Debatte um Rapper-Doku Das Gegenteil von Bildung

Der Offenbacher Rapper Haftbefehl ist derzeit aufgrund einer Netflix-Doku in den Schlagzeilen. Seine Geschichte sollte auch im Unterricht Thema sein, meint unser Kolumnist.
Das Internet ist aktuell voll davon: Ausschnitte aus der neuen Netflix-Doku "Babo – Die Haftbefehl-Story" über das Leben des Rappers Haftbefehl finden sich auf TikTok, Instagram und YouTube. Sie zeigen nicht nur seine Karriere, sondern auch seinen Absturz – Drogen, psychische Krisen, ein Leben am Abgrund. Besonders eine Szene bleibt hängen: Aykut Anhan, wie der Rapper mit bürgerlichem Namen heißt, versucht, seine inneren Dämonen zu vertreiben.
Inmitten von Reaktionsvideos, Memes und Rezensionen ist eine Debatte um Herkunft, Aufstieg und soziale Chancen in Deutschland entbrannt. Und um die Frage: Warum sollte die Geschichte dieses Mannes nicht auch im Klassenzimmer eine Rolle spielen?

Zur Person
Bob Blume ist Lehrer, Bildungsinfluencer und Podcaster. Er schreibt Bücher zur Bildung im 21. Jahrhundert und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam. In seiner Kolumne für t-online kommentiert er aktuelle Bildungsthemen mit spitzer Feder. Man findet Blume auch auf Threads und auf Instagram als @netzlehrer, wo ihm mehr als 160.000 Menschen folgen. Sein neues Buch "Zehn Dinge, die wir jetzt an der Schule ändern müssen" ist ab sofort im Handel vorbestellbar.
"Haftbefehl ist Teil unserer kulturellen DNA"
In Offenbach, Haftbefehls Heimatstadt, forderten Schüler kürzlich genau das: Haftbefehl solle Thema im Unterricht werden. Der Stadtschülerrat formulierte es so:
"Haftbefehl ist kein Randphänomen – er ist Teil der kulturellen DNA unserer Stadt und unserer Generation."
Die Jugendlichen lieferten auch gleich die didaktischen Ideen mit: Seine Musik könne im Musikunterricht auf Rhythmus, Flow und Sprachmelodie hin untersucht werden. Im Deutschunterricht böte sich eine Analyse seiner vielschichtigen Sprache an – eine Mischung aus Deutsch, Türkisch, Arabisch und Straßenslang, durchzogen von Metaphern und Referenzen, auch aus der Bibel. Im Politikunterricht ließen sich Fragen von sozialer Ungleichheit, Migration und Identität behandeln. Die Argumentation ist logisch: Wer bei Haftbefehl Stilmittel erkennt, kann sie auch auf Goethe übertragen – und umgekehrt.
Ministerium winkt ab – und verwechselt Bildung mit Erziehung
Das Hessische Kultusministerium lehnte den Vorschlag der Schülervertreter allerdings umgehend ab. "Weder die Texte des Rappers noch sein kontroverses Auftreten in der Öffentlichkeit stehen im Einklang mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag", erklärte eine Sprecherin. Haftbefehl zeige "eine wiederholte Neigung zur Kriminalität bzw. eine ambivalente Distanzierung davon" und sei "keinesfalls geeignet, eine Vorbildfunktion für adoleszente Personen zu erfüllen".
Diese Argumentation ist nicht überraschend – und gleichzeitig erschreckend antiquiert. Sie verwechselt Bildung mit Erziehung und Analyse mit Zustimmung. Nach dieser Logik dürfte man – zugespitzt gesagt – auch keine nationalsozialistischen Reden im Geschichtsunterricht analysieren, denn auch ihr Inhalt bietet nichts Vorbildliches. Doch genau darum geht es: Einordnung, Kontextualisierung, kritisches Nachdenken. Lehrerinnen und Lehrer können das leisten. Sie tun es bei Goethe, sie tun es bei Propagandareden. Warum nicht auch bei Haftbefehl?
Wenn Goethe heute zur Debatte stände
Die Argumentation des Ministeriums ist nicht konsequent. Prüfte man klassische Literatur nach heutigen Maßstäben, fiele auch Goethe durch:
Die Leiden des jungen Werther? Romantisierung von Selbstmord.
Faust? Ein alter Mann verführt eine Minderjährige mithilfe von Magie.
Zahlreiche klassische Gedichte? Frauenverachtung, wohin man schaut.
Und dennoch – oder gerade deshalb – werden diese Texte im Unterricht behandelt. Weil sie zur Diskussion anregen, weil sie historisch gerahmt sind, weil sie zur Reflexion einladen. Das ist Bildung. Nicht das Weglassen, sondern das Einbetten und Verstehen.
Rap als moderne Lyrik
In meinen ersten Jahren als Lehrer habe ich selbst untersucht, was Rap für den Unterricht leisten kann. In meiner Dokumentationsarbeit im Referendariat habe ich analysiert, wie stark die Verbindung zwischen Sprechgesang und klassischer Lyrik ist – sprachlich wie strukturell. Kollegah, Casper, Marteria oder Torch nutzen rhetorische Mittel wie Metaphern, Klimaxe und Chiasmen. Wer sich damit beschäftigt, begreift Sprache nicht nur als Werkzeug, sondern als Ausdruck.
Haftbefehl muss und sollte man nicht glorifizieren, um seine künstlerische Leistung zu erkennen. Er ist kein Vorbild – aber ein Spiegel. Seine Kunst zeigt eine Realität, die existiert. Wer die verändern will, muss sie verstehen. Wer sie verstehen will, muss sie zuerst hören und analysieren.
Bildung beginnt mit dem Zuhören
Nun ist es nicht so, dass Lehrkräfte Haftbefehl nicht auch so schon in den Unterricht einbinden könnten. Die pädagogische Freiheit erlaubt es Lehrkräften, dies eigenständig zu entscheiden. Niemand braucht dafür eine ministerielle Genehmigung. Aber es wäre ein starkes Signal gewesen, wenn das Kultusministerium die Initiative der Schüler nicht einfach abgebügelt, sondern als Einladung zur Debatte verstanden hätte.
Denn das Entscheidende ist: Jugendliche wollen verstanden werden. Sie fordern nicht weniger, sondern mehr Bildung – Bildung, die sie berührt, die ihre Sprache spricht, die ihr Leben ernst nimmt. Wenn Schule das nicht schafft, darf sie sich nicht wundern, wenn viele mit ihr nichts (mehr) anfangen können.
Wer Rap aus der Schule verbannt, verbannt damit auch einen Teil der Wirklichkeit junger Menschen. Bildung aber beginnt genau dort, wo wir bereit sind, auch das zu hören, was unbequem klingt.
- Eigene Meinung




