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Berater von Wirtschaftsministerin Reiche mahnen dringende Reformen an


Gremium der Wirtschaftsministerin
Reiches Berater fordern harten Kurswechsel


06.10.2025Lesedauer: 5 Min.
Katherina Reiche (CDU): Der Beraterkreis der Bundeswirtschaftsministerin plädiert in einem neuen Gutachten für eine deutliche Anhebung des Renteneintrittsalters.Vergrößern des Bildes
Katherina Reiche (CDU): Der Beraterkreis der Bundeswirtschaftsministerin plädiert in einem neuen Gutachten unter anderem für eine deutliche Anhebung des Renteneintrittsalters. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)
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Die Berater der Wirtschaftsministerin legen ihr erstes Gutachten vor. Demnach ist Deutschland ein geschwächter Patient, dem mit einer radikalen Therapie wieder auf die Beine geholfen werden muss.

Deutschland steckt nach Ansicht des wissenschaftlichen Beraterkreises von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) in einer tiefen strukturellen Krise. In einem am Montag in Berlin vorgestellten Gutachten fordert das Gremium weitreichende Reformen, um den Standort wieder wettbewerbsfähig zu machen. Dem Kreis gehören die Ökonomen Veronika Grimm, Justus Haucap, Stefan Kolev und Volker Wieland an. Mit ihrer sogenannten "Wachstumsagenda" legen sie erstmals ein Konzept vor, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen verbindet.

Sie beschreiben Deutschland als einen Patienten, der an einer chronischen Wachstumsschwäche leidet. Erst müsse eine ehrliche Diagnose gestellt werden, dann könne die Therapie beginnen – dieses Bild zieht sich durch das Gutachten. Der Patient habe sich von Corona zwar erholt, aber keine Kraft zurückgewonnen. Die Symptome reichten von zu hohen Energiekosten über mangelnde Innovation bis zu einem überlasteten Sozialstaat. Heilung könne nur gelingen, wenn die Gesellschaft selbst bereit sei, sich zu verändern – ein kultureller Wandel, wie ihn die Ökonomen fordern.

Diagnose: Deutschland verliert an Dynamik

"Die deutsche Wirtschaft steckt in einer erheblichen Strukturkrise", heißt es gleich zu Beginn des Gutachtens. Seit 2019 habe das Bruttoinlandsprodukt kaum zugenommen, während die USA um 12 Prozent, Dänemark, die Niederlande und die Schweiz um jeweils rund 9 Prozent gewachsen seien. Das Potenzialwachstum liege nur noch bei 0,3 bis 0,4 Prozent. "Wir haben uns von Corona erholt, aber danach stagniert", sagte Volker Wieland. Deutschland falle im internationalen Vergleich zurück.

Als Hauptgründe nennen die Berater eine seit Jahren stagnierende Produktivität, schwache private Investitionen, eine überbordende Regulierung und hohe Sozialausgaben. Letztere seien stärker gewachsen, als die Wirtschaftsleistung das erlaubt hätte. Vor dem Ukrainekrieg habe der Staat die Friedensdividende genutzt, um die Sozialetats auszuweiten. "Jetzt werden Schulden genutzt, um Löcher zu stopfen, aber das überdeckt nur den Reformbedarf der sozialen Sicherungssysteme", sagte Veronika Grimm.

Deutschlands großer Wettbewerbsnachteil

Grimm nannte die hohen Strompreise einen strukturellen Wettbewerbsnachteil: "Wir werden als Energieimporteur dauerhaft höhere Kosten haben als viele andere Länder – und das wird sich auch mit dem Ausbau der Erneuerbaren kaum ändern." Selbst wenn Strompreise durch Subventionen sinken, bleibe das System teuer, weil Netze und Speicher ausgebaut werden müssten. Haucap ergänzte: "Bei energieintensiven Branchen ist es einfach schwierig, mit den USA oder anderen Staaten mitzuhalten – das ist die Realität."

Veronika Grimm erklärte zudem, Deutschland stecke in einer "Mitteltechnologiefalle". Die Bundesrepublik habe eine große, stark regulierte Industrie, die bestehende Technologien ständig weiterentwickle, aber kaum Raum für Sprunginnovationen lasse. "Wir stärken etablierte Technologien, verlieren aber im Hochtechnologiebereich den Anschluss", sagte Grimm.

Besonders problematisch sei, dass große Konzerne viele Regulierungen sogar befürworteten, weil sie den Wettbewerb abwehrten. Das schade jedoch der gesamten Volkswirtschaft, da kleinere Unternehmen und Start-ups dadurch ausgebremst würden. "Die Vielzahl an Regulierungen bremst gerade jene Sektoren, die für Zukunftstechnologien entscheidend wären", so Grimm.

Industrie schrumpft, Staat wächst

In ihrem Gutachten untersuchen die Ökonomen auch sogenannte Einhörner – Unternehmen mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar. Deutschland ist hier nicht vorn mit dabei: Von weltweit mehr als 1.200 Einhörnern stammen nur 32 aus Deutschland, das sind 2,5 Prozent. Kapital und Talente flössen zu selten in neue, wachstumsstarke Unternehmen und zu oft in bestehende Strukturen. Auch die Vermögensverteilung spiegele das wider: Die meisten deutschen Milliardäre sind Erben, nicht Gründer. Wieland fasste zusammen: "Es fehlt an Dynamik."

Auch der Arbeitsmarkt zeigt die Richtung: Zwischen 2023 und Mitte 2025 gingen in der Industrie rund 200.000 Arbeitsplätze verloren, während in öffentlicher Verwaltung, Gesundheits- und Sozialwesen jeweils über 100.000 neue Stellen entstanden. "Wir sind immer noch ein starkes Industrieland, aber dieser Anteil zahlt nicht mehr auf unser Wachstum ein", sagte Wieland.

Das Gutachten schlägt vier zentrale Reformschwerpunkte vor – eine "Wachstumsagenda" für den von Kanzler Friedrich Merz ausgerufenen Herbst der Reformen.

1. Innovation und Reallokation ermöglichen

Langfristiges Wachstum entstehe nur durch Innovationen und Strukturwandel. "Niemand mag Strukturwandel, weil der wehtut – aber sich nur auf das Vermeiden von Schrumpfen zu fokussieren, ist keine gute Strategie", sagte Stefan Kolev. Investitionen und Arbeitskräfte müssten hin zu hochproduktiven, schnell wachsenden Unternehmen verlagert werden. Kolev verwies darauf, dass wohl viele Ingenieure bei großen Konzernen wie VW oder Porsche ihre Arbeitsplätze verlieren werden, "aber wichtig ist, dass neue industrielle Arbeitsplätze entstehen, wo sie gebraucht werden".

Haucap forderte zugleich einen mentalen Wandel: "Schon in den Schulen wird häufig Antikapitalismus vermittelt, dabei brauchen wir mehr Gründergeist und Leistungsbereitschaft."

2. Gezielte staatliche Investitionen

Neue Verschuldungsspielräume sollten laut Gutachten nur für Zukunftsausgaben genutzt werden – etwa in Infrastruktur, Verteidigung und Forschung. Wieland warnte, dass zusätzliche Staatsausgaben ohne klare Prioritäten "nur kurzfristige Strohfeuer" auslösten. "Wir sehen, dass Kredite heute oft dazu genutzt werden, um Haushaltslöcher zu stopfen oder Sozialausgaben zu finanzieren. Das stärkt aber nicht das Potenzialwachstum", sagte er.

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3. Systematische Deregulierung

Die Wissenschaftler plädieren nicht nur für weniger Bürokratie, sondern für eine echte Deregulierung – also das gezielte Streichen und Vereinfachen von Vorschriften, die wirtschaftliche Aktivität bremsen. "Nicht nur effizientere Bürokratie, sondern weniger Bürokratie", heißt es im Gutachten. Die Ökonomen erinnern an eine Deregulierungskommission aus dem Jahr 1987 unter Kanzler Helmut Kohl, die etwa mit dem Luftverkehr einen ganzen Sektor öffnete und damit Wettbewerb entfacht hätte. Besonders wachstumshemmend seien Regelwerke heute bei Schlüsseltechnologien wie Energie, KI und Biotechnologie.

Grimm forderte weiter: "Der Datenschutz muss innovationsfreundlicher werden – mit einem Opt-out-Modell statt der bisherigen Einwilligungspflicht." Zudem sollten das Lieferkettengesetz, die EU-Taxonomie und die geplante Nachhaltigkeitsrichtlinie CSDDD abgeschafft werden. Haucap sagte dazu: "Wir müssen rigoros aufräumen und systematisch wachstumshemmende Regulierung abbauen."

Video | Wirtschaftsministerin fordert "mehr und länger arbeiten"
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Quelle: t-online

4. Sozialsysteme zukunftsfest machen

Der Anstieg der Sozialausgaben müsse wieder in Einklang mit dem Wirtschaftswachstum gebracht werden. Der Beraterkreis schlägt vor, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln, die Rente ab 63 abzuschaffen und die Pflegestufe 1 zu streichen. Zudem solle stärker auf private Zusatzversicherungen gesetzt werden. Grimm betonte: "Es reicht nicht, den Menschen Mut zuzusprechen – wir müssen ehrlich sagen, dass sich etwas ändern muss."

Als Vorbild nennen die Ökonomen Dänemark. Dort wird das Renteneintrittsalter seit 2006 regelmäßig an die steigende Lebenserwartung angepasst und soll bis 2040 auf 70 Jahre steigen. In Deutschland hingegen gilt ab 2031 eine Regelaltersgrenze von 67 Jahren. Laut Gutachten sei eine deutlich stärkere Dynamik nötig, um das Rentensystem generationengerecht zu halten. "Wir werden mehr arbeiten müssen, wenn wir den Umfang der Sozialversicherungen bewahren wollen, ohne die nachfolgenden Generationen zu überlasten", heißt es im Papier.

Nur gute Stimmung reicht nicht

Die Ökonomen kritisieren, dass in der Politik bislang nicht durchgedrungen sei, wie ernst die Lage sei. "Deutschland hat nicht nur ein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Problem", sagte Haucap. Die Politik dürfe nicht darauf hoffen, dass es ausreiche, positive Stimmung zu verbreiten, damit die Wirtschaft wieder wachse. "Wir brauchen gute Wirtschaft für gute Laune – nicht umgekehrt." Wirtschaftsministerin Reiche habe das Gutachten bereits gesehen, konkrete Konsequenzen blieben aber noch offen.

Wieland formulierte zum Abschluss deutlich, warum die ganze Bevölkerung sich auf Veränderung einstellen müsste: "Wenn jeder in seinem Bullerbü alles schön haben will, ohne Energietrassen und Industrie vor der eigenen Haustür, geht es nicht weiter." Nur mit einem klaren Kurs- und Mentalitätswechsel könne der Patient Deutschland wieder gesunden.

Verwendete Quellen
  • Pressekonferenz des Beraterkreises Wirtschaftspolitik beim BMWE
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und afp
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