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Nach EU-Gipfel: Die Ukraine ist Beitrittskandidat – und jetzt?


"Vor allem ein Symbol"
Die Ukraine ist EU-Kandidat – und jetzt?


Aktualisiert am 23.06.2022Lesedauer: 7 Min.
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Von der Leyen und Selenskyj bei ihrem Besuch Anfang April: Die Kommissionspräsidentin will die Ukraine in der EU haben.Vergrößern des Bildes
Von der Leyen und Selenskyj bei ihrem Besuch Anfang April: Die Kommissionspräsidentin will die Ukraine in der EU haben. (Quelle: Ukraine Presidency/ZUMA Wire/imago-images-bilder)

Präsdient Selenskyj will in die EU, unbedingt und möglichst schnell. Nun hat die Ukraine in dem Verfahren einen ersten Etappensieg erlangt. Wie geht es nun weiter?

Nur vier Tage war der Start des russischen Angriffs auf sein Land her, als Wolodymyr Selenskyj am 28. Februar den Antrag auf "unverzügliche Aufnahme der Ukraine nach einer neuen speziellen Prozedur" an die Europäische Union stellte. Unverzüglich wird es wohl nicht werden, auch ein neues Verfahren zeichnet sich nicht ab.

Dennoch ist nun eine wichtige Etappe geschafft: Die Europäische Union hat die von Russland angegriffene Ukraine offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen. Damit erkennt die EU die Anstrengungen der beiden Länder um eine Beitrittsperspektive an und will ihnen Mut machen – obwohl es durchaus noch Länder gibt, die Zweifel hegen.

Zuvor hatte der ukrainische Präsident Selenskyj einen solchen Schritt bereits als historisch bezeichnet, Bundeskanzler Olaf Scholz sprach bei seinem Besuch in Kiew von einem Meilenstein.

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Warum ist dieser Etappensieg für die Ukraine so wichtig? Und wie geht es nun weiter?

"Bis zum Beitritt ist es ein sehr weiter Weg"

"Das ist erst der Anfang der Geschichte", sagt Europaexperte Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik zu t-online. "Bis zum Beitritt ist es ein sehr weiter Weg." Aber der Wissenschaftler schränkt ein: "Es geht jetzt kurzfristig noch nicht um den Beitritt der Ukraine zur EU." Die Empfehlung der Kommission beschränke sich auf eine Beurteilung darüber, ob die Ukraine in der Lage ist, ein erfolgreicher Beitrittskandidat zu sein – nicht, ob sie in der Lage ist, EU-Mitglied zu sein.

Letzteres will die Ukraine unbedingt: Schon in den 1990ern äußerte eine ukrainische Regierung erstmals den Willen, der Union beizutreten. Seit 2017 existiert ein Assoziierungsabkommen, das die politischen und wirtschaftlichen Bindungen zwischen dem Land und der EU vertiefen soll. Als ein erstes solches Abkommen kurz vor der Unterzeichnung 2013 wohl auf Druck Russlands von Präsident Viktor Janukowitsch auf Eis gelegt wurde, kam es zu monatelangen Protesten auf dem Kiewer Maidan-Platz, genannt Euromaidan. Sie gipfelten in der Absetzung und der Flucht von Janukowitsch im Februar 2014.

Selenskyj schwört auf das Verfassungsziel ein

Seit 2019 ist der EU-Beitritt als Ziel sogar in der Verfassung verankert – obwohl damals erst knapp über die Hälfte der Ukrainer dafür war, wie eine Umfrage der in Kiew ansässigen Soziologischen Gruppe Rating zeigte. Seitdem sind die Zustimmungswerte rapide gestiegen: Anfang März waren 86 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer für einen EU-Beitritt, Ende März sogar 91 Prozent.

Präsident Selenskyj schwört seine Landsleute ebenso wie die Politiker der EU regelmäßig auf sein Vorhaben ein. Vor der Entscheidung des Kandidatenstatus sagte er, dieser würde beweisen, "dass Worte über die Zugehörigkeit des ukrainischen Volkes zur europäischen Familie nicht bloß leere Worte sind". Eine ähnliche Formulierung wählte er, als am vergangenen Samstag Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew zu Gast war – bereits das zweite Mal, es sei um letzte Abstimmungen für die Entscheidungsfindung in der Kommission gegangen, hieß es.

Von der Leyen: "Die Ukraine gehört zur europäischen Familie"

In der deutschen EU-Spitzenpolitikerin hat Selenskyj augenscheinlich eine Verbündete – schon am 27. Februar, einen Tag vor dem Antrag des ukrainischen Präsidenten, hatte von der Leyen dem Sender Euronews gesagt: "Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben." Bei ihrem ersten Besuch in Kiew Anfang April erklärte sie: "Die Ukraine gehört zur europäischen Familie". Doch schon damals schränkte sie ein: Es bleibe viel zu tun, auch wenn die Ukraine in den vergangenen Jahren viel erreicht habe. "Unsere Empfehlung wird das sorgfältig widerspiegeln." Der Weg in die EU sei bekannt.

Selenskyjs Forderung nach einer "neuen speziellen Prozedur" zur Aufnahme seines Landes erteilte von der Leyen somit bereits vor zwei Monaten eine Absage. Nun ist die Ukraine zwar offiziell Beitrittskandidat – doch dem Land steht ein Marathon bevor. Bis zum EU-Beitritt können Jahre oder Jahrzehnte vergehen. Der Prozess ist kompliziert.

Mit vier Kriterien zum Beitritt

Mit einer Erklärung zum Beitrittskandidaten hat die Ukraine dabei die erste Etappe geschafft. Noch gehe es jedoch nicht um Substanzielles, analysiert Europa-Experte Lang. "Danach wird es nur noch komplizierter." In den Fokus rücken dann die Kopenhagener Kriterien. Diese muss jedes Land, das der EU beitreten will, erfüllen – allerdings erst, wenn es Mitglied wird. Es handele sich eher um Ziele, auf die bis zum Beitritt hingearbeitet werde, so Lang. "Die Phase zwischen Verleihung des Kandidatenstatus und dem tatsächlichen Beitritt soll genau dazu führen, dass das Land beitrittsfähig wird."

Konkret gibt es drei Kriterien, denen sich die Ukraine stellen muss:

  • Das politische Kriterium – eine stabile Demokratie, die die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit wahrt,
  • das wirtschaftliche Kriterium – eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem EU-Binnenmarkt standzuhalten,
  • das "Acquis"-Kriterium – die Übernahme des gesamten gemeinschaftlichen EU-Rechts, auch genannt "gemeinschaftlicher Besitzstand", "Acquis communautaire".

Dazu kommt ein viertes Kriterium, auf das ein Beitrittskandidat nur wenig Einfluss hat: die Aufnahmefähigkeit der EU. Je größer die Gemeinschaft wird, desto wichtiger wird dieses. 2014 hatte der damalige Kommissionschef Jean-Claude Juncker erklärt, die Union müsse bei der Erweiterung eine Pause machen. Erst 2020 hatte die Kommission die Diskussion um neue Beitritte mit einer Mitteilung über die Perspektive für die Balkanländer mit Kandidatenstatus – Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und Albanien – wieder eröffnet.

Es kommt auf das Politische an

Kai-Olaf Lang meint, vor allem das politische Kriterium dürfte bei der Ukraine in den nächsten Jahren in den Fokus rücken: Bei der Umsetzung von EU-Recht habe die Ukraine schon viel erreicht, vor allem das Assoziierungsabkommen habe dabei viel bewirkt. Auch die Wirtschaft dürfte nicht zum Problem werden, glaubt er – obwohl die Ukraine eine bei Weitem geringere Wirtschaftsleistung hat als die EU-Staaten. Durch das bestehende Freihandelsabkommen sei das Land jedoch schon ein Stück weit in den EU-Markt eingebunden, so der Experte.

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Beim politischen Kriterium gebe es hingegen eine eher gemischte Bilanz, sagt Lang über das Land, das in den letzten 20 Jahren zwölf Kabinettswechsel erlebt hat. "Aber diese würde es sehr wohl rechtfertigen, den Kandidatenstatus zu verleihen." Knackpunkt könnte seiner Meinung nach die Reform des Staates werden, samt der Sicherung eines transparenten öffentlichen Auftragswesens, der Etablierung einer unabhängigen Justiz, der Bekämpfung der Korruption und der Einhegung der mächtigen Oligarchen.

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Problemfeld Korruption

Die vorherrschende Korruption und Seilschaften bis in die Regierungsetage werden in Bezug auf die Ukraine immer wieder angeprangert – dabei stand auch Präsident Selenskyji zwischenzeitlich in der Kritik. Die "Pandora Papers", vom Internationalen Netzwerk investigativer Journalisten (ICIJ) geleakte Daten zu Steuerflucht, offenbarten zweifelhafte Offshore-Geschäfte und Verbindungen zu einem Oligarchen aus seiner Zeit als Fernsehkomiker, die bis in seine Präsidentschaft hineinreichten.

Auch der Europäische Rechnungshof attestierte Ende 2021, alle bislang geleistete Unterstützung der EU für die Ukraine habe nicht viel genützt. Mit 15 Milliarden Euro seit 2014 habe die Union politische Reformen fördern wollen. Doch: Die EU-Hilfen seien schlicht "unwirksam gegen Korruption auf höchster Ebene".

Kai-Olaf Lange gibt hingegen zu bedenken, dass man sich keine Illusionen machen dürfe: "Auch in anderen EU-Staaten, zum Beispiel in Südeuropa, ist die Korruption ein Dauerproblem." Dennoch spreche man im Fall der Ukraine von ganz anderen Dimensionen.

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Mehr als 70 Mal Einstimmigkeit erforderlich

Über die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien und die Bedingungen für den Beitritt würde bei einem Votum der EU-Mitgliedsstaaten für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in 35 einzelnen Kapiteln verhandelt werden – in dieser Zeit würde die Ukraine mit weiteren Finanzhilfen sowie verwaltungstechnischer und fachlicher Expertise von der EU unterstützt. Für die Öffnung und Schließung eines jeden neuen Kapitels bräuchte es jeweils neue einstimmige Beschlüsse der EU-Mitgliedstaaten.

Am Ende stünde ein Beitrittsabkommen, welches von den Staats- und Regierungschefs einstimmig und vom Europaparlament mit absoluter Mehrheit angenommen werden müsste. Nach der Ratifizierung in den Mitgliedsstaaten – in Deutschland müssten Bundestag und Bundesrat zustimmen – sowie dem Beitrittsland und der Unterzeichnung durch alle Parteien könnte der Kandidat zum EU-Mitglied werden.

"Die EU hat sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert"

Es bleibt somit eine Menge Konfliktpotenzial: "Bei vergangenen Verhandlungen mit Beitrittskandidaten hat sich die EU nicht gerade mit Ruhm bekleckert", so Lang. Er verweist auf das Beispiel Nordmazedonien, wo nach Streitereien mit Griechenland und Frankreich aktuell Bulgarien die Verhandlungen blockiert.

Bei der Ukraine sieht er zwei Quellen für Probleme: Aus einer europapolitischen Perspektive könnten Länder Bedenken anmelden – beispielsweise, dass die EU zu groß werden könnte und ihre Handlungsfähigkeit verliert. Andererseits hatten zum Beispiel die Bundesregierung und Österreich gefordert, über der Ukraine nicht die Balkanstaaten zu vergessen. Und auch finanzielle Befürchtungen könnten eine Rolle spielen: Einzelne Länder müssten vielleicht mehr in den EU-Haushalt einzahlen oder würden weniger Gelder von der Union erhalten, so der Experte.

Aber auch innenpolitische Bedenken seien möglich, so Lang, aus ganz unterschiedlichen Gründen, wie europaskeptischen Stimmungen in der Gesellschaft. Und er glaubt: "Mitgliedsstaaten könnten versuchen, einen Kuhhandel zu vollziehen, um so Zugeständnisse in anderen Politikbereichen zu erzwingen." Denn dass die EU sich in etlichen Bereichen uneins ist, haben mehrere gescheiterte Abstimmungen nach dem Einstimmigkeitsprinzip in der jüngeren Vergangenheit gezeigt.

Scholz: Kriterien müssen erfüllt werden

Dass es Bedenken unter den EU-Staats- und Regierungschefs gibt, zeichnet sich bereits ab. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der lange als Skeptiker galt, sagte beim Besuch in Kiew allerdings klar, die Ukraine solle "sofort" den Status eines Beitrittskandidaten erhalten.

Kanzler Scholz wiederholte Ursula von der Leyens Worte, die Ukraine gehöre zur europäischen Familie. Zugleich mahnte er aber, für einen späteren Beitritt gebe es klare Kriterien, insbesondere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bei der Regierungserklärung im Bundestag am Mittwoch bekräftigte er jedoch, dass er sich für "Ja" zum Kandidatenstatus für die Ukraine stark machen werde. Das sei "eine Antwort Europas auf die Zeitenwende", betonte der Kanzler. Damit hatte er offensichtlich Erfolg.

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Der ukrainische Präsident ist jedenfalls hoch motiviert. Doch ein Problem bleibt: "Ein Land im Krieg aufzunehmen, ist nicht vorstellbar", so Lang. Zwar habe sich die EU "flexibilisiert", was die Zusammenarbeit mit Staaten in Territorialkonflikten angehe. Das zeigten die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, aber auch mit Georgien oder Moldau. Aber: "Es wird keinen geopolitischen Bonus für die Ukraine geben."

Denn neben Ukraine und EU tritt ein weiterer Akteur in das Handlungsfeld: Russland. Der Europa-Experte rechnet damit, dass der Kreml "offensiv dagegenhalten" würde, sollte es ernst werden mit dem EU-Beitritt der Ukraine. "Russland nimmt die Europäische Union als geopolitischen Konkurrenten, wenn nicht sogar als Eindringling wahr. Es ist längst nicht nur die Nato, die als Gegner gesehen wird. Das hat die EU aber lange nicht verstanden."

Von einer kurzfristigen Verschärfung des Krieges geht Lang jedoch nicht aus. Denn: "Der Kandidatenstatus ist vor allem ein Symbol."

Hinweis der Redaktion: Der Artikel ist erstmals am 17. Juni auf t-online erschienen.

Verwendete Quellen
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