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Arbeitszeit-Urteil: In manchen Gewerben hat die Arbeitsstunde 80 Minuten


Arbeitszeit-Urteil
In manchen Gewerben hat die Arbeitsstunde 80 Minuten

MeinungEine Kolumne von Ursula Weidenfeld

Aktualisiert am 14.05.2019Lesedauer: 3 Min.
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Ein Angestellter sitzt in einem Büro: Ein aktuelles Urteil hat festgelegt, dass Arbeitgeber die Arbeitszeiten komplett erfassen müssen.Vergrößern des Bildes
Ein Angestellter sitzt in einem Büro: Ein aktuelles Urteil hat festgelegt, dass Arbeitgeber die Arbeitszeiten komplett erfassen müssen. (Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa)

Der Europäische Gerichtshof hat die europäische Arbeitszeitdebatte neu eröffnet. Das ist eine Revolution. Denn er setzt mit diesem Urteil den Vorstellungen einer modernen, flexiblen, selbstbestimmten und motivationsgetriebenen Arbeitszeit enge Grenzen.

Heute Morgen hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Unternehmen die gesamte tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten erfassen müssen. Sie müssen dokumentieren, dass sie die Arbeitszeit (maximal 48 Stunden in der Woche) und die Pausen (mindestens elf Stunden durchgängig am Tag, einmal in der Woche mindestens 24 Stunden) einhalten.

Die Deutsche Bank in Spanien und eine spanische Gewerkschaft hatten sich gestritten. Die Bank hatte argumentiert, es reiche aus, nur die Überstunden zu protokollieren. Die Gewerkschaft verlangte, dass die gesamte Arbeitszeit systematisch erfasst wird. Nur dann könne ein Unternehmen sicherstellen, dass die Beschäftigten die notwendigen Pausen bekommen. Die Gewerkschaft bekam Recht.

Diskussion um die Arbeitszeiterfassung

Eigentlich hatte sich die Diskussion um die Arbeitszeit in den vergangenen Jahren entschärft: Ein Modell dafür lieferte 2018 ausgerechnet die mächtige IG Metall mit ihrem Streik für eine 28-Stunden-Woche. Am Ende stand eine Vereinbarung, nach der bestimmte Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit zeitweise verkürzen dürfen. Eine einheitliche Lösung für alle gab es nicht mehr. Auf diesem Weg bewegen sich auch viele Betriebsparteien, wenn sie mit ihren Arbeitgebern über Arbeitszeitkonten, Weiterbildungszeiten und die Veränderung der Wochenarbeitszeit sprechen.

Das jetzt notwendige Arbeitszeiterfassungsgesetz aber wird das Thema wieder auf die allgemeine Agenda bringen: Koalitionsstreit, Gewerkschaftskundgebungen, Arbeitgeberproteste inbegriffen. Dabei wird sich für den größten Teil der Arbeitnehmer und Beamten in Deutschland kaum etwas ändern. Sie stempeln ohnehin schon. Manche Unternehmen haben Apps, die man auch von zuhause aus nutzen kann. Die tägliche Arbeitszeit ist erfasst, die Pausen sind aufgeschrieben, Überstunden landen auf dem Arbeitszeitkonto, Fehlzeiten werden protokolliert.

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Für wen das Urteil erhebliche Folgen hätte

Für zwei Gruppen von Beschäftigten aber ist das Urteil von überragender Bedeutung: für die sehr gut bezahlten und für die ganz schlecht entlohnten Arbeitnehmer. Viele gut bezahlte Angestellte arbeiten selbstverständlich in der sogenannten Vertrauensarbeitszeit. Wichtig ist, dass die Arbeit gemacht wird. Ob ein Arbeitnehmer in einer Woche sehr viel arbeitet, und dafür in der nächsten Woche Pause macht, interessiert im Idealfall niemanden.

Dass auch mal eine Nacht durchgeschuftet wird, gehört bisher zur Jobbeschreibung. Ebenso die Erwartung, dass Mails jederzeit beantwortet und Anrufe auch abends entgegengenommen werden. Der Europäische Gerichtshof hat verfügt, dass auch diese Arbeitszeit ordnungsgemäß erfasst werden muss.

Auch die Niedriglohnbranche wird sich verändern

Daneben wird sich aber auch das Arbeiten in einigen Niedriglohnbranchen fundamental verändern: Die Unternehmen halten sich hier zwar offiziell an die gesetzlichen Arbeitszeitregeln und zahlen den Mindestlohn, die meisten von ihnen tun das sehr korrekt. Doch weil die tägliche Arbeitszeit bisher nicht systematisch erfasst werden muss, hat die Arbeitsstunde im Reinigungsgewerbe, bei Taxi- und Mietwagenchauffeuren, in Hotels und Gaststätten oder bei den Paketdiensten gelegentlich auch schon mal 80 Minuten. Wenn die tägliche Arbeitszeit exakt dokumentiert werden muss, geht das nicht mehr.

Vielleicht werden diese Beschäftigten künftig korrekt bezahlt. Das wäre ein Fortschritt. Möglicherweise aber werden hier demnächst eher Maschinen und Roboter zum Einsatz kommen: Die haben keine Stempelkarte und können jederzeit putzen, spülen oder Rasenmähen.

Nun ist das Arbeitsministerium gefragt

Auch für die Digital- und Wissensökonomie hätte die systematische tägliche Arbeitszeiterfassung nicht nur Sonnenseiten: Die Begeisterung für eine Aufgabe, die Hingabe an ein Thema, der Ehrgeiz, eine Sache schnell und gut zu Ende zu bringen, könnten erheblich leiden. Doch der technische und wissenschaftliche Fortschritt, der Erfolg neu gegründeter Unternehmen, die Leistung überragender Teams beruhen ganz wesentlich auf einer außerordentlichen Motivation.

Den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs Rechnung zu tragen, ohne die Arbeitsplätze der Geringqualifizierten und die Grundbedingungen des volkswirtschaftlichen Erfolgs zu riskieren, ist nun die Aufgabe des Bundesarbeitsministeriums. Hier muss in den kommenden Monaten und Jahren das nationale Gesetz formuliert und verhandelt werden, das den Schutz der Beschäftigten sicherstellt, ohne den Erfolg der Volkswirtschaft zu gefährden.

Das ist kein leichter Job. Er verlangt außerordentliche Motivation, umfassende Information und überragenden politischen Ehrgeiz – und wahrscheinlich auch die Bereitschaft, auch mal nachts zu arbeiten.

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