Friedrich Merz Ist eines Regierungschefs unwürdig

Probleme anzusprechen, ist richtig und wichtig. Nur: Man muss sie tatsächlich auch aussprechen. Und das tut der Bundeskanzler nicht, wie sich gerade zeigt.
Friedrich Merz hat ein Problem. Sich selbst. Denn Friedrich Merz schafft es regelmäßig, gar nicht mal so unwichtige Themen auf eine Art und Weise zu adressieren, dass anschließend niemand mehr über die Themen an sich spricht, sondern über Friedrich Merz' Art und Weise, Themen zu adressieren. Aktuellstes Beispiel: seine Äußerung zum Stadtbild.

Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz". Mehr zu Nicole Diekmann.
Was genau hat Merz eigentlich gemeint? Darüber rätselt die Republik seit einer Woche. Das darf nicht sein. Erstens ist Sprache ein mächtiges Schwert. Damit muss ein Spitzenpolitiker umgehen können. Und zweitens, ganz konkret, hat Merz' Andeutung spalterische Wirkung in einer ohnehin schon aufgeheizten und polarisierten Zeit. Denn er hat ein rassistisches Narrativ bedient, so eine weit verbreitete Lesart, der ich mich anschließen würde.
Zu behaupten, ein Problem sei sichtbar, signalisiert: Man kann sehen, wer problematisch ist; es sind diejenigen, die anders aussehen als wir. Das ist ausgrenzend, das ist vorverurteilend, und das ist schlicht und einfach falsch. Und eines Regierungschefs unwürdig. Zumal eines Regierungschefs, der gleichzeitig auch Chef einer Partei ist, die das Christliche im Namen trägt und sich (immer verzweifelter) von der in Teilen rechtsextremistischen AfD abzugrenzen versucht.
Jetzt fühlen sich viele bestätigt
Merz' kryptische Äußerung an sich ist also schon hochproblematisch; inhaltlich wie stilistisch. Als aktiver Unwille, sich deutlicher zu positionieren, muss dann aber verstanden werden, was er ebenso undurchsichtig antwortet, als er Tage später auf einer Pressekonferenz nach einer Präzisierung gefragt wird: Wer Töchter hat, solle sie doch mal fragen, was er mit seiner Aussage zum Stadtbild gemeint habe. Da ist das Raunen dann ja anscheinend wirklich Absicht. Da geht es dann wohl darum, möglichst viel Interpretationsspielraum zu lassen, um möglichst viele Leute hinter sich zu versammeln, ohne sich angreifbar zu machen.
Was Merz damit lässt: große Lücken. In die springen Leute, die gar keine Debatte wollen. Auf Social Media ist das bestens zu besichtigen.
Auf der rechten bis rechtsextremistischen Seite fühlen sich nun nicht wenige bestätigt und bemühen das berühmte Jahr 2015, das Jahr der "Flüchtlingskrise". Mit der angeblich erst alle Probleme hierzulande begannen. Wer das glaubt, wer auch schon vorher an den "Der Ausländer ist schuld"-Schwachsinn glaubte, ist entweder recht simpel gestrickt oder einfach dumm oder beides. Nur ist nicht viel klüger, wer glaubt, es gäbe da gar keine Probleme. Denn natürlich sind schlecht oder gar nicht integrierte zugewanderte Jugendliche und Männer eines. EINES. Denn es gibt nicht nur eins. Sondern mehrere. Und man kann nicht nur, sondern man MUSS über mehrere Probleme gleichzeitig reden.
Alles andere als Zufall
Und da sind wir schon bei der nächsten Gruppe. Bei denen, die glauben, ein Problem ließe sich wegreden, indem man betont, es gäbe ja noch ein anderes. Ein größeres. Und damit wieder eine Lücke fabrizieren. Bei denjenigen, die so tun, die Ansprache mehrerer Probleme bedeute automatisch eine Gleichsetzung und entspringe dem Wunsch, etwas zu relativieren.
Ein Beispiel: Das, was Merz wahrscheinlich gemeint hat, sei ja gar nicht das Problem – so reagiert das links-progressive Lager. Sondern häusliche Gewalt. Ein Problem, das mitnichten irgendwas mit Zuwanderung zu tun hat. Keine Frage: Sie ist ein Problem, sie ist sogar ein riesiges Problem. Und ein Beleg für politisches Versagen. Es ist unerträglich, dass der gefährlichste Ort für Frauen das eigene Zuhause ist. Und dass seit Jahren über das sogenannte Spanische Modell (Fußfessel für bereits einschlägig bekannte Täter) diskutiert wird und dass es nicht schon längst Realität ist. Übrigens, sicherlich alles andere als Zufall, dass die CDU nun heute auf Instagram postet, das Spanische Modell komme jetzt. Es kann außerdem nicht sein, denn es ist ein Skandal, dass unsere Regierungen es nicht für nötig gehalten haben, endlich die Anzahl der in Frauenhäusern verfügbaren Plätze zu erhöhen.
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Das ist nicht lächerlich
Weiterhin ist es mir ein absolutes Rätsel, dass der Vorstoß ins Lächerliche gezogen wird, "Catcalling", also anzügliche, oft übergriffige und belästigende Äußerungen im öffentlichen Raum, zu einem Straftatbestand zu machen. Lesen Sie sich mal die hämischen Kommentare dazu auf den sozialen Plattformen durch – die übrigens nicht selten aus dem konservativen Lager kommen. Eine unfassbare Verkennung der Dimension dieser Debatte. Denn anders, als manche suggerieren, geht es nicht darum, Männer anzuzeigen, die Frauen auf der Straße hinterherpfeifen.
Anlass für diese Debatte war ein über 60-Jähriger, der zu einem elfjährigen Mädchen gesagt hat, er würde gern mal an ihre xxx fassen – und dafür nicht strafrechtlich belangt werden konnte. Das Mädchen findet das höchstwahrscheinlich nicht lächerlich. Ich auch nicht, und Sie sicherlich ebenso wenig. Und ich würde behaupten, dass man für diese Beurteilung nicht mal Vater oder Mutter einer Tochter sein muss.
Es gibt keine Maßeinheit für Probleme
All das, ich schreibe das mit dem Höchstmaß an mir in diesem Kontext zur Verfügung stehenden Impulskontrolle, ist eine riesige Scheiße. Und es wäre sehr klug von Friedrich Merz gewesen, das alles mal zu erwähnen, und sich nicht nur auf einen Punkt zu fokussieren und den dann auch noch völlig unseriös und nebulös mit dem Thema "Abschiebung" zu verquicken.
Friedrich Merz ist Bundeskanzler, und als solcher muss er seine Worte wägen. Müssen wir alle. Aber im Gegensatz zum ein oder anderen Social-Media-Scheinriesen sehe ich tatsächlich doch noch einen bedeutenden Unterschied zwischen Reichweite, Schlagkraft und Einfluss der Aussagen des deutschen Regierungschefs und Posts von Rainer746582. Ebenso klug wäre es aber auch anzuerkennen: Es gibt keine Maßeinheit für Probleme, es gibt keine Deutungshoheit, es gibt kein Gegeneinanderausspielen. Es gibt die Möglichkeit, die Gleichzeitigkeit der Dinge anzuerkennen. Dann kann man auch für sich in Anspruch nehmen, es geschickter anzugehen als Merz.
Social Media braucht Polarisierung
Der nun angeblich seine Maske hat fallen lassen – behauptet wiederum eine andere, einschlägig bekannte Gruppe in den sozialen Medien. Denn natürlich springen auch wieder all jene aus den Löchern, die wissen, dass eine Sorte Social-Media-Botschaften zuverlässig super funktioniert: die einfachen. Die einfachen, mit markigen Worten, kombiniert mit einem Schwarz-Weiß-Weltbild, die einem allzu komplizierte Selber-denken-Aufgaben abnehmen. "Friedrich Merz ist rechtsextrem, und ich hab's Euch ja immer schon gesagt!", lautet die Botschaft, die der geneigten Follower- und Kundschaft weismachen soll: Hier verfügt jemand nicht nur über Ahnung, sondern auch über analytische Weitsicht, und er hat nicht mal Angst vor klaren Ansagen.
Dabei muss man doch vielmehr Angst haben vor Differenzierung – zumindest, wenn es einem um die schnelle, messbare Begeisterung oberflächlich scrollender Leute geht, denen eh alles schon viel zu unübersichtlich geworden ist. Denn Abwägen und Nebeneinanderstellen, das belohnt der Algorithmus nicht. Social Media beschleunigt Polarisierung nicht nur – Social Media braucht Polarisierung.
Merz sollte es sich schnell bewusst machen
Das Problem ist nicht, dass Friedrich Merz ein Problem angesprochen hat. Es ist gut, Probleme anzusprechen. Das Problem ist, wie er es getan hat, nämlich: nicht wirklich. Er hat geraunt. Und andere Probleme nicht erwähnt. Ich halte Friedrich Merz nicht für rechtsextrem. Und ich kenne mich ein bisschen mit Rechtsextremismus aus. Ich halte Merz für einen Mann, der wiederholt unterschätzt hat, wie stark er mit solchen Auftritten Rechtsextremen in die Karten spielt – und (!) denjenigen, die ihn gern als Rechtsextremen hinstellen wollen und damit die wirklich Rechtsextremen relativieren. Beides (!) ist problematisch. Und bevor jetzt bei dem ein oder anderen wieder Schnappatmung einsetzt: Ich erwähne beide Konsequenzen, ohne sie zu gewichten. Ich glaube daran, dass Menschen das verstehen.
Merz muss dringend aufhören, solche Lücken zu lassen. Friedrich Merz ist Bundeskanzler. Nicht Bundesrauner. Das sollte er sich bewusst machen. Und zwar schnell.
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