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SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil: "Natürlich gibt es Armut in Deutschland"


SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil
"Natürlich gibt es Armut in Deutschland"

Ein Interview von Jonas Schaible

Aktualisiert am 17.03.2018Lesedauer: 7 Min.
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Lars Klingbeil: Der Generalsekretär muss die strategische Ausrichtung der Partei mitbestimmen. Und sie nach außen vertreten.Vergrößern des Bildes
Lars Klingbeil: Der Generalsekretär muss die strategische Ausrichtung der Partei mitbestimmen. Und sie nach außen vertreten. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Mit 40 Jahren ist Lars Klingbeil einer der wichtigsten Köpfe der SPD: Als Generalsekretär muss er eine Strategie für bessere Jahre entwerfen. Und sie verkaufen. Im Interview erklärt er seine Pläne für eine "Erneuerung" der Partei.

Die Regierung ist erst seit wenigen Tagen vereidigt, schon holpert es: Die Ministerliste der SPD wird kritisiert, bei einem Gesetzesvorhaben scheint die Partei zurückzurudern, Hartz IV ist wieder Thema und aus der Union werden bereits Provokationen lanciert.

Und er muss das alles wieder sortieren.

Lars Klingbeil soll als Chef-Stratege in der Parteizentrale die 20,5-Prozent-SPD neu ausrichten, offener machen, vielfältiger, besser organisiert, digitaler, sichtbarer, einiger und vor allem: Er soll helfen, sie wieder zur Volkspartei werden zu lassen. Während des Interviews in seinem Büro spricht er so beherrscht und verbindlich, als sei das alles ganz einfach.

Ist es natürlich nicht.

Herr Klingbeil, wie genervt sind Sie, wenn Sie das Wort "Erneuerung" hören?

Überhaupt nicht.

Es fällt mir schwer, das zu glauben. So oft, wie davon die Rede ist.

Es ist die wichtigste Aufgabe in den kommenden vier Jahren, die SPD zu modernisieren. Die Regierungsbildung ist abgeschlossen, jetzt kann ich mich voll darauf konzentrieren, das Wort Erneuerung mit Leben zu füllen.

Haben Sie schon eine Vorstellung, wie?

Das Kernstück ist die inhaltliche Erneuerung. Dazu kommt zweitens die organisatorische Modernisierung der Partei. Und drittens eine neue politische Kultur.

Was war denn problematisch an der politischen Kultur der SPD?

Es gab in der Vergangenheit zu viele "Top down"-Entscheidungen. Inhaltliche Diskussionen wurden mit Personalfragen verquickt. Das hat mich genervt und ich bin angetreten, um das zu ändern.

Sind Sie nicht auch das Ergebnis einer "Top down"-Entscheidung, ausgehandelt zwischen Martin Schulz und Stephan Weil?

Ich wurde vom Bundesparteitag gewählt. Natürlich hatte Martin Schulz als Parteichef das Recht, einen Kandidaten vorzuschlagen. Das ist ein demokratisches Verfahren.

Was soll dann künftig anders laufen?

Wir müssen mehr zuhören und die Mitglieder in Entscheidungsprozesse besser einbinden. Dazu werden wir neben der klassischen Ortsvereinsstruktur auch digitale Beteiligungsformate nutzen.

Wie muss sich die Organisation ändern?

Die SPD muss vielfältiger werden. Ich möchte, dass wir mehr junge Menschen, mehr Frauen und mehr Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Strukturen hineinholen und ihnen Verantwortung geben.

Die Gelegenheit war kürzlich da, als es um die Ministerposten ging. Da hat die SPD aber entschieden, die drei Ministerien, die als großer Verhandlungserfolg verkauft wurden, an Männer zu geben. Gab es keine geeigneten Frauen?

Ministerien, die wichtige Zukunftsfragen verantworten, kleinzureden, ist doch Teil des Problems. Das Justizministerium ist ein Verfassungsministerium. Da wird es darum gehen, einem Bundesinnenminister Seehofer etwas entgegenzusetzen. Damit hat Katarina Barley eine der wichtigsten Aufgaben in dieser Regierung.

Also wurde Heiko Maas abgeschoben ins Auswärtige Amt, um Platz zu machen?

Wir haben bei der Ressortbesetzung beraten, welche Person in welches Ministerium passt. Ich glaube, das Ergebnis ist sehr gut geworden.

Es ist eine Binse, dass jedes Ministerium wichtig ist. Mein Eindruck ist: Es ist das Bild entstanden, dass Frauen in die zweite Reihe müssen. Wollen Sie wirklich behaupten, die drei Ministerien, für die die SPD mehrere Stunden Verhandlungen ausgesessen hat, seien nicht von besonderer symbolischer Bedeutung?

Wir haben für diese drei Ministerien hart verhandelt, das stimmt. Aber das Justizministerium, das Familienministerium und das Umweltministerium waren für die SPD ebenfalls sehr wichtig.

Menschen mit Migrationshintergrund sind auch nicht Teil des Kabinetts.

Es stimmt, dass die Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Politik besser werden muss.

Wenn ein Mitglied Sie fragt, bis wann das so weit ist, dann... ?

Wir treiben den Kulturwandel mit vollen Einsatz voran, so gut und so schnell es geht.

Erneuerung ist ja kein Selbstzweck. Das Ziel ist es ja, wieder mehr Menschen für die SPD zu gewinnen. Wen wollen Sie damit ansprechen?

Natürlich wollen wir die Menschen für die SPD zurückgewinnen, die in den letzten Jahren das Vertrauen in die SPD verloren haben. Uns geht es um diejenigen, die jeden zweiten Tag in der Zeitung lesen, dass ihre Arbeit durch Digitalisierung bedroht ist. Die FDP kümmert sich nur um die Gewinner der Digitalisierung. Die SPD muss für alle Menschen Antworten geben, deren Leben sich durch die Digitalisierung verändert.

Eher: ändern wird, oder? Sprechen Sie da nicht zu einer Gruppe, die es so genau noch gar nicht gibt?

Die Menschen erwarten zu Recht, dass die Politik jetzt Antworten gibt und nicht erst in zehn Jahren. Durch die Digitalisierung werden Jobs wegfallen, aber auch neue entstehen. Deshalb brauchen wir ein Recht auf Weiterbildung. Und Ideen, wie mit der Informationsflut umzugehen ist. Die SPD fordert deshalb ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit.

Es gibt ja eine Art von Wahlen, bei denen die SPD erfolgreich ist: Bürgermeisterwahlen in Großstädten. Warum?

Die SPD ist dort stark, wo sie nah an den Menschen und ihren Alltagsproblemen dran ist.

Liegt es nicht eher daran, dass Städter eher der SPD zuneigen als Menschen auf dem Land?

Ich komme selbst aus dem ländlichen Raum in Niedersachsen, da stellt die SPD viele Bürgermeister. Die SPD ist auch in der Fläche gut verankert.

In Ostdeutschland nicht. Steht die Idee noch, dass Sigmar Gabriel Patenschaften für Ortsvereine übernimmt?

Das hat er angekündigt, und das ist auch genau richtig. Wir wissen, dass wir in Ostdeutschland unsere Strukturen stärken müssen. Das gehört zum Erneuerungsprozess dazu.

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Es gab historisch keine starke Sozialdemokratie ohne starke Gewerkschaften. Weil sich beide parallel entwickelt haben. Die Gewerkschaften verlieren Mitglieder, geraten unter Druck von rechts: Haben Sie Pläne, Gewerkschaften zu stärken?

Die SPD hat das Verhältnis zu den Gewerkschaften in den vergangenen Jahren vertieft. Mit Andrea Nahles als Vorsitzender wird die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften nochmal weiter an Fahrt gewinnen. Wir rufen außerdem alle Arbeitnehmer auf, an den Betriebsratswahlen teilzunehmen.

Wer ist künftig dafür zuständig, die Provokationen der Koalitionspartner zu kontern? Andrea Nahles? Sie? Die Kabinettsmitglieder? Die Fraktion?

Andrea Nahles und ich werden gemeinsam die Sichtbarkeit der SPD als eigenständige Partei sicherstellen.

Aber die Kabinettsmitglieder nicht so sehr?

Unsere Ministerinnen und Minister werden vor allem die SPD-Projekte des Koalitionsvertrags umsetzen und damit die Sichtbarkeit der SPD in der Regierung sicherstellen. Und natürlich werden sich Partei, Fraktion und Kabinettsmitglieder eng koordinieren.

Aber war nicht die Idee eine andere: dass die Partei teil-unabhängig von der Regierung agieren kann, um sich von der Union abzugrenzen?

Für die SPD ist wichtig, dass in der Partei offen über die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft diskutiert wird. Darum geht es, nicht um Konflikte mit der Regierung.

Ist es besser, auf Provokationen zu reagieren oder sie zu ignorieren?

Ich denke, dass Horst Seehofer und Jens Spahn die Menschen im Land mit ihren Überschriftenwettbewerben bald auf die Nerven gehen werden. Ich rate beiden, mit der Arbeit anzufangen. Daran werden wir sie messen.

Wir müssen trotzdem kurz über Aussagen der beiden reden: Sind Hartz-IV-Empfänger arm?

Natürlich gibt es Armut in Deutschland. Um das zu erfahren, muss man nur mal ehrenamtlich in einer Tafel mithelfen. Ich habe das schon mehrere Male getan. Dort trifft man Menschen, die aus verschiedensten Gründen von Armut betroffen sind, obwohl sie Grundsicherung bekommen.

Die Regelsätze sind genau berechnet. Wie kann es sein, dass manche arm sind und andere nicht?

Die Lebenssituationen von Menschen sind sehr unterschiedlich. Den besonders von Armut bedrohten Gruppen müssen wir mehr helfen, insbesondere den Kindern und Älteren. Dafür haben wir im Koalitionsvertrag wichtige Projekte wie den sozialen Arbeitsmarkt, die Grundrente und ein großes Paket gegen Kinderarmut beschlossen.

Die Kindergelderhöhung von 25 Euro wird schon mal auf Hartz IV angerechnet.

Um Kinderarmut zu bekämpfen, stärken wir vor allem die Infrastruktur und die Schulen. Wir haben im Koalitionsvertrag ein Schulstarterpaket, Schulmittagessen und zusätzliche Betreuungsangebote vereinbart. Das sind alles Punkte, die helfen, Armut zu bekämpfen.

Olaf Scholz war mal Sozialminister, später Andrea Nahles, kurz Katarina Barley. Die SPD hat Hartz IV beschlossen, dann die Berechnung der Regelsätze kontrolliert: Wenn trotzdem Menschen arm sind, dann hat die SPD versäumt, zu handeln.

Wenn Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland wächst, dann müssen wir das angehen und das tun wir mit dem Koalitionsvertrag auch.

Nächster Aufreger: Gehört der Islam zu Deutschland?

Es leben in Deutschland viele Muslime, die sich einbringen und ein fester Teil unserer Gesellschaft sind. Ich finde es problematisch, dass der neue Heimatminister direkt nach seiner Ernennung anfängt, Menschen auszugrenzen. Mein Verständnis von Heimat ist das nicht.

Ist es nicht ohnehin so: Der Islam ist Teil Deutschlands, das ist eine Tatsache?

Ja, das ist eine reine Symboldebatte. Natürlich gehören Muslime zu Deutschland, ebenso wie Christen oder Menschen, die überhaupt keiner Religion angehören. Wir brauchen keine Ausgrenzungsdebatten in Deutschland, sondern sollten uns darauf konzentrieren, die Herausforderungen bei der Integration anzugehen.

Zu Beginn der Koalition gibt es eine Diskussion um den Paragraphen 219a StGB. Der verbietet es Ärzten, über Abtreibungen zu informieren. Die SPD will ihn abschaffen. Jetzt bremst sie, weil die Union nicht mitzieht. Das wird von vielen als Lavieren empfunden. Warum sagt man nicht klar: Wir halten den Paragraphen für falsch, aber wir können nicht mitstimmen. Sollten wir in vier Jahren eine Mehrheit haben, ändern wir das Gesetz?

Wir wollen als SPD den Frauen helfen, die auf bessere Informationen angewiesen sind. Und wir wollen Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte. Deshalb haben wir einen Antrag eingebracht, nachdem die Union uns gesagt hat, dass sie nicht bereit ist, hier über Verbesserungen zu reden. Mittlerweile ist die Union unter massivem öffentlichen Druck zu dem Schluss gekommen, dass sie nun doch eine gemeinsame Position mit uns entwickeln will. Und jetzt werden wir sehen, ob wir das hinbekommen.

Rechtssicherheit für Ärzte lässt sich nur gesetzlich schaffen. Informationen für Frauen könnte die SPD jetzt schon bereitstellen. Zum Beispiel mit einem Verzeichnis von Arztpraxen, die Abtreibungen vornehmen.

Lassen Sie uns doch mal gemeinsam die Vorschläge von Katarina Barley abwarten.

Von wem können Sie sich strategisch mehr abschauen: von Labour und Jeremy Corbyn oder von En Marche und Emmanuel Macron?

Ich finde beide sehr spannend. Aber es ist kein Geheimnis, dass ich die großen Potentiale der SPD in der Mitte sehe. Die Union wird mit Politikern wie Spahn, Scheuer, Dobrindt oder Söder zukünftig in der Mitte viel Platz lassen.

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