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Deutschlands Verbündeter in Asien: Ein diplomatisches Debakel


Tagesanbruch
Was ist denn da los?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.06.2022Lesedauer: 5 Min.
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Indische Muslime demonstrieren gegen eine Regierungssprecherin, die gegen den Islam gehetzt hat.Vergrößern des Bildes
Indische Muslime demonstrieren gegen eine Regierungssprecherin, die gegen den Islam gehetzt hat. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

ein attraktives Schaufenster ist gut fürs Geschäft: Stilvolle Deko, attraktive Kollektion, ansprechend arrangiert – da geht man doch gerne gleich mal rein. Also Tür auf ... Moment, was ist denn hier los? Drinnen brüllen sich die Leute an? Umgeworfene Kleiderständer, kreischende Verkäufer? Oha. Da drüben kommt schon der Geschäftsführer angelaufen, winkt zu uns herüber, ruft etwas. Man kann ihn kaum verstehen bei dem Getöse. "Gleich wieder alles in Ordnung!", dringt es schließlich zu uns durch, "bitte bleiben Sie, ich bin sofort für Sie da!" Dann wedelt er gebieterisch in Richtung seines Personals. Besonders überzeugend sieht das nicht aus.

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Wenigstens konnten wir einen Blick auf das Namensschildchen des Chefs erhaschen. "Modi, N." steht da. Schnell mal googeln: Narendra Modi, indischer Premierminister, aha, alles klar. Der Mann hat tatsächlich gerade mächtig Stress. Lange hat er an guten Geschäftsbeziehungen gearbeitet, zum Beispiel mit den steinreichen Golfstaaten – und jetzt fliegt ihm das alles um die Ohren. Eine Sprecherin seiner Regierungspartei hat im Fernsehen übel über den Islam und den Propheten Muhammad hergezogen, um es den indischen Muslimen mal so richtig zu zeigen.

Seit der Hasstirade schlittert Indien in ein diplomatisches Debakel. Schärfsten Protest hagelt es von den Regierungen in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Irak, Iran, der Türkei, Kuwait, Indonesien, Jordanien, und das geht noch eine ganze Weile so weiter. Jetzt rudert die Regierung in Delhi eiligst zurück, und aus der Sprecherin ist schleunigst eine Ex-Sprecherin geworden. Der Premier will die Beziehungen so schnell wie möglich reparieren.

Eigentlich ist die Mega-Nation im Begriff, die Gunst der Stunde zu nutzen und ihre internationale Rolle kräftig auszubauen. Indien sei ein zentraler Partner, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Delhi vor wenigen Wochen. Das ist nicht bloß eine freundliche Phrase. Das 21. Jahrhundert wird von den Großmächten USA und China dominiert sein, und Europa muss aufpassen, dass es dabei nicht unter die Räder gerät. Deshalb basteln Politiker und Regierungschefs der EU an einer multipolaren Welt, in der es neben Peking und Washington noch Raum für andere Schwergewichte gibt. In dieser Mission tourte Scholz durch Afrika, aber schon vorher schaute er bei Premier Modi vorbei.

Eine multipolare Welt findet man nämlich auch in Indien wichtig. Mit 1,4 Milliarden Einwohnern bringt das Land ordentlich Gewicht auf die Waagschale. Seit Beginn des Ukraine-Krieges, beim Ringen um Energie und Sanktionen gegen Russland, macht Modi von seinem Einfluss kräftig Gebrauch, hält sich das Geschäft mit Putin offen und lässt sich zugleich von Europäern und Amerikanern hofieren. Ja, Indien ist ein wichtiger Partner. Deutschland hat großes Interesse an guten Beziehungen.

Aber es gibt ein Problem. Nur zu gerne würde man die Episode der Parteisprecherin, die gegen Muslime hetzt, für eine inakzeptable, aber einmalige Entgleisung halten. Wenn man in Europa an Indien denkt, kommen vielen Leuten Bilder von Spiritualität und Toleranz in den Sinn: Hippies in Ashrams, Betende beim Bad im Ganges, Blumengirlanden, so was. Aber Pogrome, rassistische Morde, Hasspredigten? Eher nicht.

Tatsächlich ist unser freundliches Indien-Klischee dringend korrekturbedürftig. Brutale Attacken sind dort alltäglich. Videos davon möchte ich hier nicht verlinken, aber was darauf zu sehen ist, sollten Sie wissen: Selbsternannte Bürgerwehren extremistischer Hindus machen Jagd auf Muslime, die angeblich heilige Kühe geschlachtet haben. Prediger rufen auf offener Bühne zum Töten auf. Lokalpolitiker lassen in muslimischen Vierteln ohne Vorwarnung Straßenzüge wegreißen – ja, tatsächlich, man ist zu Hause, auf einmal kommt ein Bagger, und kurz darauf liegt das Heim in Trümmern. Bei Massenprotesten sterben Demonstranten. Ja, Diskriminierung, Hetzjagden und Gewalt sind in Indien tatsächlich an der Tagesordnung.

Die Partei des Regierungschefs Narendra Modi hat sich den Weg an die Macht gebahnt, indem sie diese Gewalt geschürt hat. Ohne den Hass gäbe es keinen Premier von der BJP. Der Konflikt um eine Moschee, die ein Herrscher vor fast 500 Jahren auf dem Gelände eines noch älteren Hindu-Tempels errichten ließ, machte aus der Partei eines obskuren Oppositionsgrüppchens eine nationale Machtschmiede. Bevor radikale Politiker das Thema entdeckten, hatte sich für die Moschee kaum jemand interessiert. Dann kam die Hetze. Am Ende lag die Moschee in Trümmern, das Land befand sich in Aufruhr, Tausende Menschen waren tot – und die Positionen radikaler Hindus in der Gesellschaft verankert. Aber das ist lange her. Dieser Tage sind dem Premier internationales Ansehen und staatsmännisches Gebaren wichtiger. Zum Treiben der Extremisten schweigt er lieber – und lässt sie gewähren.

Zu den harten Realitäten einer multipolaren Welt gehört, dass man sich seine Partner nicht nach Belieben aussuchen kann. Deshalb führte der Weg des Kanzlers an Delhi nicht vorbei, und deshalb freut sich sein grüner Vizekanzler Robert Habeck über die künftige deutsch-indische Zusammenarbeit bei der Herstellung grünen Wasserstoffs – auch wenn beide sicher wissen, mit wem sie sich da einlassen. Aber die Ampelkoalition hat sich einer ethischen Außenpolitik verschrieben. Deshalb wird sie um unbequeme Gespräche nicht herumkommen, und zwar bald.

Es ist schon wahr, Indien hat ein einladendes Schaufenster. Aber sobald man sich näher umsieht, möchte man den Geschäftsführer sprechen.


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Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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