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Darum dürfen Putins atomare Hyperschallraketen "Awangard" nie zum Einsatz kommen


Hyperschallrakete Awangard
Wie gefährlich ist Putins "Superwaffe" wirklich?

Von Christoph Cöln

Aktualisiert am 28.02.2022Lesedauer: 6 Min.
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Archivaufnahmen zeigen beispiellose Fähigkeiten: Darum darf Putins "Awangard" niemals zum Einsatz kommen. (Quelle: t-online)

Russland hat eine militärische Eskalationsspirale in Gang gesetzt. Selbst ein Atomkrieg scheint denkbar. Furcht herrscht dabei vor Putins Hyperschallraketen. Sie sollen über beispiellose Fähigkeiten verfügen.

Seinen Stolz auf die Hyperschallrakete Awangard wollte Wladimir Putin nicht verhehlen. Sie sei "praktisch unbesiegbar", sagte der Präsident Ende 2018. Soeben hatte sein Militär die "Superwaffe" (wie die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass schwärmte) erfolgreich getestet und in Dienst genommen. "Als erstes Land der Welt", wie der Präsident betonte.

Die erfolgreiche Entwicklung der Rakete könnte ein technologischer Meilenstein gewesen sein und im zynischen Rüstungswettlauf führender Weltmächte wie den USA, China oder Russland neue Maßstäbe gesetzt haben. Die wenigen publik gewordenen Informationen über das Hyperschallgeschoss geben jedenfalls Anlass zur Beunruhigung.

Offiziell beschleunigt die Rakete bis auf 20-fache Schallgeschwindigkeit (Mach 20), also ungefähr 24.700 Stundenkilometer. Angeblich schafft sie aber sogar Mach 27. Damit flöge sie mit einer Spitzengeschwindigkeit von etwa 33.000 Kilometern pro Stunde – zu schnell für die aktuellen Abwehrsysteme anderer Staaten.

"Wir haben keine Verteidigung, die den Einsatz dieser Waffe gegen uns wirksam aufhalten könnte", sagte der US-Luftwaffengeneral John E. Hyten angesichts der Vorstellung der Awangard. Ob dem wirklich so ist, ist eine andere Frage.

Manövrierfähig, auch in der Fallphase

Aber nicht nur die enorme Geschwindigkeit der Waffe scheint Großmächten wie den USA Kopfzerbrechen zu bereiten. Da der Gleitflugkörper auch in der Fallphase noch manövrierfähig sein soll, also im letzten und entscheidenden Abschnitt seine Flugbahn vertikale und horizontale Flugkorrekturen vornehmen kann, könnte er gegnerischen Abwehrgeschossen einfach ausweichen. Diese Kombination aus Geschwindigkeit und Steuerung erhöht das Abschreckungspotenzial der Waffe um ein Vielfaches.

Im Rahmen des 2011 zwischen den USA und Russland geschlossenen New-Start-Vertrags durften Rüstungsinspektoren der USA die Awangard in Augenschein nehmen. Sie äußerten sich nicht dazu, ob die russischen Angaben zur Leistungsfähigkeit der Rakete stimmen.

Putins Militärexperten bemühten sich aber sogleich, den defensiven Charakter der Waffe zu betonen: Sie soll mögliche Aggressoren von einem Erstschlag auf Russland abhalten, da die Zweitschlagfähigkeit, also die russische Reaktion, mit Hilfe der Awangard vernichtend sein würde.

Die Waffe spielt eine Rolle in einem neuen Gleichgewicht des Schreckens, jener komplexen, wechselseitigen Balance atomarer Bedrohung, wie sie in den Zeiten des Kalten Krieges zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt schon einmal herrschte.

Erst am Sonntag versetzte Putin auch die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft. "Zur Abschreckung", wie es aus dem Kreml hieß. Dieser Zusatz ist wichtig, denn das qualifiziert die Ankündigung eher als rhetorische Drohgebärde. Dennoch dürften die Sorgen der Nato-Verbündeten dadurch nicht kleiner geworden sein.

Reaktion auf "Star Wars"

Die Pläne zur Entwicklung einer Hyperschallrakete stammen wohl noch aus der frühen Phase des Kalten Krieges zu Beginn der 1960er-Jahre. Als die Blockkonfrontation zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt Anfang der 1980er-Jahre dann eine neue Hochzeit erlebte, verstärkte die Sowjetführung ihre Anstrengungen zur Entwicklung einer atomwaffenfähigen Hyperschallrakete, auch als Reaktion auf das vom amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan angekündigte "Star Wars"-Programm (Strategic Defence Initiative/SDI).

Mit dem SDI planten die Falken im Pentagon einen gigantischen Raketenabwehrschild, dessen unterschiedliche Komponenten im Weltraum stationiert werden sollten. Unter anderem sollten Röntgenlaser, kinetische Projektwaffen und elektromagnetische Schienenkanonen (Railguns) im All installiert werden, um einen vermeintlichen Atomangriff der Sowjets zu vereiteln. Kaum etwas davon wurde je realisiert, zumindest nicht im Orbit.

Obwohl die Reagan-Administration Milliarden Dollar in das Projekt investierte, blieb das "Star Wars"-Programm weitgehend das, was es von Anfang an war: Science-Fiction.

Im Gegensatz zur russischen Hyperschallrakete. An deren Verwirklichung hielten die sowjetischen und später die russischen Militärstrategen fest. Wladimir Putin trieb die Entwicklung schon während seiner ersten Amtszeit voran, insbesondere nachdem die USA infolge der Anschläge vom 11. September 2001 von dem 1972 geschlossenen ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) einseitig zurückgetreten waren.

Zunahme von Tests nach 2014

Der Vertrag regelte die Anzahl der Defensivwaffen, die den Atommächten für die Verteidigung eines Angriffs zur Verfügung standen. Mit dem Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag zum Zwecke einer vermeintlichen Aufrüstung drohte Russland verwundbarer zu werden. Dennoch reagierte Putin erstaunlich gefasst auf den Schritt der Bush-Regierung. Er sehe für Russland keine unmittelbare Bedrohung, ließ er offiziell aus dem Kreml verlauten.

Auch die Amerikaner bekräftigten weiterhin ihr Abrüstungsinteresse und versicherten, man wolle ebenso wie Russland an der Verkleinerung der strategischen nuklearen Arsenale arbeiten. Der New-Start-Vertrag, der erst im Februar 2021 verlängert wurde, ist der rechtsverbindliche Ausdruck dieses politischen Willens.

Unterdessen verstärkte das russische Militär seine Forschung in Sachen Hyperschallwaffen. Tests der neuen Technologie erfolgten unter anderem im Jahr 2001, 2004 und im Anschluss an die Besetzung der ukrainischen Krim durch Russland im Jahr 2014. Am zweiten Weihnachtstag 2018 verkündete Putin dann die Inbetriebnahme der Rakete durch die russischen Streitkräfte.

"Vielleicht solltet ihr jetzt zuhören"

Schon im März desselben Jahres hatte der Präsident ein viel beachtetes Statement abgegeben, als er bei seiner Rede an die Nation mit verschiedenen strategischen Superwaffen prahlte, die nahezu jeden beliebigen Ort auf der Welt erreichen und auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden könnten. Darunter die Kinschal ("Dolch"), eine Luft-Boden-Hyperschallrakete, die von Kampfjets abgefeuert wird. Außerdem die schiffsbasierte Hyperschallrakete Zirkon und eben die landgestützte Awangard. Die klassische nukleare Triade.

Doch Putin beließ es nicht dabei, Russlands Abschreckungswaffen zu feiern. "Ich möchte all jenen sagen, die das Wettrüsten in den vergangenen 15 Jahren befeuert haben, jenen, die eine strategische Überlegenheit über Russland anstrebten, und jenen, die die Entwicklung unseres Landes durch ungerechtfertigte Sanktionen unterbinden wollten: All das, was ihr mit eurer Politik zu verhindern versucht habt, ist bereits Wirklichkeit geworden", sagte er in Richtung der Weltgemeinschaft. "Ihr seid damit gescheitert, Russland zu stoppen."

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Wenige Tage später siegte er bei der Präsidentenwahl, die ihm eine weitere sechsjährige Amtszeit bescherte.

Man musste kein Politikexperte sein, um darin bereits eine Drohung gegen die USA, den Westen und die Nato herauszuhören. Der Furor lag nicht in Putins Tonfall, sondern vielmehr in der Bitterkeit seiner Worte, in denen sich eine tiefe Kränkung ausdrückte. "Niemand hat uns zugehört", sagte er. "Vielleicht solltet ihr uns jetzt zuhören."

Nur ein großer "Bluff" oder doch nicht?

Im Publikum, das unter anderem aus hochrangigen Politikern und Militärs bestand, wurde die Rede mit großem Applaus gefeiert. In Washington gab man sich derweil gelassen. Das alles sei nichts Neues, wiegelte eine Sprecherin des Pentagon ab, man sei auf alle Eventualitäten gut vorbereitet. Damit war das Thema für die Trump-Administration erledigt.

Zwar arbeiten auch die USA und China längst an ähnlichen Waffensystemen – wann diese einsatzfähig sein werden, ist bislang unbekannt. Unterdessen rätseln Militärexperten darüber, wie ausgereift das Awangard-System wirklich ist. Und ob Putins "Superwaffe" tatsächlich so potent ist, wie Russland glauben machen will.

Ballistische Flugbahn in 200 Kilometern Höhe

Die große Stärke der Awangard könnte auch ihr Schwachpunkt sein: die Geschwindigkeit. Sie macht das System fehleranfällig. Als Trägerrakete für den Gleitflugkörper verwendet Russland bislang die UR-100N (Nato-Codename: "SS-19 Stiletto"), eine mit Flüssigtreibstoff betriebene ballistische Interkontinentalrakete, deren Reichweite bis zu 10.000 Kilometer beträgt und die die Awangard in den niederen Erdorbit (LEO) bringen kann – in eine Höhe oberhalb von 200 Kilometern, wo die Luft dünn ist und sich größere Geschwindigkeiten schneller erreichen lassen.

Auf einer Höhe von etwa 100 Kilometern wird der mit einem Gefechtskopf bestückte Wiedereintrittskörper dann abgekoppelt; die Awangard setzt ihre Flugbahn auf das Ziel nun fort, wobei sie weiterhin navigiert werden kann. Nach welchem Prinzip diese Fernsteuerung funktioniert, ist nicht bekannt.

Die kritische Phase ist der Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Dabei entstehen nicht nur enorme Temperaturen, die auf die Rakete einwirken und ihre Geschwindigkeit verringern. Durch den höheren Luftwiderstand innerhalb der Erdatmosphäre bildet sich offenbar auch eine Wolke aus ionisierenden Gasen, die die Rakete leichter sichtbar für gegnerische Sensoren macht.

Russland spricht von erfolgreichen Tests

Bliebe noch der Vorteil der Manövrierfähigkeit. Wie präzise die Steuerung der Awangard wirklich ist, dahinter stehen laut Experten ebenfalls Fragezeichen. Russland selbst spricht von erfolgreichen Tests mit hoher Treffsicherheit des Systems.

Antworten darauf könnte nur der Ernstfall geben. Bleibt zu hoffen, dass es dazu nicht kommt und die Awangard ihren vermeintlichen Technologievorsprung und ihre menschenverachtende Zerstörungskraft niemals wird ausspielen können.

Verwendete Quellen
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