Zeitenwende in der Sicherheitspolitik Tabubruch könnte Wettrüsten auslösen

Russlands Angriff auf die Ukraine verändert die Weltsicherheitspolitik nachhaltig. Es bestehe die Gefahr einer Verbreitung von Massenvernichtungswaffen rund um den Globus, schreibt der Analyst Andreas Umland.
Das 1945 geschaffene internationale System befindet sich im Niedergang. Die bisherige "liberale" oder "regelbasierte Ordnung" begann, sich mit der Schaffung der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwickeln. Sie festigte sich unter anderem durch die Einrichtung mehrerer UN-Unterorganisationen und angegliederter Institutionen sowie durch das Entstehen regionaler kollektiver Sicherheitssysteme wie der Konferenz (später: Organisation) für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Unter anderem sind der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968, das Biowaffenübereinkommen von 1972 und die Chemiewaffenkonvention von 1993 zu Bausteinen heutiger internationaler Ordnung geworden.
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Entgegen solchen Bezeichnungen wie "liberal" und "regelbasiert" war die Weltordnung nach 1945 weder besonders geordnet noch sonderlich liberal noch gut reguliert. Außerhalb Europas gab es weiterhin militärische Konflikte und Erpressungen, Völkermorde sowie Bürgerkriege – manchmal mit globalen Folgen. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben einige Regionen der Welt von Hegemonialmächten dominiert. Bis 1989 litt etwa Ostmitteleuropa unter dem berüchtigten Jalta-System, also der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Vorherrschaft Moskaus.

Zum Autor
Andreas Umland (* 1967) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet von Kiew aus als Analyst beim Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten. Umland gründete die Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" ("Sowjetische und postsowjetische Politik und Gesellschaft").
Die neue Weltordnung stellte eine Errungenschaft dar
Dennoch unterschied sich das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene internationale System von demjenigen vor 1945. Letzteres war geprägt von unverhohlener imperialistischer Herrschaft, rücksichtsloser kolonialer Ausbeutung, Welt- und Regionalkriegen, faschistischen und parafaschistischen Regimes, Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie häufigen gewaltsamen Gebietserweiterungen von Staaten.
So unvollkommen die nach 1945 entstandene Ordnung war, stellte sie im Vergleich zu ihrer unmittelbaren Vorgängerin und im Kontext der Weltgeschichte eine Errungenschaft dar. Auch nach 1945 wurden Kriege geführt. Doch die Erweiterung des offiziellen Staatsgebiets eines Landes durch Invasion eines benachbarten anerkannten Staates sowie zwischenstaatlicher Völkermord – bis Ende des Zweiten Weltkriegs noch an der Tagesordnung – wurden zu seltenen Ereignissen.
Heute geht diese Ordnung anscheinend ihrem Ende entgegen. Sie wird durch ein System ersetzt, das sich offen als nicht- oder sogar antiliberal präsentiert. Sollte das neue Weltsystem weiterhin regelbasiert bleiben, werden sich die neuen Regeln offensichtlich von denjenigen unterscheiden, die nach 1945 galten. Sie könnten eher Ausdruck aktueller Launen mächtiger Herrscher sein, als eine neue Liste verbindlicher Verhaltensrichtlinien bedeuten.
Noch bleiben China und die USA bei Säbelrasseln
Die folgenreichste Entwicklung, die in den vergangenen elf Jahren zur Erosion der Nachkriegsordnung führte, war und ist das außenpolitische Verhalten Russlands – eines ständigen Mitglieds des UN-Sicherheitsrats und offiziellen Kernwaffenstaats im NVV. Seit mehr als einem Jahrzehnt führt Moskau eine gewaltsame Landnahme, systematische Terrorkampagne und demografische Umformung auf dem international anerkannten Territorium der Ukraine durch.
Auch die außenpolitische Rhetorik der Vereinigten Staaten und Chinas sowie deren Auswirkungen unterwandern die heutige Weltordnung. Seit ihrer Gründung hat die Volksrepublik ihr Interesse an Taiwan bekundet. Peking könnte nun kurz davorstehen, zu versuchen, die Insel militärisch zu erobern. 2025 verkündete der neue US-Präsident Donald Trump, er wolle Kanada und Grönland zu einem Teil der Vereinigten Staaten machen.
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Bislang haben die Staatschefs der USA und Chinas jedoch nur über Expansionsabsichten gesprochen. Sie bedienen sich harter Rhetorik, hybrider Operationen und Säbelrasseln. Russland hingegen setzt seit mehr als einem Jahrzehnt massive militärische Gewalt ein, um seine Fläche und Bevölkerung auf Kosten eines UN-Mitglieds zu vergrößern. Moskau untergräbt damit nationale Souveränität und territoriale Integrität als Grundlagen der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur rhetorisch, wie Peking und Washington, sondern auch materiell, politisch und pseudorechtlich.
Russland-Sanktionen bleiben nur begrenzt wirksam
Während die Annexion Kuwaits durch den Irak im Jahr 1990 ein Jahr später durch eine internationale Militärkoalition rückgängig gemacht wurde, ist in Bezug auf die ukrainischen Gebiete, die Russland 2014 und 2022 annektiert hat, nie etwas Ähnliches in Betracht gezogen worden. Die seit 2022 gegen Russland verhängten internationalen Sanktionen sind nominell umfangreich und werden ständig verschärft. Aufgrund zahlreicher Ausnahmen, Fehler und Schlupflöcher haben sie jedoch bisher nur begrenzte Wirkung gezeigt.
Mehrere Länder – darunter China und Indien – haben ihren Handel mit Russland seit der Eskalation des Krieges gegen die Ukraine durch Moskau 2022 ausgeweitet. Ein Großteil der ausländischen Waffen, die die Ukraine vom Westen erhält, war und ist veraltet. Die oft zweitklassigen Waffen wurden und werden meist mit Verzögerung oder in unzureichender Menge geliefert.
Diese und andere halbherzige Maßnahmen, Untätigkeit oder Komplizenschaft der Großmächte sowie die Irrelevanz internationaler Organisationen während des russisch-ukrainischen Krieges haben schwerwiegende Folgen. Die zentrale Lehre aus diesen Erscheinungen ist, dass heute wieder die Macht des Stärkeren gilt. Viele Beobachter vermuten, dass Russland, wenn es für seine aktuellen Gebietserweiterungen und Massenverbrechen nicht bestraft wird, in Zukunft weitere Eroberungsversuche unternehmen wird.
Andere Länder könnten Russlands Beispiel folgen
Einige befürchten auch, dass Regierungen anderer revisionistischer Länder, die in ihren Regionen relativ mächtig sind, nicht nur anfangen könnten, sich ähnlich wie Peking gegenüber Taiwan zu verhalten. Sie könnten auch dem Beispiel Moskaus folgen und sofort zum militärischen Schlag gegen Nachbarstaaten ausholen. Wenn Russland sein ohnehin schon riesiges Territorium auf Kosten eines anderen UN-Mitgliedstaates erweitern kann, warum sollten andere Länder nicht dasselbe tun können?
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Wenn ein Land – anders als der Irak, als er 1990 Kuwait annektierte – über Massenvernichtungswaffen verfügt, kann es tun, was es will, wie dies Russland seit 2014 demonstriert. In der Ukraine annektiert Moskau offen Gebiete, foltert Kriegsgefangene, entführt, deportiert und russifiziert unbegleitete Kinder, terrorisiert Zivilisten, bombardiert Wohngebäude, Krankenhäuser, Kirchen, Bibliotheken, Universitäten. Weiterhin droht der Kreml der Außenwelt mit Atomkrieg, sollten sich dritte Mächte militärisch auf der Seite der Ukraine engagieren.
Putins Unterstützer halten weiter zu Russland
Gleichzeitig wird Putin weiterhin von den mächtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt anerkannt oder rückt ihnen gar näher, darunter Chinas Staaschef Xi, der US-Präsident, sein brasilianischer Amtskollege Lula sowie Indiens Premier Modi. Russlands expansionistischer Krieg wird nicht nur von Schurkenstaaten wie Belarus, Iran und Nordkorea unterstützt. Ohne die wirtschaftliche und technische Hilfe Chinas und die gestiegenen Rohstoffimporte Indiens aus Russland wäre die russische Aggression nicht möglich.
Putins demonstrative Missachtung des Völkerrechts und Rücksichtslosigkeit in der Ukraine haben den Respekt für Russland in vielen Ländern nicht geschmälert. In einigen Staaten hat er sogar zugenommen. Diese und andere Auswirkungen des Verhaltens des Kreml auf gleich gesinnte Regierungen auf der ganzen Welt sind hinlänglich bekannt.
Streben nun auch kleinere Mächte nach Atomwaffen?
Weniger Beachtung findet hingegen die mögliche Reaktion mittlerer und kleinerer Mächte auf die von Russland initiierte Zeitenwende der Weltsicherheitspolitik. Einige würden mit Thukydides argumentieren, dass es immer so war und bleiben wird, dass "die Starken tun, was sie können, und die Schwachen erleiden, was sie müssen". Jedoch gab es 416 vor Christus, als diese Feststellung gemacht wurde, und bis vor einigen Jahrzehnten noch keine nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen.
Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte war die einzige Form der Kriegsführung die konventionelle. Ein Angreifer, der stärker war als sein Opfer, musste kaum um die eigene Existenz fürchten, wenn er einen Krieg androhte, vorbereitete oder begann.
Das Aufkommen von Massenvernichtungswaffen im 20. Jahrhundert veränderte diese Situation. Die prinzipiell neue Lage hätte zu einem globalen Wettrüsten zwischen Staaten, die Massenvernichtungswaffen erwerben oder herstellen, und anschließender Verbreitung dieser Waffen über den gesamten Planeten führen können. Dieses Risiko wurde durch das UN-System, globale Konventionen zur Begrenzung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, bilaterale und multilaterale Abrüstungsabkommen und Beistandsverträge, kollektive Sicherheitssysteme und andere Instrumente gemindert.
Moskau beendet jahrzehntelange Praxis internationaler Vereinbarungen
Nach 1945 wurden Grenzen zwischen Staaten meist durch internationale Abkommen verändert und nicht durch gewaltsame Annexionen. Gezielte zwischenstaatliche Massengewalt gegen Zivilisten, vergleichbar mit der jahrelangen Bombardierung ukrainischer Städte und Dörfer durch Russland sowie seinem kalkulierten Dauerterror gegen ukrainische Nichtkombattanten, blieb die Ausnahme.
Moskau hat diese achtzigjährige Praxis nun beendet. Relativ schwächere Länder werden auf den russischen Tabubruch seit 2014 und die ambivalente Reaktion anderer Großmächte sowie internationaler Organisationen darauf reagieren. Sie werden ihre nationalen Interessen, Prioritäten und Sicherheit neu bewerten. Dieser Effekt wird besonders groß sein, sollte Russland einen militärischen Sieg beziehungsweise ungerechten Siegfrieden in der Ukraine erringen.
Kleinere Mächte können sich nicht mehr auf den UN-Sicherheitsrat, die Vereinigten Staaten und das Völkerrecht als Garanten der territorialen Integrität friedlicher UN-Staaten verlassen. Eine nachhaltige Lösung ihres Sicherheitsdilemmas durch politische, diplomatische oder konventionelle militärische Mittel wird nicht mehr möglich sein. Massenvernichtungswaffen könnten sich in diesem Fall für Regierungen rund um die Welt als geeignete Instrumente zur Abschreckung potenzieller Feinde sowie zur dauerhaften Sicherung der Unabhängigkeit, Grenzen und Bevölkerungen ihrer Staaten darstellen.
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