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Ein Jahr nach dem Terror in Berlin | Der Staat kann Anschläge nie ausschließen


Ein Jahr nach dem Terror in Berlin
Der Staat kann Anschläge nie ausschließen

  • Jonas Mueller-Töwe
Von Jonas Mueller-Töwe

Aktualisiert am 17.12.2017Lesedauer: 4 Min.
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Ein Foto einer Überwachungskamera zeigt den Attentäter Anis Amri.Vergrößern des Bildes
Ein Foto einer Überwachungskamera zeigt den Attentäter Anis Amri: Wie konnte er monatelang die Behörden narren? Kann das wieder passieren? (Quelle: Federal Police/belga/dpa-bilder)

Mit dem Anschlag am Breitscheidplatz endete für Deutschland eine Phase relativer Ruhe vor islamistischen Terroranschlägen. Auch Behördenversagen machte das Attentat möglich. Wäre das ein Jahr später noch denkbar?

Es ist kurz nach 20 Uhr als der tunesische Terrorist Anis Amri an einer Berliner Straßenkreuzung aufs Gas steigt. Die Ampel springt von rot auf grün, der Breitscheidplatz ist in Sicht, der Weihnachtsmarkt, Lichterketten, die Menschenmenge. Elf Menschen sterben am 19. Dezember 2016 unter den Reifen des geraubten Lastwagens, rund 70 werden verletzt. Zu diesem Zeitpunkt hat Amri den polnischen Fahrer bereits erschossen. Zuvor hat er die Behörden hingehalten und in die Irre geführt – monatelang.

Ist der Staat nun besser vorbereitet?

Es ist ein einfacher Anschlag, ausgeführt von einem ehemals Kleinkriminellen, einem Choleriker, einem Gescheiterten mit Verbindungen zum sogenannten "Islamischen Staat". Viel wird danach darüber gestritten: Hätte die Polizei den Anschlag verhindern können? Die Geheimdienste, die Justiz? In welchen Momenten hätte ein Anruf, ein Antrag, eine Koordination genügt? Und wie sieht es ein Jahr später aus? Ist der Staat besser auf islamistische Gefährder wie Amri vorbereitet? Könnte eine solche Tat heute verhindert werden? Mit Haft, mit Abschiebung?

Insgesamt drei parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben sich bis heute mit dem Fall befasst: zwei in Nordrhein-Westfalen, einer in Berlin. Noch keiner ist zu einem abschließenden Ergebnis gekommen. In NRW wurde ein Zwischenbericht veröffentlicht, in Berlin hat immerhin bereits der Sonderbeauftragte seinen Abschlussbericht vorgelegt. Klar ist: Auch zahlreiche Ermittlungspannen und fehlende Koordination machten den Anschlag möglich.

Die Probleme im Fall Amri betrafen nach den ersten Erkenntnissen vor allem drei Bereiche – und nur in manchen hat sich bis heute etwas getan:

Unterschiedliche Zuständigkeiten

Anis Amri war ein auch durch Straftaten behördenbekannter islamistischer Gefährder. Sein Asylantrag war abgelehnt worden und er war ausreisepflichtig. Das Problem: Da sich Amri häufig unter wechselnden Identitäten in mehreren Bundesländern aufhielt, wechselten auch häufig die Zuständigkeiten der Landesbehörden – ausländerrechtlich war Nordrhein-Westfalen zuständig, die Überwachung des Gefährders und die Ermittlungen gegen ihn lagen aber mal bei NRW, mal bei Berlin.

Nicht nur die Landeskriminalämter hatten ein Wort mitzureden: Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) der Behörden sind unter anderem auch die Geheimdienste und das Bundeskrimnalamt (BKA) mit von der Partie. Im Jahr 2016 konnten so zehn Anschläge verhindert werden. Was im Regelfall der Koordination dient, führte im Fall Amri allerdings zu einem Kompetenzproblem: Während die Ermittler in NRW davon ausgingen, dass Amri einen Anschlag plane, teilte das BKA diese Einschätzung nicht. Mit tödlichen Folgen.

Was hat der Staat daraus gelernt? "Erstens gibt es nun eine neue Bewertungsmethode für die Gefährlichkeit von Gefährdern", sagte Innenminister Thomas de Maizière im September t-online.de. "Zweitens haben wir verabredet, dass die Länder im GTAZ vereinbarte Maßnahmen operativ gemeinsam abstimmen und verbindlich umsetzen." In der nächsten Legislaturperiode wolle er außerdem ein Muster-Polizeigesetz für die Länder auf den Weg bringen und die Kompetenz des Bundes bei bestimmten Gefährdungslagen stärken. Die Länder wehren sich allerdings gegen die Beschneidung ihrer Zuständigkeiten.

Amri kam nicht in Abschiebehaft

Das zweite Problem betraf im Fall Amri das Ausländerrecht: Amri ließ sich laut einem Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums unter insgesamt fünf verschiedenen Identitäten neun Mal in verschiedenen Kommunen als Asylantragsteller registrieren. Er wurde mehrfach erkennungsdienstlich behandelt, die Sicherheitsbehörden identifizierten ihn relativ schnell unter allen Identitäten – und sein Asylantrag wurde binnen weniger Monate abgelehnt. Das Problem: Amri wurde nicht zügig in Sicherungshaft genommen und abgeschoben, obwohl das GTAZ ihn aufgrund der Gefährdungseinschätzung als "dringlichen Abschiebefall" führte.

Die Ausländerbehörden hätten "von den Instrumenten des Ausländerrechts letztlich nur unzureichend Gebrauch" gemacht, folgert der Bericht vom Mai 2017. Mehrfach verzichteten sie demnach auf einen Antrag auf Abschiebehaft. Das Land NRW argumentiert allerdings, derlei Anträge hätten keinen Erfolg versprochen, da die Hürden zu hoch seien.

"Der entscheidende Fehler war, dass Amri nicht in Abschiebehaft kam. Wir haben das Gesetz deswegen geändert", sagte Innenminister de Maizière t-online.de im Interview. Stand heute können Gefährder tatsächlich schneller in Abschiebehaft genommen werden. Das betrifft Ausländer, von denen "eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutender Rechtsgüter der inneren Sicherheit" ausgeht, heißt es im Gesetz. Ihnen können künftig auch elektronische Fußfesseln angelegt werden. Außerdem kann die Abschiebhaft angeordnet werden, auch wenn nicht klar ist, ob sie schon nach drei Monaten enden wird – beispielsweise um Passersatzpapiere des Herkunftsstaats zu besorgen. Die Opposition hat das Gesetz aufgrund harter Grundrechtseingriffe heftig kritisiert.

Amri kam nicht in Untersuchungshaft

Es bestand nicht nur die Möglichkeit, Amri in Abschiebehaft zu nehmen. Auch eine Untersuchungshaft wegen mehrerer Straftaten wäre vielleicht möglich geworden, wären die Ermittlungsverfahren bei einer Staatsanwaltschaft gebündelt worden. Das ist das dritte Problem – und wieder betrifft es unterschiedliche Zuständigkeiten und Versäumnisse, dieses Mal in der Justiz. Gegen Amri wurde nicht nur wegen mutmaßlicher terroristischer Aktivitäten ermittelt, sondern auch wegen Drogenhandel, Diebstahl und weiteren Delikten.

Vor allem der "gewerbs- und bandenmäßige Handel mit Betäubungsmittel" hätte wohl einen ausreichenden Haftgrund dargestellt – diesen Verdacht übermittelte das LKA allerdings nicht an die Staatsanwaltschaft. Die zuständigen Beamten spielten ihn später herunter und sollen sogar Akten manipuliert haben, um ihr Versagen zu verschleiern. Noch ist das Verfahren gegen sie allerdings nicht vor Gericht gegangen. Hätte ein entschiedeneres Durchgreifen bei Polizei und Staatsanwaltschaft den Anschlag verhindern können? Und haben die Behörden ein Jahr nach dem Anschlag aus ihren möglichen Fehlern gelernt?

Einige Bundesländer haben bereits reagiert: Künftig bündeln die Generalstaatsanwaltschaften alle Strafverfahren gegen Gefährder – auch solche, die nicht im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten stehen.

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Dennoch sieht der Terrorismus- und Sicherheitsforscher Sebastian Lange von der Humboldt-Universität in Berlin weiterhin insgesamt strukturelle Defizite: "Die Grundproblematik ist weiterhin gegeben", sagt Lange. "Die zahlreichen Landes- und Bundesbehörden müssten und sollten in solchen Fällen kooperieren." Damals bereits bestehende Regelungen zum Informationsaustausch seien im Fall Amri aber nicht eingehalten worden. "Insofern ist es fraglich, ob neue Verfahrensweisen im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum zu einer Verbesserung führen – auf Fortschritt ist nur zu hoffen."

Zwar sei die Stärkung von Bundeskompetenzen in solchen Fällen sinnvoll – doch hundertprozentige Sicherheit sei auch dann nicht zu gewährleisten. "Bei der Überwachung von 600 bis 700 Gefährdern stoßen Behörden einfach an die Grenze ihrer Ressourcen." Und diese Zahl umfasse nur die Dschihadisten-Szene. Beispielsweise über 500 abgetauchte Rechtsextremisten kämen noch hinzu. "Der Staat kann Anschläge nie völlig ausschließen."

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