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Leben ohne Strom: Auswirkungen der Energiearmut


Leben ohne Strom
Im dunklen Deutschland

Von spiegel-online
05.05.2014Lesedauer: 5 Min.
Nach einer Stromsperre ist die Wohnung nur noch eingeschränkt benutzbarVergrößern des BildesNach einer Stromsperre ist die Wohnung nur noch eingeschränkt benutzbar (Quelle: imago/Starmedia)
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Mehr als 320.000 deutschen Haushalten wird jedes Jahr der Strom abgestellt. Kein Licht, kein warmes Wasser, kein Kühlschrank: Wie fühlt sich so ein Leben an? Ein Betroffener erzählt.

Wenn Sven Vogel früh aufstehen muss, zündet er eine Kerze an und tastet sich ins Bad. Er stellt die Kerze aufs Waschbecken, lässt kaltes Wasser ein, macht Katzenwäsche. Meist schläft er einfach aus, so lange, bis es draußen hell ist.

Seit gut einem Jahr lebt Sven Vogel, der eigentlich anders heißt, ohne Strom. Es gibt in Deutschland viele, denen es so ergeht. Weil die Energiepreise steigen, fallen immer mehr Verbraucher aus der Versorgung. 2012 wurde rund 320.000 Haushalten der Strom abgeklemmt, schreibt die Bundesnetzagentur, gut 10.000 mehr als im Jahr zuvor. Betroffen seien vor allem Geringverdiener.

Verbraucherschützer unterscheiden grob zwei Gruppen. Es gibt die, die normalerweise über die Runden kommen: Rentner, Studenten, Zeitarbeiter. Die plötzlich in eine Lebenskrise geraten, krank werden, sich scheiden lassen, den Job verlieren - und plötzlich reicht das Geld nicht mehr. Und dann gibt es die, die so sind wie Vogel: Geringverdiener, die ihren Alltag kaum noch im Griff haben.

"Ein Zuhause ist das hier nicht"

Es ist hell geworden in Dortmund. Vogel sitzt im Wohnzimmer, in der Couch-Ecke, seinem Schlaf- und Lieblingsplatz. In den anderen Räumen ist er kaum. Im Flur lagern bruchreife Möbel, im Schlafzimmer stehen Müllsäcke voll schmutziger Wäsche. Die Küche nutzt er gar nicht, wozu auch? Vorräte kann er ohne Kühlschrank nicht lagern, Essen ohne Herd nicht kochen. Er hat höchstens mal eine Flasche Billigsprudel da.

Fenster, Fliesen, Heizkörper sind voller Schlieren. Vogel sagt, dass er regelmäßig putze, dass er die Wohnung ohne heißes Wasser aber nicht wirklich sauber bekomme. "Ein Zuhause ist das hier nicht", sagt er. "Mehr so eine Schlafgelegenheit."

Sven Vogel ist 48 Jahre alt, doch er wirkt jünger mit dem abgewetzten Shirt, den sehnigen Armen, den energischen Gesten. Er braucht viel Bestätigung; bekommt er sie nicht, wirkt er rasch verunsichert. Er ist abgemagert, dabei hat er, wie er sagt, zuletzt zehn Kilo zugenommen.

Die Mutter starb, als er zwölf war. Der Vater war ein Trinker und schlug oft zu. Nie hatten sie genug Geld, jahrelang trug Sven dieselben Sachen. Mit 18 ging er zur Armee, bei Schießübungen stellte er sich das Gesicht des Vaters vor. Später wurde er Elektroinstallateur, verlegte Kabel in Büros und Fußballstadien, war stolz, auf eigenen Füßen zu stehen. Doch 2011, bei einem Job im Knastkrankenhaus, knickte er um, fiel von der Leiter. Kreuzbandriss, Knochenabsplitterungen. Er meldete sich arbeitslos. Er sagt, er habe noch heute Schmerzen.

Auf dem Couchtisch stapelt sich Post vom Jugendamt, 9000 Euro Unterhalt für die Älteste, 10.000 für den Jüngsten, noch mehr Schulden. "Wie oft wollt ihr mir das noch schicken?", klagt Vogel. Seine vier Kinder hat er vor zwei Jahren zuletzt gesehen. Manchmal fragen sie, ob sie ihn besuchen können. Er sagt dann ab. "Ich will sie nicht damit konfrontieren, wie tief ich gerade in der Scheiße stecke."

Er steht auf, will los. Meist zieht er sich morgens kurz an, packt Tabak und Handy ein, und dann raus.

Alte Stromschulden

Im Hausflur hängt der Stromkasten für Vogels Wohnung. In ihm stecken drei schwarze Scheiben, die wie normale Sicherungen aussehen, doch man braucht einen Spezialschlüssel, um sie zu entfernen. Den hat nur der Versorger. Er hatte die Sperrsicherungen schon dem Vormieter reingedreht. Vogel war es egal. Er brauchte eine Wohnung. Er war gerade obdachlos.

Als er einzog, bat er den Versorger, die Sperrsicherungen zu entfernen. Die Firma lehnte ab, weil Vogel ihr noch 2506,64 Euro schuldet. Bereits früher hatte sie ihm den Strom abgestellt, zweimal schon.

"Manche Konstruktionen sind lebensgefährlich"

Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, den Stromkasten im Keller anzuzapfen. Immerhin ist er vom Fach. "1,5 Quadrat, fünfadriges Kabel - das geht ganz leicht", sagt Vogel. Er kennt viele, die das so machen. Sein Versorger auch. Allein in Dortmund stehen gut 120 sogenannte Problemhäuser unter Beobachtung. "Das sind Gebäude, deren Bewohner improvisierte Leitungen zum Nachbarhaus spannen", sagt eine Sprecherin. "Manche Konstruktionen sind lebensgefährlich."

Vogel wollte keine krummen Dinger drehen. Er erwog eine legale Lösung: ein Verlängerungskabel durchs Treppenhaus legen und die Steckdose eines Nachbarn anzapfen. Auch das machen viele. Nur, wen im Haus hätte er fragen sollen? Den Drogendealer? Den drogensüchtigen Hausmeister?

Vogel schließt die Haustür, läuft los Richtung Innenstadt, vorbei am Balkan-Shop, an der "Letzten Kneipe vor der Autobahn". Die Fassaden sind vollgesprüht und schwarz von Abgasen. Er läuft mit großen Schritten. Von seiner Fußverletzung, wegen der er angeblich nicht arbeiten kann, ist nichts zu bemerken. Nach 15 Minuten erreicht er seinen Stammladen, den "Brückentreff".

Duschen mit Obdachlosen

"Der lebt ja noch! Datt der noch lebt!", wird er drinnen begrüßt. "Wie geht's?" - "Beschissenen Leuten geht's immer gut", sagt Vogel, steckt das Handy-Ladegerät in die Steckdose und hockt sich an den Tresen. Um ihn sitzen Obdachlose, pokernd, rauchend, im Dämmerschlaf.

Im "Brückentreff" und in anderen sozialen Einrichtungen macht Vogel viel von dem, was andere zu Hause machen. Zweimal die Woche duscht er hier. Er isst hier, schmiert sich Wurst- und Käsebrote für den Rest des Tages. Früher, als er selbst obdachlos war, hat er hier auch seine Wäsche gewaschen. Jetzt, wo es ihm besser geht, geht er in den Waschsalon ein paar Straßen weiter. 6,50 Euro, eine Trommel pro Monat, das meiste Unterwäsche, er hat ohnehin nicht viel Kleidung.

Leben ohne Strom - für Vogel ist es eine Zwischenwelt. Besser als die Straße, besser als die Winternächte im Wartehaus von Gleis 18 am Bahnhof, wo er sich oft auf einer Eisenbank zusammenkrümmte, den Rucksack als Kissen, unter einer dünnen Decke. Doch die belegten Brote, die speckigen Duschen im "Brückentreff", das Stromziehen unterwegs: All das ist noch so wie damals, als der Vermieter ihn aus der Wohnung schmiss, die Freunde ihn hängenließen und er plötzlich obdachlos war.

Es dämmert, doch Vogel will noch nicht heim. Lange läuft er durch die Stadt, ziellos, ruhelos. Dann macht er sich es auf einer Bank bequem, am Rande von Dortmunds Nordmarkt, einem Treffpunkt für Junkies, Trinker, Prostituierte. Hier sitzt er oft, kaut die selbstgeschmierten Brote, trinkt vier, fünf Kaffee, ein Becher 50 Cent. Er sagt, es sei seine Ersatzdroge, seit er nicht mehr an der Flasche hängt.

Wenn das Handy geladen ist, spielt er "Texas Holdem Poker". Rund 16 Millionen virtuelle Dollar hat er auf seinem Account. Einmal gewann er in einer Nacht drei Millionen. "Ich war so stolz", sagt Vogel.

Sudoku im Funzellicht

Für sein Stromproblem hat er jetzt Hilfe. Die Verbraucherzentrale hat mit seinem Versorger einen Deal gemacht. 154 Euro im Monat soll er zahlen, das Jobcenter soll die Abschläge direkt an den Versorger überweisen. Seine Schulden soll Vogel so nach und nach abstottern. Die Caritas will ihn beim Energiesparen beraten, damit er die hohen Abschläge bald drücken kann.

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Am 19. April hatte Vogel einen Termin im Jobcenter. Er sollte Papiere einreichen, damit die Behörde die Überweisung an den Versorger starten kann. Er ist nicht hingegangen. Er sagt, er hat die Papiere nicht.

Es ist tiefe Nacht, als Sven Vogel die Wohnungstür aufschließt. Er setzt sich wieder auf die Couch, zündet eine Kerze an. Draußen vor dem Fenster leuchtet das Logo des Dortmunder Hafens. Manchmal löst er im Funzellicht noch ein Sudoku-Rätsel, meist legt er sich gleich hin.

Das Kabel des Fernsehers steckt schon in der Steckdose. Wenn er wieder Strom hat, will er erst die Wohnung putzen. Dann einkaufen und kochen. Und seine Ex anrufen und sagen, dass sie die Kinder vorbeibringen kann.

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