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Meinung: "Die SPD muss ihre Zukunft bei Migranten suchen"


Letzte Chance Multi-Kulti
Die SPD muss ihre Zukunft bei Migranten suchen

  • Lamya Kaddor
MeinungVon Lamya Kaddor

Aktualisiert am 07.06.2019Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Katarina Barley Spitzenkandidatin der SPD fuer die Europawahl macht Fotos im Rahmen der AbschlussvVergrößern des Bildes
Katarina Barley Spitzenkandidatin der SPD fuer die Europawahl macht Fotos im Rahmen der Abschlussv (Quelle: FlorianxGaertner/photothek.net/imago-images-bilder)

Die SPD stürzt immer weiter ab. Ein Grund dafür ist, dass die Inhalte einer Arbeiterpartei in unserer Zeit nicht mehr ziehen. Eine Chance hat sie aber noch, denn an einen Themenkomplex traut sich keine andere Partei heran.

Der Weg nach unten ist offen. Zehn Prozent für die SPD oder weniger sind bundesweit möglich. Forsa und die Forschungsgruppe Wahlen sehen die Partei derzeit bereits bei 12 oder 13 Prozent. Nach dem unwürdigen Umgang mit ihrer Parteivorsitzenden Andrea Nahles dürften sich die Sympathiewerte bei den verbliebenen Wählerinnen und Wählern nicht erhöhen.

Doch um den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit aufzuhalten, würden auch neue Nettigkeiten nicht ausreichen. Nötig ist ein radikaler Schnitt in der Parteiprogrammatik. Die Zukunft der SPD könnte auf lange Sicht die immer bunter werdende Gesellschaft Deutschlands und ein Bruch mit ihrem historischen Erbe sein.

Der Ausstieg aus der großen Koalition in einem Monat, im Herbst oder nach Ende der Legislaturperiode ist gewiss nötig, aber auch das allein würde den Verfall allenfalls verzögern. Die SPD braucht ein neues Projekt, neue Visionen. Denn wer Visionen hat, muss nicht zum Arzt, wie Helmut Schmidt einst meinte, sondern zum Arzt muss die SPD, gerade weil die visionslosen Realo-Erben Schmidts die Partei letztlich in Richtung Grab geführt haben.

Sozialer Gerechtigkeit ist kein Alleinstellungsmerkmal

Die Grünen haben ein Zukunftsthema: den Klima- und Umweltschutz. Die Union wird ihren originären Auftrag nie verlieren: das Bedürfnis der Menschen nach Konservatismus ist immer da. Die FDP hat die Wirtschaft im Blick und offenkundig kein Interesse daran, breitere Bevölkerungsschichten anzusprechen, sonst würde sie ihr Potenzial als eine Bürgerrechtspartei nicht vor die Hunde werfen. Die AfD hat ihre nationalistisch-völkische Klientel, auch die wird es immer geben, und die Linke hat die Aufgabe, den Fokus auf die Abgehängten und Mittellosen in diesem Land zu werfen.

Und damit sind wir mitten in den Problemen der SPD. Die politische Repräsentanz der unteren Bevölkerungsschichten hat sie an die Linkspartei verloren und wird sie ebenso wenig in Gänze zurückbekommen, wie die CDU das AfD-Potenzial nicht mehr vollständig einfangen kann. Beide Kapitel sind geschlossen.

Für was steht die SPD also demnächst? Für soziale Gerechtigkeit? Für Arbeiterrechte? Für soziale Gerechtigkeit stehen alle Parteien – die einen etwas mehr, die anderen etwas weniger. Soziale Gerechtigkeit ist kein USP – kein unique selling point. Nach den verlorenen Wahlen der vergangenen Jahre sollte diese Erkenntnis inzwischen angekommen sein. Soziale Gerechtigkeit wird ein Thema der SPD bleiben, aber sie taugt eben nicht als Alleinstellungsmerkmal.

Der Einsatz für die Arbeiter ist die DNA der SPD

Und was die Arbeiter betrifft, von ihnen gibt es immer weniger, und es werden bald noch weniger sein. Das produzierende Gewerbe nimmt stetig ab. Computer und Maschinen übernehmen die Jobs. Um das einmal zu illustrieren: Anfang der 60er-Jahre waren noch mehr als zwei Drittel der Erwerbstätigen Arbeiter, 2017 sind es laut Statistischem Bundesamt noch gerade mal 18,1 Prozent.

Die Sozialdemokraten hatten in den 150 Jahren ihres Bestehens immer die Arbeiter im Blick. Aus deren Belangen bestand ihre DNA. Ein Abschied von dieser programmatischen Grundausrichtung mag für viele in der Partei unvorstellbar, absurd, abwegig sein, Schmerzen, Leid und Trauer verursachen, und doch ist es die einzige Chance, zu überleben. Es droht der Nokia-Effekt; der einst größte Handyhersteller der Welt ist es nicht mehr, weil er nicht erkannt hat, dass er sich radikal wandeln und Smartphones herstellen muss.

Der SPD drängt sich in dieser Situation ein Thema auf, vor dem alle anderen Parteien Angst haben. Sie besetzen es allenfalls widerwillig, weil sie Angst vor ihrer Stammwählerschaft haben, aber trotzdem ahnen, dass es eine gewisse Notwenigkeit gibt, sich damit zu befassen: die Migrationsgesellschaft – die bunte Gesellschaft, die soziale Vielfalt, das neue Wir – oder wie man diese Entwicklung sonst bezeichnen will.

Migration ist ein Faktor für den Wohlstand

Heute hat bereits ein Fünftel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Demografische Entwicklungen, eine alternde Bevölkerung, Fachkräftemangel, Globalisierungseffekte, Klimawandel etc. werden dafür sorgen, dass dieser Anteil auf Dauer zunehmen wird. Ob man das nun gut findet oder nicht. Selbst Japan hat inzwischen erkannt, dass ohne Migration der Wohlstand nicht zu halten ist.

Die Gestaltung der neuen Einwanderungsgesellschaft Deutschland ist ein USP, der darauf wartet, von einer Partei übernommen zu werden. Dazu gehört, die Zuwanderung zu steuern, sich um Integration und den Ausgleich der Interessen von Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund, Migranten sowie deren Nachkommen zu kümmern.

Hinzu kommt, dass große Teile der deutschen Bevölkerung, insbesondere die Jüngeren, in Sorge vor dem gegenwärtigen rechtspopulistischen und rassistischem Treiben sind. Sie wünschen sich eine politische Kraft, die sich eindeutig gegen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus, Rassismus, gegen Ausgrenzung wegen sexueller Orientierungen oder Behindertenfeindlichkeit positioniert. Als glaubwürdigste Gegner von (Rechts-)Populisten gelten die Grünen, die diese Zuschreibung neben ihrem Kernthema en passant mitnehmen. Aber wen sollen Deutsche ohne Migrationshintergrund wählen, denen die Grünen zu elitär sind?

Noch kann die SPD den Sturz von der Klippe verhindern

So ergibt sich aus den Befürwortern einer offenen und freien Gesellschaft ein riesiges Reservoir an potenziellen Wählerinnen und Wählern aus allen sozialen Schichten. Gewiss würden solche Veränderungen auf erheblichen innerparteilichen Widerstand stoßen. Die Sarrazins dieser Welt haben in der SPD (noch) viele Anhänger. Aber sie sind eine schrumpfende Gruppierung, die man nicht mehr in den Mittelpunkt stellen sollte, vermutlich werden sie über kurz oder lang eh dem Weg eines Guido Reil folgen, der den Sozialdemokraten den Rücken kehrte und sich der AfD anschloss. Radikale Einschnitte führen zu Erschütterungen. Doch wen das Alte an den Rand der Klippe gebracht hat, muss sich eben etwas Neues einfallen lassen. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Nach dem Sturz von der Klippe ist es zu spät.

Allerdings würde die SPD durch eine Neuausrichtung nicht zur Einthemenpartei und sie könnte weiterhin von ihrem großen historischen Erbe zehren. Ihre klassischen Themen würden nicht ausgeklammert. Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt, die Arbeitsbedingungen von Arbeitern wie Angestellten, Rentenfragen, Steuern, Auswirkungen kapitalistischer Politik etc. treffen die offene Gesellschaft nicht weniger. Im Gegenteil: All diese Punkte sind unter Menschen mit Migrationshintergrund oftmals verstärkt anzutreffen.

SPD kann Deutschlands Bildungspolitik prägen

Und man bedenke erst das Thema Bildung. Das harrt ebenfalls seit Langem auf eine Partei, die sich ihr endlich umfassend annimmt. Obwohl fast alle Landtagswahlen vom Thema Bildung geprägt sind oder sogar entschieden werden, hat das trotz aller Phrasen über die Bedeutung von Bildung bis heute erstaunlicherweise noch keine Partei getan.

Die Migrationsgesellschaft explizit in den Vordergrund rücken und Themen Schichten übergreifend und universell anpacken – so könnte das Zukunftskonzept für die deutsche Sozialdemokratie aussehen. Die übliche Vorgehensweise, die eingefleischte SPDler bislang nach Wahlniederlagen stets beschwören, Rückkehr zur Sachpolitik, noch mehr Soziales umsetzen etc., scheinen die Partei jedenfalls nicht retten zu können.

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Welche Partei hat in der Vergangenheit mehr für ihre ehemalige Stammwählerschaft getan als die SPD: Mindestlohn, Rente mit 63, Mietpreisbremse, ElterngeldPlus, BAföG-Erhöhung, gleichgeschlechtliche Ehe, etc. Und ist sie dafür gewählt worden? Nein. Sie hat kontinuierlich an Stimmen verloren.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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