischer Zugehörigkeit und Negativitätsvoreingenommenheit. Konservative reagieren empfindlicher auf negative Reize, fühlen sich eher bedroht und suchen ihr Heil in der Vergangenheit, in der die soziale Ordnung vermeintlich noch stabiler war (obwohl das nicht stimmt und schon immer behauptet wurde). Das legt zumindest ein Paper mit dem schönen Namen "Ideological Reactivity" nahe, das Forschende der Universitäten New York und Toronto 2016 publiziert haben.

Neigung zur Katastrophe

Menschen haben ferner die Tendenz, die Bedeutung ihrer Handlungen im negativen Sinn zu überschätzen, das ist dann der sogenannte availability bias. Um aktuell zu bleiben: Es kann natürlich sein, dass 50 Kampfpanzer aus Deutschland für die Ukraine einen Atomkrieg mit Russland unter Wladimir Putin auslösen. Aber warum sollten sie, wenn 50 polnische Kampfpanzer das nicht tun? Wir neigen dazu, dem Thema die größte Bedeutung und den größten Einfluss beizumessen, das uns gerade am meisten beschäftigt.

Und weil wir außerdem aktiv nach Informationen suchen, die bestätigen, was wir ohnehin schon glauben, ist das tendenziell ungesund. Das nennt sich Bestätigungsvoreingenommenheit, "confirmation bias". Es gibt zahlreiche Studien, die den Konsum schlechter Nachrichten mit erhöhtem Stress, Ängsten und Depressionen in Verbindung bringen, selbst dann, wenn es sich um relativ banale Nachrichten handelt.

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Denn wenn ich denke, dass die Welt schlecht ist, suche ich nach Informationen, die mir zeigen, dass genau das auch der Fall ist. (Das nennt sich auf Neudeutsch Doomscrolling, zusammengesetzt aus dem englischen "doom" für "Untergang" und dem Verb "scrollen".) Allerdings funktioniert das auch in die andere Richtung: Wenn ich beschließe, dass "Wandel durch Handel" mit Russland eine gute Sache sei, dann fühle ich mich von kleinsten Hinweisen bestärkt in meinem Glauben, selbst wenn die große Linie seit Jahren das Gegenteil nahelegt. Stichwort: Putins Krim-Annexion 2014.

Wir suchen Daten, die unsere Überzeugung unterstützen. Unser Gehirn selektiert Informationen, die in unser Weltbild passen und neigt dazu, widersprüchliche Fakten zu ignorieren. Neulich war ich in der Sauna. Zehn Leute drin, es dauerte nicht lange, bis neun von ihnen eine Diskussion über die hohen Spritpreise anfingen und über fehlendes Sonnenblumenöl.

Unsinn in der Sauna

Das hat System, sagte jemand, die Politiker machen sich die Taschen voll. Denen da oben sind wir doch alle egal. Saublöde Argumente folgten: Gab schon immer Krieg. Der Ukrainer hat es provoziert. Der Russe wird von der Nato bedroht. Der übliche Mist. Aber eben die Pseudoinformation, die passt. Als ich widersprach, verließ einer nach dem anderen die Sauna – nur um im Raum mit dem Eispool und den kalten Duschen weiterzumachen, nur eben ohne mich, den Klugscheißer.

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Ich neige ja von Zeit zu Zeit sehr zu Misanthropie. Und dann denke ich, dass wir es als Spezies vielleicht einfach überreizt haben. Dabei übersehe ich aber regelmäßig, dass es natürlich ganz tolle Menschen gibt, die ganz viele herausragende Dinge tun. Und das ist ein Problem. Ein zu negatives Weltbild führt nämlich gerade nicht dazu, dass wir uns aktiv auf Herausforderungen einlassen.

Der ständige Krisenmodus geht über in Hilflosigkeit und das Gefühl der Überforderung. Letztlich kommt man dann an den Punkt, an dem man denkt, dass man ohnehin nichts ändern kann – was für eine Demokratie eine schlechte Entwicklung ist. Weil man dann nach einer einfachen Erklärung sucht, die tief in den Kaninchenbau führt.

Und so ist es auch kein Zufall, als im April das Ergebnis einer Umfrage erschien und darin ein Drittel aller Befragten der Aussage zustimmte, dass wir "in einer Scheindemokratie" leben – was offensichtlich totaler Blödsinn ist, weil sich jeder Ortsverein jeder Partei freut, wenn man mitmachen will. Demokratie macht halt Arbeit und ist kein Angebot im Supermarkt, bei dem es nur darum geht, das beste Preis-Leistungs-Verhältnis zu ermitteln.

Machen wir und mal nichts vor: So gut wie es war, wird es so bald nicht mehr werden. Es wird immer alles schlechter … ähh … Oder auch nicht … Schließlich haben sich in den letzten Jahrzehnten Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit … Ich kann das schwer einschätzen.
Erst mal gucken, was Twitter dazu sagt. Arrghhh …

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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