Tödliche Kombination im Kreml "Putin hat die ungeheuren Vorteile des Kriegs entdeckt"

Drohnen über Polen, Kampfjets über Estland: Wladimir Putins Provokationen nehmen zu. Der russische Journalist Michail Rubin warnt im Interview: Der Kremlchef sucht keinen Frieden – er hat den Krieg für sich entdeckt.
Seit dreieinhalb Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Und dieser Krieg wird nicht bald enden, sagt Michail Rubin. Der russische Investigativjournalist analysiert die Welt und die Person von Wladimir Putin seit mehr als einem Jahrzehnt. Im Interview mit t-online erklärt der gebürtige Moskauer, warum Putin nur Eskalation kennt und warum der Krieg für ihn zum Lebenselixier geworden ist.
t-online: Herr Rubin, die Blicke Europas richten sich derzeit auf die Ostflanke der Nato. Mal schickt Moskau Drohnen nach Polen, mal dringen Militärjets in den Luftraum über Estland ein. Was bezweckt Wladimir Putin damit?
Michael Rubin: Das ist im Moment schwierig zu sagen. Putin tastet Grenzen ab, lotet den Rahmen des Erlaubten aus. Aber selbst sein engstes Umfeld weiß oft nicht genau, was in seinem Kopf vorgeht. Auch unsere Quellen in Russland, denen ich vertraue, berichten: Selbst seine Vertrauten raten häufig nur, was er eigentlich will. Rationalität in seinen Handlungen zu suchen, ist ein Fehler.
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Warum das? Viele halten ihn doch für einen kalten, aber sehr rationalen Strategen.
Putin ist kein rationaler Akteur. Er denkt und handelt in anderen Kategorien. Seine Biografie lässt ein klares Schema in seiner Denkweise erkennen: Er versteht nur die Sprache von Gewalt und Stärke. Und aktuell agiert er aus einer Position heraus, in der er keine starken Gegenreaktionen zu fürchten hat. Das ist gefährlich. So lernt er: Er kann weitermachen.

Zur Person
Michail Rubin begann seine journalistische Karriere bei der russischen Tageszeitung "Iswestija", wechselte schließlich zur führenden Wirtschaftszeitung "RBK" und später zum oppositionellen Fernsehsender Doschd, wo er vornehmlich über die Arbeit Wladimir Putins und der Präsidialverwaltung berichtete. 2018 gehörte er zu den Mitbegründern des Investigativmediums "Projekt", wo er stellvertretender Chefredakteur wurde. Im Zuge seiner Recherchen geriet er unter Druck. 2021 kam es zu Durchsuchungen in seiner Wohnung. Im Juli desselben Jahres wurde Rubin vom russischen Justizministerium in das Register sogenannter "ausländischer Agenten" aufgenommen. Kurz darauf musste Rubin Russland verlassen, nachdem "Projekt" zur "unerwünschten Organisation" erklärt worden war.
Putin steckt also seinen Spielraum ab. Und die fehlenden Konsequenzen motivieren ihn, das Spiel weiterzutreiben?
Ja, vielleicht will er konkret jemanden auf die Probe stellen, vielleicht erzeugt er absichtlich eine Eskalation. In jedem Fall: Aggressoren lassen sich nur durch eine klare Antwort aufhalten. Wenn es keine entschlossene Reaktion gibt, versteht Putin das als Einladung. In den letzten Jahren hat er leider viele Einladungen erhalten. Die Handlungslosigkeit der Nato kommt in der Logik der Machtpolitik einer Schwäche gleich. Und Schwäche bedeutet für Putin, dass er weitermachen kann. Ob er weitermachen wird, ist eine andere Frage.
Wenn Russland zur Quelle von noch mehr Gewalt wird, darf das niemanden überraschen – Putin weiß, dass er es sich erlauben kann. Der Krieg in der Ukraine hat ihn das gelehrt.
Sie beschäftigen sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Putin und seiner Machtlogik. Zuletzt haben Sie zusammen mit Ihrem Kollegen Roman Badanin das Buch "Der Zar höchstpersönlich – wie Wladimir Putin uns alle getäuscht hat" veröffentlicht. Was ist Ihr Blick auf ihn als Person?
Mein Ansatz ist menschlich. Putin kommt aus einem Milieu von Geheimdienstlern einerseits und Banditen andererseits. Diese Mischung hat ihn geformt. Jedes Milieu für sich ist schon gefährlich genug. Aber in der Kombination tödlich: Mafiosi und KGB-Agent in einer Person. Für ihn gilt eine einzige Regel: Man nimmt sich, was man will. Putin versteht die Sprache des Entgegenkommens und Kompromisses nicht. Außerdem hat Putin entdeckt, wie ungeheuer vorteilhaft der Krieg für ihn ist.
Inwiefern?
Er kann Oppositionelle und Journalisten ausschalten, die Gesellschaft unter Kontrolle halten und sein Verbleiben an der Macht rechtfertigen. Dabei ist es für Putin egal, wo er Krieg führt – entscheidend ist, dass er Krieg führt.
Das heißt nicht, dass er sich gerade konkret auf etwas Neues vorbereitet. Aber der Krieg an sich ist ihm wertvoll geworden, nützlich, er gefällt ihm. Wir sehen: Er will ihn nicht beenden.
Sie meinen also, der Krieg ist für Putin unverzichtbar geworden?
Trump hat ihm Bedingungen angeboten, die Putin propagandistisch als Sieg hätte verkaufen können. Putin lehnte jedoch ab. Der Frieden ist für ihn uninteressant, weil er ihm nichts nützt. Aus seiner Sicht wäre es sogar bequemer, eine fernere Region als die Ukraine zu bombardieren. Psychologisch ist die Ukraine ein schwieriges Ziel, weil viele Russen dort Verwandte haben. Aber er tut es trotzdem. Und ich glaube nicht, dass er einfach aufhört. Der Krieg gefällt Putin zu sehr.
Gibt es jemanden, der auf Putin einwirken könnte?
Der Medienmogul Juri Kowaltschuk ist noch da, ebenso wie die Oligarchen Arkadij Rotenberg und Gennadij Timtschenko – seine alten Freunde, die bestimmte Bereiche verantworten. Aber wer aktuell den größten Einfluss hat, wissen wir nicht. Dieses Chaos ist typisch für Diktaturen. Heute wissen wir oft nicht einmal, wo Putin physisch ist, geschweige denn, wer Zugang zu ihm hat. Deshalb misstraue ich jenen, die behaupten, sicher zu wissen, was in Putins Kopf vorgeht und was er als Nächstes vorhat.
Welche Konsequenzen sollte der Westen ziehen?
Der Westen darf nicht Gefangener von Mythen sein – nicht glauben, dass Putin einen klaren Plan verfolgt, rational denkt oder eine kohärente Ideologie hat. Er tut, was ihm gerade nützt – und was das ist, weiß oft nicht einmal er selbst. Der Westen muss aufhören, ihn zu idealisieren oder zu rationalisieren.
Man darf nicht glauben, Putin hätte auch nur das geringste Interesse, den Krieg zu beenden. Das ist schlicht falsch. Und dass das nicht alle erkennen, finde ich furchtbar. Putin gefällt sein derzeitiges Leben, er führt gern Krieg, herrscht gern. Ihm ist es nicht langweilig – wie manche seltsamerweise behaupten. Zu glauben, man könne ihn befrieden, ist ein gefährlicher Irrtum.
Das würde dann aber bedeuten, dass es keinen Frieden mit Putin an der Macht geben kann.
Das Problem ist: Putin genießt die Tragödie. Nicht im Sinne primitiver Freude über konkrete Opferzahlen – so simpel ist er nicht, sonst hätte er nicht so lange die Macht gehalten. Aber ihm gefällt es, das Epizentrum der Weltpolitik zu sein. Alles dreht sich um ihn. Alle beschäftigen sich mit ihm, und das gefällt ihm unheimlich. Er ist ein alter Mann, der große Angst vor dem Tod hat. Und jetzt erlebt er seinen Lebensabend mit bald 73 Jahren so, wie er es mag: Die Welt kreist um ihn. Für ihn ist das ein Triumph. Für uns alle ist es brandgefährlich.
Vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Michail Rubin






