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Zweiter Weltkrieg: Als die Briten die deutschen Talsperren angriffen


Zweiter Weltkrieg
Als die Briten deutsche Talsperren angriffen

dpa, Stephan Müller, Julian Stratenschulte

Aktualisiert am 14.04.2018Lesedauer: 6 Min.
Möhnesee: Ein Kind steht vor der zerstörten Talsperre.Vergrößern des BildesMöhnesee: Ein Kind steht vor der zerstörten Talsperre. (Quelle: Julian Stratenschulte/dpa)
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Sie nannten es "Operation Züchtigung": 1943 griffen britische Bomber die Möhnetalsperre mit ganz besonderen Waffen an. Und verursachten eine beispiellose Katastrophe.

"Das erste Flugzeug flog so tief, dass ich den Piloten in seiner Kanzel sehen konnte", erinnert sich Karl-Heinz Wilmes. Als in der Nacht auf den 17. Mai 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, die Möhnetalsperre bombardiert wurde, war er kaum fünf Jahre alt. "Wir sind geweckt worden durch den Motorenlärm der Flieger und die Schüsse der Flak. Dann zog ich mir den Trainingsanzug an, und wir sind ab in den Keller. Wir haben alle gezittert. Oma hat den Rosenkranz gebetet, wie das so war bei Luftalarm."

Und doch war dieses Mal vieles anders. Aus dem Kellerfenster sah Wilmes die britischen Lancaster-Bomber. "Dann gab es ein Ballern, irgendwann war Stille. Dann hörte man ein riesendonnerndes Rauschen. Da hat meine Oma gesagt: Jetzt haben sie die Möhne getroffen."

"Operation Züchtigung" sollte die Deutschen erschüttern

Und so war es auch. Dem Angriff der Bomber auf diese Talsperre und weitere Staudämme in Nordrhein-Westfalen und Hessen war eine akribische Planung vorausgegangen. Die Aktion trug den Namen "Operation Chastise" – Operation Züchtigung. Davor gab es Monate der Geheimhaltung und des Trainings für diese eine Nacht, in der Staumauern, etwa an Möhne, Sorpe und Eder, zum Bersten gebracht werden sollten.

Eine Spezialstaffel wurde ins Leben gerufen, Nummer 617. Als Kommandeur Guy Gibson seinen Auftrag erhielt, kannte er das Ziel der Mission noch nicht, schreibt er in seinem Buch "Enemy Coast Ahead". Es ging um Ziele, die als sehr wichtig galten für die Strom- und Wasserversorgung der deutschen Rüstungsindustrie.

133 Männer aus Scampton in Großbritannien machten sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 auf den Weg. An Bord: die unter hohen Sicherheitsvorkehrungen entwickelten "bouncing bombs", Hüpfbomben. Wie ein Stein, den man über den See flitschen lässt, sollten die springenden Rollbomben über das Wasser der Stauseen hüpfen, dann untergehen und in rund zehn Metern Tiefe explodieren.

"Ich traute meinen Augen kaum"

Erst die fünfte abgeworfene Bombe, so wird berichtet, tat genau das an der Möhnetalsperre. "Ich traute meinen Augen kaum. Da war eine etwa 100 Meter breite Lücke in der Mauer, und das Wasser strömte ins Ruhrtal in Richtung des Industriezentrums des deutschen Dritten Reiches", erinnert sich Guy Gibson. "Es war jetzt ganz ruhig, bis auf das Rauschen des Wassers. Wir begannen über Funk zu schreien und haben uns wie Verrückte aufgeführt."

75 Jahre später eint die Zeitzeugen vor allem die Erinnerung an dieses ungewöhnliche Geräusch: das Rauschen. Millionen Kubikmeter Wasser strömten ins Ruhr- und ins Möhnetal. Die Fluten rissen mit, was ihnen im Weg stand. "Da war so viel Unrat auf dem Wasser", beschreibt Josef Rochel, heute 88, aus Möhnesee-Günne das Chaos am Tag danach.

Ein Dreivierteljahrhundert später steht er auf der Staumauer, die Spaziergängern und Freizeitsportlern als Ausflugsziel dient. Seine braune Jacke hält den kalten Wind nur dürftig ab.

Er wohnte mit seinen Eltern im Tal hinter dem Auffangbecken. "Bei uns hinter dem Haus, da hatten wir so einen kleinen Bunker, da waren wir erst drin. Dann sagte Vater aber: 'Hier können wir nicht bleiben. Die greifen die Mauer an!' Und dann sind wir hoch, das Dorf rauf. Und dann hörte man schon das Rauschen. (...) Am Ende lief das Wasser gerade so eben bei uns ins Haus rein."

Unter den Toten waren viele Zwangsarbeiter

So viel Glück wie die Rochels hatten nicht alle. Durch den Angriff und seine Folgen starben über 1.300 Menschen. Die genaue Opferangabe schwankt, sie liegt teils darüber. Etwa weil Menschen vermisst blieben. Außerdem waren unter den Toten auch viele Zwangsarbeiter.

Ein paar Kilometer von der Möhnetalsperre entfernt, in Arnsberg-Neheim, richtete die Flutwelle ihren wohl größten Schaden an. Allein dort starben etwa 700 Menschen, vorwiegend Frauen aus Osteuropa. Sie waren als Zwangsarbeiterinnen in der Rüstungsindustrie beschäftigt, wohnten in einem Arbeitslager in Baracken und konnten nicht mehr rechtzeitig fliehen. Ihre letzte Ruhestätte ist ein Massengrab.

Die Todesanzeigen der Zeitungen von damals lesen sich mitunter fast wie Hohn. Da sind Verstorbene einem "tragischen Geschick" zum Opfer gefallen. "Das war Zensur", meint Michael Gosmann vom Stadtarchiv in Arnsberg zur verklärten, nationalsozialistisch geprägten Darstellung.

"Großartigstes Luftbild des Krieges"

Der britische "Chronicle" sprach von einem "major victory" und nannte den zerstörten Staudamm das "großartigste Luftbild des Krieges". Der "Daily Telegraph" schrieb, dass der Verlust von acht Maschinen samt ihrer Besatzungen durchaus beachtlich sei. Der Erfolg der Operation hätte jedoch gezeigt, dass es das Opfer wert gewesen sei.

Auf deutscher Seite räumte man in der "Westfälischen Landeszeitung" ein, dass der Angriff viele Leben gekostet und "teils erhebliche Schäden" verursacht habe. Doch es hieß auch: "Das Möhne- und Ruhrtal zeigte nach dem Britenangriff unbeugsamen Widerstandswillen."

1943 brauchte Großbritannien Erfolgsmeldungen. Dafür war die "Operation Chastise" wie gemacht. Tapfere Piloten, Flugkunst, die Ingenieurleistung der Bombenbauer – und zwei Talsperren waren zerstört. Allerdings kamen bald Zweifel am Erfolg auf. Auch weil Deutschland nicht so stark getroffen war wie erhofft.

"Unsere Verluste wurden schnell übertüncht"

George "Johnny" Johnson flog die Sorpe-Staumauer an, die, anders als die Talsperren an Eder und Möhne, kaum Schaden nahm. "Unsere Verluste wurden schnell übertüncht und kaum noch erwähnt", schreibt der Pilot in seiner Autobiografie. Immerhin kehrten in dieser Nacht 56 Männer von der Operation nicht zurück, weil sie verunglückt oder abgeschossen worden waren. Das will Johnson nicht vergessen. Er ist aber wütend, dass Historiker den Wert der Mission anzweifelten. "Es wurde vielleicht so etwas wie Mode, Zweifel zu hegen. Der Angriff wurde in Kriegszeiten als Erfolg gewertet, und das ist, was zählt."

Der Effekt auf die Industrieproduktion sei 1943 durch das britische Militär übertrieben dargestellt worden, aber signifikant gewesen, schreibt Johnson. Der Wiederaufbau habe viele Ressourcen beansprucht.

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"Man wollte die Rüstungs- und Waffenindustrie schwächen, weil Wasser gebraucht wird für die Stahlerzeugung", erzählt Stadtarchivar Gosmann. "Aber die Mauer war schnell wieder aufgebaut."

Sie nannten sie "Dammbrecher"

Dass Darstellungen in Kriegszeiten auseinandergehen, überrascht nicht. Schon eher, dass auch Jahrzehnte nach der Bombardierung der Dämme unterschiedliche Sichtweisen existieren. In Deutschland interessiert das Ereignis eher regional. Wer im Umland von Sorpe, Eder und Möhne aufwächst, erfährt früher oder später davon. In der Schule, von der Familie. Aber verglichen mit der Bombardierung Hamburgs oder den Luftangriffen auf Dresden spielt der Angriff auf die Talsperren in der Nachkriegserinnerung eine untergeordnete Rolle.

Anders in Großbritannien: "No. 617 Squadron" erreichte Legendenstatus. "The dambusters", die Dammbrecher. Das ist noch heute ein Begriff. Ein Film wurde 1955 gedreht, Bücher geschrieben, Zeremonien abgehalten. George Johnson, der letzte lebende britische "dambuster", trat 2017 zur Ordensverleihung vor die Queen.

Der britische Historiker Robert Owen von der Gesellschaft der 617. Staffel hält die Geschichte der Möhnekatastrophe auch heute noch für relevant. Weil sie Schülern ermögliche, ein Kriegsereignis aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. "Man kann es durch die Augen der Waffenentwickler sehen, der Flugzeugbesatzungen, der Leute an den Verteidigungsanlagen oder derjenigen, die in den überfluteten Gebieten lebten."

"Immer an alle Toten erinnert"

In dem überschwemmten Gebiet lebte damals Karl-Heinz Wilmes. Der Angriff hat den 79-jährigen ein Leben lang begleitet. Nicht nur emotional. Wilmes, großgewachsen, schlank und mit grauem Haupthaar, spricht strukturiert. Der langjährige Ortsvorsteher von Möhnesee-Günne hat viel nachgeforscht. Für Vorträge und Gedenkveranstaltungen. "Bei Gedenkveranstaltungen habe ich immer an alle Toten erinnert, auch die Flieger, die Zwangs- und Fremdarbeiter, und natürlich besonders die Leute aus Günne."

Militärhistoriker Owen erläutert, dass die Wahrnehmung in Großbritannien lange vom Kinofilm "The Dam Busters" geprägt war, in dem der Fokus auf Erfindergeist und Tapferkeit gelegen habe. Andere Perspektiven rückten erst später ins Bewusstsein.

Durch die Übersetzung des Buchs "Wasserkrieg" von Helmuth Euler etwa lasen Briten Augenzeugenberichte von Menschen am Boden. Auch wenn es 2018 nicht die bestimmende Sicht ist: "Seit etwa 20 Jahren gibt es in Großbritannien eine wachsende Wahrnehmung für die zivilen Opfer der Möhnekatastrophe", berichtet Owen. Er legt Wert darauf, dass 75 Jahre nach dem Angriff nicht gefeiert, sondern des Ereignisses und der Opfer gedacht werde.

"Bei mir hat sich im Bauch alles verkrampft"

Flieger Johnson, heute 96, kehrte an eine der geschichtsträchtigen Stätten zurück. Vor wenigen Jahren spazierte er an der Sorpe entlang, die er selbst bombardiert hatte. Er sprach mit Menschen, die an der Absturzstelle eines britischen Fliegers dem Piloten ein Andenken bewahren, erfuhr mehr von lokalen Opfern. "Eine emotionale Erfahrung", schreibt er in seiner Biografie. Dennoch: "Ich habe damals geglaubt, dass wir etwas tun, um zu helfen, den Krieg zu gewinnen. Und das glaube ich noch heute."

Wenn Karl-Heinz Wilmes aus dem Fenster seines Arbeitszimmers blickt, sieht er – etwa einen Kilometer entfernt – die Möhnetalsperre. Vor fünf Jahren, als sich die Bombennacht zum siebzigsten Mal jährte, hatte eine private Initiative dort Sportflieger organisiert, die übers Wasser flogen und Blumengestecke abwarfen. "Die Mauer, dazu Flugzeuge – da hat sich bei mir im Bauch alles verkrampft", erzählt Wilmes mit der Hand auf dem Magen.

Und so sei es auch anderen Zeitzeugen ergangen. Noch heute haben viele das Rauschen des Wassers im Ohr. Noch heute kann sich Karl-Heinz Wilmes nicht vorstellen, je ins Tal zu ziehen, durch das sich damals die Flut wälzte. "Im unteren Dorf hätte ich nie wohnen können. Ich könnte da keine Nacht ruhig schlafen."

Verwendete Quellen
  • dpa
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