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Putins Angriffskrieg: Ex-Außenminister – "Ukraine gewinnt Krieg bereits"


Ex-Außenminister Klimkin
"Die Ukraine gewinnt diesen Krieg bereits"

InterviewEin Interview von Simon Cleven

Aktualisiert am 04.10.2025Lesedauer: 7 Min.
UKRAINE-CRISIS/SOUTH-FRONTLINEVergrößern des Bildes
Ukrainische Soldaten nehmen an einer Militärübung teil: "Ich denke nicht, dass es mit der aktuellen russischen Führung einen nachhaltigen Frieden geben kann", sagt der ehemalige Außenminister Pavlo Klimkin. (Quelle: UKRAINIAN ARMED FORCES/reuters)
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Seit 2014 führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Zu Beginn des Konflikts im Donbass war Pavlo Klimkin Außenminister, heute beobachtet er das Geschehen von außen. Ein Gespräch über den Krieg, russische Provokationen und deutsche Führungsstärke.

Zwei Jahre lang lebte und arbeitete Pavlo Klimkin mitten in Berlin. Der Ukrainer vertrat sein Land von 2012 bis 2014 als Botschafter in Deutschland. Es war eine bewegte Zeit, denn damals fand nicht nur die Revolution der Würde auf dem Maidan-Platz in Kiew statt, sondern auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland. Ab 2014 vertrat er dann sein Land als Außenminister auf der ganz großen politischen Bühne. Nach Berlin komme er aber immer gern zurück, sagt Klimkin, als t-online ihn im Rahmen der Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung in der Hauptstadt trifft.

Gleich zu Beginn macht Klimkin klar, dass die jüngsten Provokationen Russlands im Nato-Luftraum kein Zufall sind. Er sieht die Verletzungen als Test – und als Weckruf. Europa müsse lernen, entschlossener zu reagieren, auch mit "asymmetrischen Handlungen": von Cyberangriffen bis zur Stationierung zusätzlicher Raketen.

Doch Klimkin blickt über die akute Bedrohung hinaus. Er fordert einen Mentalitätswandel in Europa und sieht Deutschland in der Pflicht, Führungsverantwortung zu übernehmen. Ein Gespräch über Provokationen, rote Linien und die Frage, wie Europa seine Zukunft selbst in die Hand nehmen kann.

t-online: Herr Klimkin, Europa und die Nato ringen aktuell um eine Antwort auf immer neue Verletzungen ihres Luftraums durch Drohnen und Kampfjets. Dahinter vermuten Experten Russland, das uns offenbar provozieren will. Wie bewerten Sie diese Provokationen?

Pavlo Klimkin: Sie waren erwartbar, denn Russland geht klassischerweise so vor, um asymmetrische Wirkung zu erzielen. Die Luftraumverletzungen haben drei grundlegende Ziele: Das erste ist, Europas Reaktion zu testen, die Schnelligkeit und auch Muster dieser Reaktion. Das zweite Ziel besteht darin, Europa in Schach zu halten. Die betroffenen Staaten sollen große Ressourcen aufwenden, um solche Drohnen zu bekämpfen. Das ist tatsächlich eingetroffen, weil in Polen ziemlich teure Raketen eingesetzt wurden, um die Drohnen abzuschießen.

imago 88644859 Der Aussenminister der Ukraine, Pawlo Klimkin, in Kiew,18.01.2019. Kiew Ukraine *** The Minister of Foreign Affairs of Ukraine Pawlo Klimkin in Kiev 18 01 2019 Kiev Ukraine Copyright: xXanderxHeinlx
(Quelle: Xander Heinl/imago)

Zur Person

Pavlo Klimkin (Jahrgang 1967) ist ein ukrainischer Diplomat und studierter Physiker. Von 2014 bis 2019 war er Außenminister der Ukraine. Zuvor war Klimkin unter anderem Botschafter in Deutschland sowie stellvertretender Außenminister. Heute arbeitet er als außenpolitischer Experte bei der Denkfabirk Carnegie Endowment for International Peace. Er gilt als eine der profiliertesten Stimmen der ukrainischen Diplomatie seit der Krim-Annexion.

Und das dritte Ziel?

Es geht darum, den Alltag der Menschen auf dem Kontinent zu stören – also zum Beispiel einen Flughafen zu benutzen oder sich schlicht sicher und geborgen zu fühlen. All diese Ziele überschneiden sich ein Stück. Mein grundlegendes Problem ist, dass Russland mit diesen Versuchen teilweise erfolgreich war.

Bitte erläutern Sie das.

Russland hat gezeigt, dass Europa noch nicht dazu in der Lage oder willens ist, alles abzuschießen, das von dort in den europäischen Luftraum eindringt. Außerdem waren die Abschüsse in Polen teuer und mühsam. Und was macht man, wenn es plötzlich nicht mehr 24, sondern 240 Drohnen sind? Was passiert, wenn kritische Infrastruktur beeinträchtigt wird? Auf diese Fragen hat Europa noch keine Antwort. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist es vielleicht sogar positiv, dass Europa jetzt auf die Probe gestellt wird.


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Man sollte nicht die sogenannte strategische Ambiguität nutzen, sondern etwas, das ich taktische Ambiguität nenne.


Pavlo Klimkin


Was meinen Sie damit?

Möglicherweise wirken diese Provokationen an mancher Stelle als Weckruf. Denn Europa muss nicht nur seine Abwehrfähigkeiten verbessern, sondern seine ganze Mentalität ändern. Es muss verstehen, was zu tun ist, und solche Situationen nicht immer wieder einfach aussitzen.

Zuletzt wurden wiederholt Stimmen laut, die klare rote Linien der Europäer und der Nato gegenüber Russland fordern. Was schlagen Sie konkret vor?

Man sollte nicht die sogenannte strategische Ambiguität nutzen, sondern etwas, das ich taktische Ambiguität nenne. Die Europäer und die Nato sollten Russland sagen: Wenn ihr mit einer weiteren Provokation kommt, werden wir antworten. Und die Antwort könnte auch proaktiv ausfallen. In der Geopolitik gilt ein Grundsatz: Wenn man einen Hebel hat, dann zeigt man ihn. Wenn man nicht dazu in der Lage ist, dann hat man keinen Hebel. Nach all den Besprechungen müssen Taten folgen.

Video | Drohnenangriff löst Großbrand in russischer Anlage aus
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Quelle: t-online

Welche Taten könnten das sein?

Ich denke, es sollten asymmetrische Handlungen sein. So wie Russland es tut, könnte auch Europa den Russen mit hybriden Angriffen schaden, etwa im Cyberraum. Es könnte unterschiedliche und sehr kreative Lösungen geben. Europa hat alle Mittel, um Russland unter Druck zu setzen.

Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Ein paar zusätzliche Flugzeuge an der Ostflanke reichen dafür nicht. Eine interessante Reaktion wäre die Stationierung von mehr Raketen entlang der Grenze – mit der Androhung, diese auch zu nutzen, sollten die Provokationen ein anderes Niveau erreichen. Dazu müssen die Europäer aktiv an Abwehrfähigkeiten arbeiten. Das ist alles nichts Verrücktes oder besonders teuer. Europa könnte das von heute auf morgen tun.


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Europa legt zu viel Gewicht darauf, Trump und seine Regierung irgendwie zu managen.


Pavlo Klimkin


Die Nato reagiert vermutlich auch eher langsam und vorsichtig, weil aktuell klare Führung aus den USA fehlt. Auch mit Blick auf die Ukraine-Politik fährt Donald Trump einen schlingernden Kurs. Wie bewerten Sie seinen Einfluss auf den Krieg?

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Ich denke, dass Trump wirklich einen Deal mit Putin machen wollte. Allerdings nach seinen eigenen Regeln, nicht nach denen Putins und auch nicht nach denen der Ukraine. Ob Trump Putin und dessen Ziele wirklich versteht, weiß ich nicht. Es gibt jetzt aber einen Wandel in Trumps Rhetorik und auch seiner Taktik. Das sehe ich als ein wichtiges Zeichen. Ich denke aber auch, dass wir hier in Europa Trump oft nicht richtig verstehen.

Inwiefern?

Europa legt zu viel Gewicht darauf, Trump und seine Regierung irgendwie zu managen. Nach dem Nato-Gipfel in Den Haag dachten viele: "In einigen Jahren geben wir fünf Prozent für unsere Verteidigung aus. Jetzt ist alles in Ordnung." Doch das reicht nicht. Europa muss gemeinsam Stärke zeigen. Es muss Trump zu verstehen geben, dass es auch für ihn vorteilhaft ist, diese Partnerschaft zu haben. Was Trump bisher erreicht hat, bleibt weit hinter seinen Ambitionen zurück – denn ohne Europa wird es schwierig, voranzukommen.

Wie kann Europa das erreichen?

Es muss einen neuen Umgang mit Trump geben, viel selbstständiger. Dazu muss Europa ein klares Verständnis davon haben, wo es in zehn Jahren stehen will. Es reicht nicht, Milliarden in Waffensysteme zu stecken. Es braucht auch einen Mentalitätswechsel. Und Europa muss seine Führungskrise überwinden. Der Kontinent hat das Potenzial, im 21. Jahrhundert ein echter Akteur zu sein. Dazu reicht es aber nicht, immer wieder das Gleiche zu machen.

Wie stellen Sie sich Führung in Europa vor?

Ich denke, dass Deutschland dabei zentral ist. Ohne Deutschland wird Europa fragmentieren, mit Deutschland hat es eine gute Chance, einig zu bleiben. Das, was in Deutschland passiert, definiert die Zukunft Europas mit. Viele Politiker erkennen das und äußern in ihren Reden kluge Gedanken dazu. Aber bisher passiert nichts.

Warum ist das so?

Deutschland hat noch nicht mit einer echten Transformation des Landes begonnen. Es braucht einen neuen Sinn für Innovationen. Ein Beispiel: Berlin gründet ein Digitalministerium? Nach all diesen Jahren? Das klingt für mich wie ein Witz. Es gibt hier so viele kluge Menschen, viele Fähigkeiten, viel Engagement. Aber die Leute fangen an, Witze über Deutschland zu machen, über die deutsche Infrastruktur, die Deutsche Bahn. Ich glaube, Deutschland kann das besser.


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Will die Bundesregierung in Europa führen? Ja. Hat sie damit schon begonnen? Ein klares Nein.


Pavlo Klimkin


Denken Sie, dass die neue Bundesregierung in der Lage ist, Führung in Europa zu übernehmen?

Ich denke zumindest, dass diese Regierung ein Verständnis davon hat, was es in Europa braucht. Will die Bundesregierung also in Europa führen? Ja. Hat sie damit schon begonnen? Ein klares Nein.

Was fehlt uns?

Deutschland muss das menschliche Potenzial und technologische Innovationen in Europa vorantreiben. Mit der Kultur im Land ist das möglich. Ich meine damit etwa die politische Kultur, auf die Bildung von Koalitionen angewiesen zu sein. Gleichzeitig hält aber diese Mentalität, immer wieder das Gleiche zu machen, Deutschland davon ab, wirklich durchzustarten. Auch in Fragen europäischer Führung. Außerdem ist man hierzulande noch immer zu schüchtern, was Führung angeht.

Das hat auch historische Gründe.

Genau. Aber man muss jetzt aus der Mentalität des 20. Jahrhunderts herauskommen. Deutschland sollte aktiv werden. Es sollte sagen, dass es Vertrauen gewinnen und führen will. Bisher gibt es dafür aber keine Vorschläge.

Führung ist auch wichtig, um die Ukraine zu unterstützen. Es scheint jedoch so, als werde das angesichts von Trump in den USA und Gegenkräften in Europa immer schwieriger. Was können die Ukraine und ihre Unterstützer derzeit tun, um Russland politisch und militärisch den größten Schaden zuzufügen?

Es gibt gleich drei Mittel. Erstens, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte. Diese sollten gemeinsam mit europäischem Vermögen eingesetzt werden, um für heute und für morgen zu planen. Die Botschaft muss sein: "Was auch immer passiert, wir haben die Ressourcen, um Russland entgegenzutreten." Zweitens sollten wir Investitionen in die Ukraine als Investitionen in die Zukunft verstehen. Was jetzt in der Ukraine etwa an Waffen getestet wird, kann uns morgen helfen.

Und drittens?

Europa muss ein Verbündeter der USA werden, der von ihnen gebraucht wird. Man sollte sich nicht zu sehr auf ihren Rückhalt verlassen. Dazu muss Europa auch mehr Verantwortung übernehmen. Es reicht nicht mehr, über eine "Koalition der Willigen" zu sprechen. Es müssen Taten folgen. Das müssen auch nicht zwangsläufig Bodentruppen sein. Jede Hilfe zum Widerstand der Ukraine ist nützlich. Russland versteht nur die Sprache der Stärke.

Kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen?

Die Ukraine gewinnt diesen Krieg bereits. Nach elf Jahren Krieg besteht die ukrainische Nation weiterhin auf ihrem Territorium. Wir sind auf dem Weg in die EU. Wir sind in der Lage, zu kämpfen. Wir können zunehmend mehr Waffen produzieren. Natürlich sind wir erschöpft, aber wir haben gleichzeitig keine Angst. In diesem Sinne gewinnen wir diesen Krieg. Denn für Russland existieren wir als Staat nicht. Dennoch sind wir da. Deshalb darf niemand in Europa und dem Rest der zivilisierten Welt jemals die russische Besatzung anerkennen, das würde die Büchse der Pandora öffnen.

Kommt es bald zu einem Waffenstillstand oder gar einem Frieden?

Ich denke nicht, dass es mit der aktuellen russischen Führung einen nachhaltigen Frieden geben kann. Vielleicht kommt es zu einem Waffenstillstand, einer Art neuer Realität. Natürlich wollen wir unser Land zurück, am besten jetzt oder morgen. Das sollte Teil unserer politischen Idee bleiben. Für mich geht es dabei vor allem um eines: Wir bestehen als Nation auf unserem Land als ein demokratischer und europäischer Staat.

Herr Klimkin, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Pavlo Klimkin, 29. September 2025
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