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Sascha Lobo im Interview: "Greta Thunberg ist ein Grund zur Hoffnung"


Autor Sascha Lobo im Gespräch
"Was Greta Thunberg geschafft hat, ist ein Grund zur Hoffnung"

InterviewEin Interview von Jonas Schaible

Aktualisiert am 19.09.2019Lesedauer: 9 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Buchautor Sascha Lobo: "So viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt verrückt spielt." (Archivfoto)Vergrößern des Bildes
Buchautor Sascha Lobo: "So viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt verrückt spielt." (Archivfoto) (Quelle: imago-images-bilder)

China, Migration, Klimakrise: Wie wir die Welt wahrnehmen und wie sie tatsächlich ist, das passt oft nicht zusammen. Autor Sascha Lobo über das Gefühl, dass alles verrückt spielt.

Wenn die Erkenntnis einsetzt, dass etwas ganz anders ist als gedacht, sind wir erst einmal schockiert. Der Berliner Blogger und Strategieberater Sascha Lobo, 44, beschreibt in seinem neuen Buch eine ganze Reihe von Phänomenen, auf die ein Realitätsschock – so auch der Titel des Buches – folgt. Ein Beispiel: Ein Rekordsommer jagt den nächsten, inklusive Dürre, brennenden Wäldern und Hitzetoten: Dass der Klimawandel kein Hirngespinst ist, begreifen mehr und mehr Menschen.

Es ist für manche ein schmerzhafter Prozess, sich Ereignisse wie den Klimakrise einzugestehen. Sascha Lobo sagt aber: Nur wenn man das tut, kann man sich auf die Suche nach Lösungen begeben. Er selbst liefert in seinem Buch allerdings keine, sondern wirft vor allem Fragen auf.

t-online.de: Herr Lobo, Ihr neues Buch handelt von Klima, Rechtsextremismus, Instagram, Rassismus, Trollen, Migration, der afrikanischen Wirtschaft, Chinas Wirtschaft, Künstlicher Intelligenz, Paketboten und Plastik. Mein Eindruck ist: Das alles wird durch Ihren Blick zusammengehalten, aber nicht notwendigerweise durch einen roten Faden.

Sascha Lobo: Der Eindruck ist gar nicht so falsch, von einem roten Faden würde ich selbst nicht sprechen. Ich wollte Phänomene beschreiben, die unsere Gesellschaften bewegen und verändern, und eine Klammer für all das finden. Diese Klammer habe ich im Realitätsschock gefunden.

Was genau meinen Sie damit?

Ein Realitätsschock ist ein Muster gesellschaftlicher Wahrnehmung: die plötzliche, schmerzhafte Erkenntnis, dass etwas ganz anders ist als gedacht.

Und diese Schocks ballen sich gerade?

Absolut. So viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt verrückt spielt, dass sie aus den Fugen ist. Dafür gibt es Gründe. Wir haben eine enorme gesellschaftliche Beschleunigung erreicht und eine Ungleichzeitigkeit. Das ergibt große Probleme besonders dann, wenn man mit veralteten Instrumenten auf die neue Welt schaut – mit dem Blick des 20. Jahrhunderts auf das 21. Jahrhundert.

Ein Schock wird ja von jemandem empfunden: Klimawissenschaftler warnten vor der Klimakrise, von Rassismus Betroffene warnten vor Rassismus. Sie dürften kaum geschockt sein. Wer wird also von der Realität geschockt?

Es geht mir um eine kollektive Wahrnehmung in der Gesellschaft, um das, was man als öffentliche Stimmung bezeichnen könnte. Vor drei Jahren haben die meisten Leute gesagt, der Klimawandel wird irgendwann mal auf uns zukommen. Dieses "Irgendwann" war 2050 und damit außerhalb der persönlichen Lebensspanne der Älteren. Auf einmal kommen Jugendliche und sagen: Dieses "Irgendwann" ist jetzt. Zusammen mit dem wirklich sehr langen, heißen, trockenen Sommer 2018 hat das zu einem Realitätsschock geführt.

Das heißt, der Realitätsschock hat zwei Ebenen: Einerseits geht es um echte, reale Veränderungen – die Erde erwärmt sich, egal, was wir glauben –, andererseits um kollektive Wahrnehmung?

Ja, genau, ich versuche zu erklären, was gerade passiert, und gleichzeitig die gesellschaftliche Wirkung zu bedenken.

Wen wollen Sie damit erreichen – und was?

Ein Publikum, das Interesse daran hat, die Welt in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung besser zu verstehen. Es geht auch um eine Art Übersetzungsleistung für Leute in Deutschland und Europa, die nicht mit der Digitalisierung aufwuchsen. Ältere sind natürlich nicht weniger verständig als Jüngere, aber in einer anderen Epoche geprägt worden. Ich versuche, die komplexen Themen zu zerlegen und mit einer Aufforderung verknüpfen: Wenn man möchte, dass es besser wird, muss man sich die schwierige und manchmal schlimme Realität eingestehen und auf dieser Basis neue Lösungen finden.


Fürchten Sie, dass ein derart raumgreifendes Buch von einigen als anmaßend empfunden werden könnte?

Die Grenze zur ärgerlichen Anmaßung hätte ich wahrscheinlich überschritten, wenn ich einen Bauchladen mit geilen Lösungen angehängt hätte. Davon habe ich abgesehen.

Solche Großanalysen haben das Problem, dass eine extreme gesellschaftliche Pluralisierung, Digitalisierung, wirtschaftliche Globalisierung, Bevölkerungswachstum und die Klimakrise zeitgleich stattfinden – und ihre Einflüsse schwer zu trennen sind.

Das stimmt. Ich untersuche deshalb genau, wie groß jeweils der Anteil von Digitalisierung und Globalisierung an den Realitätsschocks ist ...

… und zwar mal für die Veränderung der Welt und mal für die Veränderung der Wahrnehmung?

Genau. Meistens wird dadurch etwas verwandelt, das in anderer Form längst da war. Migration ist so alt wie die Menschheit, aber sie verändert und beschleunigt sich durch Digitalisierung. So wie das Netz sich immer den Weg sucht, der gerade funktioniert, so tauschen sich Menschen zuerst aus, wo WLAN ist, welcher Grenzübergang gerade offen ist oder wo man nicht weiterkommt.

Gibt es große politische Probleme, die explizit keine Realitätsschocks sind?

Jede Menge. Ich würde sogar zugeben, dass einige Kapitel in das Muster "Realitätsschock" eingepasst sind. Das Kapitel über die Digitalisierung in China und den Aufstieg zur perspektivisch stärksten Wirtschaft zum Beispiel hätte man auch ganz anders formulieren können. Man kann darüber reden, ob das ein Realitätsschock ist oder nicht. Wenn es um Gesundheit geht, habe ich mir damit beholfen, den wahrscheinlich kommenden Realitätsschock zu beschreiben. Das sind, glaube ich, legitime Hilfsmittel, um in einem solchen Buch eine Klammer zu finden, zu der viele Leute sofort einen emotionalen Zugang finden.

Welche Kapitel und damit Phänomene passen denn nahtlos ins Muster?

Völlig zweifelsfrei die Klimakrise. In Deutschland tritt der Schock zwischen Sommer und Spätherbst 2018 ein, was man auch daran erkennt, dass plötzlich die Grünen auf 20 Prozent in Umfragen steigen. Da haben die Menschen gemerkt, oh verdammt, es ist dringend. Es geschieht genau jetzt. Migration passt auch ins Muster, weil es mit dem Jahr 2015 einen Schockmoment für Mitteleuropa gab. Da hatte Wolfgang Schäuble recht: Deutschland hatte auf diese Weise sein Rendezvous mit der Globalisierung. Bei der Integration funktioniert es nicht mehr ganz so nahtlos. Aber die islamistischen Anschläge in Europa ab 2015 in engem Takt passen auch.

Es gab früher Phasen mit ebenso vielen Terroranschlägen und Toten in Europa. Den Schock kann also nicht nur deren schiere Existenz auslösen. Was dann?

Es handelt sich bei den Attentätern in der Mehrzahl um junge Männer, die in Europa geboren und aufgewachsen sind. In den meisten Fällen rutschen sie erst in die Kriminalität ab und machen dann den Schritt zum mörderischen Extremismus. Es ist also eine Integrationsfrage. Das begreifen größere Teile der europäischen Gesellschaften gerade und auch darin sehe ich einen Schock.

Die Formulierung, die Welt sei aus den Fugen, verbreitete sich vor allem in den Jahren 2015 und 2016. Damals war die extreme Rechte noch weniger erfolgreich, Greta Thunberg kannte niemand – dafür trieb die Angst vor weiterer Expansionspolitik durch Russland die Welt um, die beispiellose Regelverachtung des IS, der Putsch in der Türkei, außerdem der Tod vieler Prominenter. Wladimir Putin hält sich zurück, das Kalifat des IS ist zerschlagen, Militärs putschen nicht ständig und Promis sind auch noch am Leben. Das Gefühl ist geblieben.

Die Formulierung der Welt aus den Fugen stammt ja ursprünglich aus einer deutschen Shakespeare-Übersetzung, und es ist der erste Satz des letzten Buchs von Ulrich Beck, das er 2014 schrieb. Eigentlich ist die Welt nicht aus den Fugen, sondern in die Fugen geraten. Wir nehmen wahr, wie sie wirklich ist – überraschend komplex, überraschend wenig kontrollierbar. Das ist die Essenz des Realitätsschocks. Leider hat man angefangen, alles in dieses Muster "aus den Fugen" einzusortieren, auch wenn es nicht passte. Das angebliche Promisterben ist natürlich einfach albern.

Welche Phänomene haben Sie nicht behandelt, obwohl sie einen Realitätsschock darstellen?

Vor allem den Realitätsschock der Geschlechter. Aber ich verdanke viele Ideen dazu meiner Frau, die selber ein Buch schreibt, und ich hätte es schäbig gefunden, ihr zuvorzukommen.

Sie hätten dann um der Erkenntnis willen mit Ihrem Buch warten können.

Hätte ich, aber ich habe eine gewisse Dringlichkeit empfunden, dieses Buch zu schreiben. Die westlichen Gesellschaften erleben immer wieder Schockzustände. Vielleicht kann mein Buch dazu beitragen, dass man sich an eine Neubewertung der Lage traut.

Eines Ihrer Beispiele ist die sogenannte "Fluchtursachenbekämpfung", die nach dem Jahr 2015 zum großen Versprechen wurde. Wie würden Sie die neu bewerten?

Alle Parteien reden davon! Alle! Was absurd ist, weil wir auf Fluchtursachen oft keinen Einfluss haben. Weil außerdem der Glaube verbreitet ist, Entwicklungshilfe würde Migration insgesamt bremsen. Dabei ist es so, dass Migration eher zunimmt, wenn arme Gesellschaften reicher werden, weil sich dann mehr Menschen die vergleichsweise teure Wanderung leisten können. Vor allem reden wir über Ursachen für Flucht, meinen aber eigentlich Ursachen für die Auswahl des Zielorts Europa. Warum jemand loszieht oder losziehen muss, interessiert bei innerafrikanischer Flucht und Migration kaum jemanden. Nur: Die Hauptursache für die Auswahl des Fluchtorts Europa ist Europa selbst. Die einzige Möglichkeit, Flucht nach Europa hundertprozentig zu verhindern, wäre, Europa zu sprengen.

Das Erstarken von extrem rechten Parteien ist aus meiner Perspektive der wichtigste Treiber des Gefühls, die Welt sei aus den Fugen geraten. Wie sähe da Ihre Neubewertung aus?

Der Rechtsruck belegt, dass die liberale Demokratie fragiler ist als gedacht. Da ist für eine Neubewertung zunächst das Eingeständnis nötig, dass es viel mehr Menschen gibt, die eine Rechts-Offenheit mitbringen, als man dachte oder hoffte. Offensichtlich haben viele Menschen kein Problem damit, Rassisten zu wählen, oder wählen sie sogar, weil sie Rassisten sind. Es gibt dieses absurde Zitat von Kurt Biedenkopf …

… der nach der Wiedervereinigung als sächsischer Ministerpräsident mit absoluter Mehrheit regierte und bis heute verehrt wird …

… die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus, sagte er. Viel weiter daneben kann man offensichtlich nicht liegen. Dass die Generation, die das geglaubt hat oder der das eingeredet wurde, jetzt einen Realitätsschock erlebt, ist klar.

Stattdessen hat sich die Metapher von den "Abgehängten" eingebürgert – die nahelegt, man müsse Gleise verlegen und Busse fahren lassen, dann wäre niemand mehr abgehängt. Sie fordern solche Maßnahmen auch. Dagegen spricht nichts, aber ich kenne keinen Beleg dafür, dass man damit rechtsextreme Parteien schwächen könnte.

Ich würde auch nicht allein "WLAN gegen rechts" fordern. So einfach ist es nicht: Die Leute wählen rechts, dafür gibt es einige Gründe, und wenn man die beseitigt, wählen sie vielleicht immer noch rechts. Aber man muss trotzdem Probleme an der Wurzel angehen. Zum Beispiel gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wählerpotenzial rechter Parteien und weiblicher Landflucht. In Weißwasser im Landkreis Görlitz kommen auf 100 Männer 57 Frauen. Die irgendwie übrig gebliebenen, wütenden Männer sind viel leichter erreichbar für rechte Politik. Man weiß, dass gerade Jobs, die oft Frauen machen, früh wegfallen, wenn sich Infrastruktur verschlechtert. Also muss man Infrastruktur verbessern, so oder so.

Wir haben jetzt über Klima, Rechtsruck, Migration geredet, weniger über Künstliche Intelligenz, Gesundheit oder die Neuordnung der Wirtschaft. Ist das symptomatisch? Unterschätzen wir diese Phänomene immer noch?

Ich kann mir vorstellen, dass in den Sphären, die ich beschreibe, noch mal ein Realitätsschock stattfinden kann. Etwa, weil wir immer noch nicht ausreichend würdigen, wie groß die Bedrohung für die liberalen Demokratien ist, wenn China zur mächtigsten Volkswirtschaft wird. Aber nicht umsonst entsprechen die ersten Kapitel des Buches – Klima, Migration, Integration, Rechtsruck – den Themen, die die westlichen Gesellschaften gerade am stärksten verunsichern, wenn ich das richtig beobachte.


Sie bescheinigen der Gesellschaft, in zentralen Fragen mit Illusionen zu leben und jetzt auch noch geschockt zu sein – gleichzeitig setzen Sie große Hoffnung in die Jugend, die in dieser Gesellschaft aufgewachsen ist. Wie kommt das?


Jüngere Leute haben, das ist jedenfalls meine These, diese Realitätsschocks schon produktiv verarbeitet. Der Fluss des Lernens und sogar der Weisheit dreht sich gerade. Die Alten lernen von den Jungen inzwischen in vielen Bereichen, wie die Welt funktioniert. Ich merke das auch an Reaktionen auf meine Thesen: Die Älteren können die Realitätsschocks oft persönlich gut nachvollziehen. Die Jungen sagen eher: Ja, weiß ich. Aber was genau machen wir jetzt?

Ein Grund für Realitätsschocks könnte ja sein, dass man die Vergangenheit verklärt oder sich falsch erinnert. Was macht Sie zuversichtlich, dass sich die heutige Jugend diese Verzerrung durch Nostalgie nicht auch einfängt?

Wenn man sieht, was Greta Thunberg geschafft hat, ist das ein Grund zur Hoffnung. Wenn man die jungen Menschen der Demokratiebewegung in Hongkong sieht, ebenso. Und wenn im Sudan vor allem junge Frauen einen seit Jahrzehnten herrschenden Diktator stürzen, dann ist das ein Grund zur Hoffnung. Natürlich können solche Hoffnungen enttäuscht werden. Aber wenn man schon mal einen einigermaßen stabilen Strohhalm gefunden hat, der auch argumentativ trägt, dann halte ich es für legitim, sich daran festzuhalten. Überragend viele andere Anlässe zur Hoffnung gibt es ja nun auch nicht.

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