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Kolumne: Der ganz normale Wahnsinn


Kolumne "Der ganz normale Wahnsinn"
Die Wahrheit glaubt einem eh keiner

MeinungLarissa Koch

Aktualisiert am 30.11.2017Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Frau rennt mit LaptopVergrößern des Bildes
Jeden Morgen Rennen: Der Alltag von Eltern. (Quelle: CreativaImages/Thinkstock by Getty-Images-bilder)

"Chef, ich bin zu spät – weil mein Sohn keine Unterhose anziehen wollte!" Ganz genau so war es. Könnte ich ja meinem Chef auch so sagen. Es ist schließlich die Wahrheit. Aber nein, ich erzähle irgendeine erdachte Story über höhere Gewalt.

Oder ich behaupte, meine Fahrradkette sei rausgesprungen (Warum sind meine Hände dann nicht schwarz? Unglaubwürdig!), dass die S-Bahn mal wieder ausfiel, ich mein Handy vergessen hätte oder was weiß ich. Aber die Wahrheit? NEIN! Alles, nur nicht das!

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Ich betrete eiligst, noch in voller Montur und Laptop in der einen, Kaffee in der anderen Hand, die morgendliche Redaktionskonferenz mit einer Sorry-dass-ich-zu-spät-bin-ich-kann-aber-nichts-dafür-Miene und sage: "Tut mir leid, aber mein Sohn wollte heute partout keine Unterhose anziehen. Deshalb kam ich einfach nicht weg." Die Replik meines Chefs folgt prompt: "Ach so, klar. War bei mir ähnlich. Meine Frau wollte ohne BH aus dem Haus. Gab 'nen Riesenstreit. Zack, waren 15 Minuten rum. Ich war auch zu spät."

Aufatmen. Erleichtert lasse ich mich in den Stuhl fallen, die Truppe grinst, alle nicken verständnisvoll und weiter geht's im Text. "Also, was machen wir heute mit Seehofer?", fädelt sich mein Chef wieder in die Agenda ein.

Höchste Geheimhaltungsstufe

Ja, so könnte es laufen. So müsste es laufen. Stattdessen: Höchste Geheimhaltungsstufe! Das kann man doch niemandem erzählen, schon gar nicht dem Chef. Mein Sohn wollte keine Unterhose anziehen – ist doch nicht normal!!! Hat die ihre Sprösslinge nicht im Griff?! Rollaugen.

Die Wahrheiten des morgendlichen kräftezehrenden und nervenaufreibenden Kinder-in-die-Spur-Schickens werden einfach totgeschwiegen. Will keiner wissen. Können sich die meisten Nicht-Eltern auch überhaupt nicht vorstellen.

Es war wie folgt: Der morgendliche Sicherheitspuffer war bereits restlos aufgebraucht. Keine Zeit mehr für nichts. Ich sah mich bereits in Gedanken wieder mal zur Schule RENNEN, dabei Anfeuerungsrufe zu einem Kind auf dem Fahrrad vor mir und einem Kind auf dem Fahrrad hinter mir absondernd.

Eine extra lange Haarentwirrungsmaßnahme auf dem Haupt meiner Tochter hatte das ohnehin knappe Zeitkonto gesprengt. Ich bekam dabei schreckliche Scherensehnsucht – ein mir bislang unbekanntes Phänomen.

"Nein, ich will die anbehalten!"

Mein fünfjähriger Sohn war gerade im Begriff, sich seine Hose anzuziehen, aber ich rief: "Halt! Neben dir liegt die FRISCHE Unterhose, zieh die bitte auch an!" "Nein, Mama ich will nicht!", jault er mir entgegen. "Ach Julius, was soll denn das?! Nun mach schon! Man zieht jeden Tag 'ne frische Unterhose an!" "Nein, ich will die hier anbehalten!", quengelte er. Ich setze erneut an und betonte: "Julius, man STINKT, wenn man keine neue Unterhose anzieht!"

Blick auf die Uhr. Shit! Das wird nichts mehr. "Aber das ist soooo anstrengend!", jammerte er mir entgegen. Anstrengend?! Ich verstand die Welt nicht mehr! "Ok, wenn das so 'anstrengend' ist, dann helfe ich dir halt!" sage ich, schnappte mir bereits sehr ungehalten die Unterhose und wollte ihm die alte abstreifen. "Neiiin! Ich will die anbehalten!", schrie er wieder, machte sich dabei ganz steif und presste die Beine zusammen. "Julius, wir müssen los!!! Ich muss der Kita dann sagen, dass du keine frische Unterhose anhast.", sagte ich verzweifelt um eine Lösung ringend und dachte: Jetzt hab ich ihn! "Neiiiin, nicht Bescheid sagen!", schrie er und brach dabei in Tränen aus. Ich, geplagt von Gewissensbissen, musste ihn erst mal trösten und versprach, nichts zu sagen.

"Aber dann zieh jetzt bitte einfach die frische Unterhose an! Biiiiittttte!", sagte ich mit bereits aufeinandergepressten Zähnen. Er ignorierte mein Flehen, zog stoisch seine Jeans über die getragene Unterhose. Ich schaute weg, so als hätte ich es nicht gesehen und sah verzweifelt auf die Uhr, gab auf, ließ ihn in seiner ollen Unterhose losgehen. Ist mir doch egal, dachte ich. Hätten wir auch gleich so machen können! Jetzt hatten wir 'nen viertelstündigen Unterhosendialog geführt, gänzlich ohne Erfolg!!!

Die Lehrerin schaut mich leicht vorwurfsvoll an

Ich hetze die beiden aus dem Haus. Im letzten Moment erreichen wir die Schule. Es klingelt schon, als ich meine Tochter in die Klasse schiebe. Die Lehrerin sieht mich leicht vorwurfsvoll an. Ich bin maximal geladen und will ihr und allen anderen zurufen: "Mein Sohn wollte keine frische Unterhose anziehen, verdammt noch mal!!! Versteht das denn keiner?!" Stattdessen aber setze ich ein provisorisches Lächeln auf, hetze weiter zur Kita und dann in die Redaktion. Das Lächeln bröckelt, ich ziehe es wieder glatt, schleiche mich in die Sitzung und versuche, meine Unzuverlässigkeit mit einer klugen Frage zu kompensieren: "Hat Seehofer eigentlich Kinder?" und schaue dabei in völlig irritierte Gesichter…

Larissa Koch ist Redakteurin bei t-online.de und hat zwei Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren. In ihrer Kolumne "Der ganz normale Wahnsinn" beschreibt sie regelmäßig, was Eltern durchmachen müssen oder dürfen – je nachdem.

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