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Coronavirus – Virologe Streeck: Kann zweite Welle in Deutschland nicht erkennen


"Ich kann nicht erkennen, dass wir jetzt in einer zweiten Welle sind"

  • Melanie Rannow
Von Nicole Sagener, Melanie Rannow

Aktualisiert am 05.08.2020Lesedauer: 7 Min.
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Prof. Dr. med. Hendrik Streeck: Er ist Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik in Bonn.Vergrößern des Bildes
Prof. Dr. med. Hendrik Streeck: Er ist Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik in Bonn. (Quelle: privat/Andreas Zitt)

Der Virologe Hendrik Streeck plädiert für mehr Gelassenheit im Umgang mit Corona. Im Interview spricht er über Pflichttests für Reisende, die neue Heinsberg-Studie und seine Idee einer Eingreiftruppe für Infektionskrankheiten.

Professor Hendrik Streeck zählt zu den führenden Corona-Experten in Deutschland. Der Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik in Bonn leitet die Heinsberg-Studie, die im Frühjahr für Aufsehen sorgte und nun in einem zweiten Teil fortgesetzt wird. Im Interview mit t-online.de spricht der Virologe über seine Forschung und die aktuellen Entwicklungen in der Corona-Pandemie.

t-online.de: Professor Streeck, Sie fahren jetzt in den Urlaub, trauen Sie sich in den Flieger?

Hendrik Streeck: Ich wäre eigentlich in den USA für die Welt-Aids-Konferenz gewesen, und hätte dann dort Urlaub gemacht. Jetzt fahre ich mit dem Auto an die deutsche Küste – auch, weil ich im Notfall schneller wieder zurück in Bonn wäre. Ich meide aber nicht grundsätzlich Flüge.

Die zunehmende Reisetätigkeit lässt die Zahlen vielerorts wieder steigen. Kommen die Pflichttests für Reiserückkehrer Ihrer Meinung nach zu spät?

Fakt ist, dass man unter Reiserückkehrern Infizierte entdeckt hat. Dennoch ist es schwer, ein bestimmtes Vorgehen zu fordern. Ich bin skeptisch gegenüber Pflichttests. Wahrscheinlich ist, dass man viele am Flughafen getestete Reisende gar nicht als infiziert identifizieren kann, weil sie noch in der Inkubationszeit sind. Wenn sie sich in den letzten vier Tagen infiziert haben, wird man das wahrscheinlich nicht nachweisen können, derjenige wäre aber mit einem negativen Testergebnis quasi "freigetestet". Hinzu kommt das Risiko von falsch-positiven Ergebnissen. Je mehr Menschen auch aus Nichtrisikogebieten getestet werden, desto höher würde die Rate.

Außerdem bleibt die Ressourcenfrage. Damit meine ich nicht nur das Geld, sondern etwa die nötigen Maschinen und die Reagenzien. In einigen Bereichen kann man die Testkapazitäten nicht unendlich hochfahren. Letztlich fehlen dafür auch Maschinen, die das Verfahren automatisieren – die entsprechenden Pipettierroboter haben zurzeit eine sehr lange Lieferzeit. Wir sollten schauen, dass wir diese Kapazitäten für den Herbst zurückhalten und testen, wenn es nötig ist.

Sie vermuten einen Anstieg der Neuinfektionen im Herbst – warum? Und ab wann würden Sie von einer zweiten Welle sprechen?

Tatsächlich ist der Begriff "zweite Welle" kein epidemiologischer Begriff, sondern er entstand während der Spanischen Grippe, die nach einem ersten Infektionsschub im Herbst mit voller Wucht wiederkehrte.

Ich finde daher den Begriff der "Dauerwelle" passender. Die Infektionen verschwinden ja nicht, sondern wir werden lernen müssen, das Virus in unseren Alltag zu integrieren. Wie bei anderen Coronaviren auch, werden wir immer im Sommer einen Rückgang der Infektionen sehen, im Frühjahr, Herbst und Winter eine Zunahme. Ich kann nicht erkennen, dass wir jetzt in einer zweiten Welle sind. Von einigen plötzlichen Ausreißern abgesehen gibt es gerade keinen deutlichen Anstieg, und einen Anstieg wie derzeit in Spanien sehe ich in Deutschland auch gerade nicht kommen.

Dennoch: Die Infektionszahlen steigen in Deutschland wieder. Gleichzeitig ist bei vielen Menschen eine gewisse Sorglosigkeit zu beobachten – Stichwort Zweifel an der Maskenpflicht oder auch Corona-Partys. Wie geht man damit um?

Ich glaube, man sollte den Menschen an die Hand geben, dass sie achtsam sein müssen, aber trotzdem ein Stück weit das tun dürfen, was ihnen wichtig ist. Statt mit dem erhobenen Zeigefinger Dinge zu verbieten, müssen wir vielmehr nach pragmatischen Ansätzen suchen. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, alle Infektionen vermeiden zu wollen. Dies wird nicht möglich sein. Gleichzeitig müssen wir Konzepte entwickeln, dass wir Veranstaltungen zulassen, ohne dass sie Superspreading-Events werden.

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Es gibt mehrere Anläufe, wie man trotz der Pandemie Großveranstaltungen zulassen könnte. Können Sie sich noch in diesem Jahr Massenveranstaltungen vorstellen?

Wie gesagt, wir müssen anfangen, mit dem Virus als Teil unseres Alltags zu leben und fragen, wie dieses Leben aussehen kann. Wir werden das Coronavirus wahrscheinlich nicht mehr loswerden und werden nicht jede Infektion vermeiden können – nicht in einem halben Jahr und nicht in einem Jahr. Wenn Veranstalter Konzepte haben, muss man diese prüfen, und letztlich zu Lösungen kommen, wie etwas geht, und nicht nur sagen, wie etwas nicht geht. Wir alle müssen wieder einen Teil dieser Realität zurückgewinnen.

Deutschlandweit öffnen jetzt die Schulen wieder. Manche Experten äußern weiterhin die Sorge, dass Schulen zu neuen Hotspots werden könnten. Wie ist Ihre Meinung?

Viele Menschen sind froh, dass die Kinder wieder in die Schulen gehen dürfen. Ich kann aber auch Eltern verstehen, die noch Angst haben. Allerdings gab es etwa in Holland, wo man Kitas mit insgesamt 300.000 bis 400.000 Kindern schon vor vielen Monaten wieder geöffnet hat, keinen einzigen Ausbruch. Auch mehrere Studien aus Deutschland zeigen, dass Kinder entweder gleich infektiös sind wie Erwachsene, oder weniger. Die Mehrzahl zeigt sogar, dass Kinder weniger ansteckend sind. Damit ist virologisch erst einmal alles dazu gesagt, weil es zum jetzigen Zeitpunkt keine Studien mit anderen Erkenntnissen gibt.

Die Heinsberg-Studie unter Ihrer Leitung wird fortgesetzt. Wann soll sie starten und wollen Sie auch diesmal Zwischenergebnisse veröffentlichen?

Die Studie sollte bereits im Juli losgehen, allerdings hat es sich ein bisschen verzögert, sodass wir Mitte August hoffentlich loslegen können. Alle drei Monate wollen wir nach Gangelt gehen, um zu verstehen, wie sich das Infektionsgeschehen dort verhält und vor allem, um die Immunität abschätzen zu können. Wir planen, Zwischenergebnisse zu veröffentlichen, denn wir forschen ja innerhalb einer Pandemie. Jedes Wissen, was man auch kurzfristig kommunizieren kann, kann wichtig sein. Diesmal haben wir die Studie strukturell anders aufgebaut. Es gibt etwa einen längeren Zeitraum, in dem wir die freiwilligen Teilnehmer untersuchen. Ich kann also nicht sagen, wann wir Zwischenergebnisse haben werden, aber wir werden sie haben.

Die neue Studie soll auch die Immunität genauer untersuchen. Man weiß inzwischen, dass der erste Covid-19-Patient aus Deutschland schon drei Monate nach der Infektion keine neutralisierenden Antikörper mehr hatte. Sie vermuten aber, dass die mutmaßliche Teilimmunität im Kreis Heinsberg das Infektionsgeschehen verlangsamen wird. Warum?

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Da gibt es mehrere Punkte: Erstens kann man nicht von einem einzelnen Patienten auf alle schließen. Der einzelne Patient hatte – soweit ich weiß – auch keine Symptome, also einen sehr milden Verlauf. Wir wissen: Je mehr Symptome man hat, desto stärker ist meistens die Immunantwort.

Zweitens sehen wir, dass nach jeder Expansion von Antikörpern immer auch eine Verringerung der Antikörperanzahl folgt. Ich hätte also bei diesem Fall nicht primär auf die Antikörper geschaut, sondern, ob das Blutserum selbst noch neutralisierend wirkt. Denn es gibt B-Zellen, die ein Gedächtnis für den Erreger haben, die im Fall einer Neuinfektion die nötige Antikörperproduktion wieder ankurbeln.

Der dritte Punkt: Auch wenn der Patient wider Erwarten keine Antikörper mehr hätte, hat er wahrscheinlich noch eine T-Zell-Antwort. Eigentlich schützen T-Zell-Antworten primär nicht vor der Infektion, sondern entscheiden über die Schwere einer Erkrankung. Aber vor ein paar Tagen kam ein neues „Nature“-Paper heraus, das sagt, T-Zellen schützen sogar vor einer Infektion.

Ich glaube daher, dass es eine Immunität – oder zumindest eine Teilimmunität – geben wird. Wir kennen das von anderen Coronaviren. Da sehen wir, dass man vielleicht für ein oder zwei Jahre – so genau ist das bislang nicht erforscht – eine schützende Immunität hat und danach eine Teilimmunität einsetzt. Man kann sich trotzdem erneut infizieren, aber der Verlauf ist dann nicht mehr so schlimm. Deswegen gehe ich davon aus, dass wir in der Gruppe der Infizierten weniger Infektionen sehen werden.

Sie wollen auch das Infektionsgeschehen in Familien untersuchen. Die Ergebnisse Ihrer ersten Heinsberg-Studie zeigen, dass das Risiko, sich zu Hause mit dem Coronavirus anzustecken, eher gering ist. Hat Sie das verwundert?

Ich habe tatsächlich gedacht, es wäre in Familien höher. Aber wenn man sich das Infektionsgeschehen für andere respiratorische Viren wie Grippe, SARS oder MERS anschaut, erkennt man, dass dort die Ergebnisse vom Clustereffekt in den Familien zwischen 14 und 15 Prozent schwanken. Das ist relativ stabil für diese Arten von Viren. Anders verhält es sich etwa bei unbehüllten Viren wie Noro- oder Rotaviren, die Brechdurchfälle auslösen. Wenn da eine Person infiziert ist, erkrankt meist die gesamte Familie. Das sind Beispiele für typische Schmierinfektionen, die das auslösen.

In der ersten Heinsberg-Studie haben wir gezeigt, dass es bei Kindern doch einen höheren Clustereffekt gibt, wenn ein Kind infiziert war. Dieses Wissen wollen wir nutzen, um das Infektionsgeschehen bei Kindern und in Familien weiter zu untersuchen. In der neuen Studie wollen wir die Anzahl der Kinder erhöhen, um auch zu verstehen, ob die bevorstehenden Schulöffnungen, gerade auch im Kreis Heinsberg, einen Effekt auf die Familien haben oder nicht.

Sie fordern eine "Eingreiftruppe für Infektionskrankheiten" in Deutschland. Welche Aufgaben und welche Möglichkeiten sollte sie haben?

Wenn es einen lokalen Ausbruch gibt, kommt es jedes Mal zu einer lokalen Hektik. Die jeweiligen Gesundheitsämter und Behörden versuchen so gut es geht, die Infektionen einzudämmen, die Infektionsketten nachzuverfolgen und schnell die Tests hochzufahren. Keines der Gesundheitsämter, das damit konfrontiert wird, hat so etwas zuvor gemacht. Ich weiß aus Erfahrung, dass jedes Gesundheitsamt so viel Wissen und Erfahrung sammelt – wie eine Übertragung aussehen kann, wer sich vielleicht noch infiziert haben könnte oder wo es eher zu einem Ausbruch hätte kommen können.

Es ist wichtig, dass dieses Wissen gebündelt wird und immer die gleiche Gruppe die Erkenntnisse zusammenführt und weiß, wie man damit umgeht. Bei einem Feuer ruft man die Feuerwehr und bei einem Ausbruch eben die Eingreiftruppe. Diese würde das Infektionsgeschehen erstmal erfassen und eindämmen, Infektionsketten nachverfolgen und Maßnahmen wie die Versorgung der isolierten Personen übernehmen.

Und welche Berufsgruppen sollten daran beteiligt sein?

Ich stelle mir vor, dass eine solche Eingreiftruppe aus Ärzten und Hygienikern besteht. Auf der anderen Seite müssen Pfleger und Hilfskräfte, zum Beispiel des Technischen Hilfswerks, dabei sein. Die ganze Logistik mit Testsystemen, Abstrichsystemen und Schutzkleidung muss vorhanden sein – und auch ein Labor, das die Tests übernimmt, muss daran angeschlossen werden.

Die Eingreiftruppe könnte zum Beispiel an das Robert Koch-Institut (RKI) angeheftet sein, oder vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) oder Bayerischen Roten Kreuz (BRK) übernommen werden. Das sind Organisationen, die sowieso oft hinzugerufen werden. Wenn man diese Strukturen stärkt, kann unsere Gesellschaft generell souveräner mit einem Ausbruch umgehen. Man muss dann keine Angst haben, sondern weiß, dass es Experten für diese Situation gibt.

Gibt es denn schon konkrete Gespräche über eine solche Eingreiftruppe?

Ja. Ich habe bereits mit einigen Gruppen gesprochen und einige der genannten Organisationen denken das auch schon an.

Vielen Dank für das Gespräch!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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