Interview in Ungarn Merkel offenbart fatale Fehleinschätzungen

Angela Merkel macht den Balten und Polen einen Vorwurf: Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hätten sie einen Dialog mit Putin verhindert. Ihre Aussagen offenbaren fatale Fehleinschätzungen. Ein Gastbeitrag.
Altkanzlerin Angela Merkel sorgt einmal mehr mit der Verteidigung ihrer Russland-Politik für Schlagzeilen. In einem aktuellen Interview mit dem ungarischen Medium "Partizán" erklärte Merkel, die Logik des Minsk-II-Abkommens hätte den Angriff Russlands auf die Ukraine verhindern können. Ein diplomatischer Vorstoß zu einem Dialog mit Russland ab 2021, so die Altkanzlerin weiter, sei zudem an der negativen Haltung Polens und der baltischen Staaten gescheitert.
Diese nur scheinbar rationale Einschätzung offenbart eine Reihe von kognitiven und politischen Vorurteilen, die bis heute zur westlichen Blindheit gegenüber Russland beitragen.
Die neue Studie "Blinded by Bias" der Denkfabrik Hague Centre for Strategic Studies hat genau jene Vorurteile untersucht, die schon vor dem russischen Überfall 2022 zu fatalen Fehleinschätzungen geführt haben. Dazu werteten die Studienautoren 44 Interviews mit Beratern von Regierungschefs und anderen europäischen Spitzenbeamten aus und analysierten offizielle Dokumente und Berichte.
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Merkels "Minsk-Glaube"
Merkels Argumentation, dass wirtschaftliche Anreize, Sanktionen und vor allem diplomatische Gespräche Russland dauerhaft von der Vollinvasion in die Ukraine hätten abhalten können, beruht auf der gefährlichen Grundannahme, dass die gleiche rationale Interessenabwägung einer Demokratie auch in autoritären Regimen gilt.

Zur Person
Julius von Freytag-Loringhoven (geb. 1981) leitet seit Oktober 2024 die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung in den baltischen Staaten am Standort Vilnius. Von 2012 bis 2020 leitete er das Moskauer Büro der FDP-nahen Stiftung. Von Freytag-Loringhoven studierte Politik, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Kent, Sankt Petersburg, München und Brüssel.
Doch genau diese Annahme identifiziert die HCSS-Studie als "Spiegelbild-Vorurteil". Die Autoren schreiben: "Die Politiker gingen davon aus, dass sich die russische Führung auf westliche Rationalitätskonzepte stützen würde … Sie schätzten Putins Absichten falsch ein und unterschätzten seine Risikobereitschaft."
Merkel wiederholt damit die Denkfehler, die Deutschland schon vor 2022 in die außenpolitische Sackgasse führten – die Überzeugung, "Wandel durch Handel" könne die imperialistische Aggression einer Diktatur zähmen.
Die Macht der Selbstberuhigung
Ein weiteres zentrales Muster aus "Blinded by Bias" ist die sogenannte kognitive Dissonanz: Politiker blendeten Warnsignale aus, weil sie nicht zu ihrem Weltbild passten. Merkels jüngstes Interview zeigt, dass dieser Mechanismus weiterwirkt. Die Vorstellung, Putin hätte durch Dialog gebremst werden können, vermeidet die schmerzliche Erkenntnis, dass Jahrzehnte deutscher Russland-Politik auf einem Trugschluss beruhten.
Das Minsk-II-Abkommen
Das Minsk-II-Abkommen wurde im Februar 2015 zwischen der Ukraine, Russland, den Separatisten in der Ostukraine sowie der OSZE vermittelt. Es sollte den Krieg im Donbass beenden. Vereinbart wurden unter anderem ein Waffenstillstand, der Abzug schwerer Waffen und politische Reformen. Das Abkommen wurde jedoch nie vollständig umgesetzt. Der Vorgänger, Minsk I, war bereits kurz nach der Unterzeichnung im September 2014 gescheitert.
Als ich 2012 Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung wurde, stellte ich die Frage, ob nicht wir im Westen Mitschuld an Putins zunehmend aggressiver Politik hätten. Da wusch mir ein liberaler russischer Oppositioneller den Kopf, indem er sagte: "Seid mal nicht so größenwahnsinnig in Deutschland. Wenn ein krimineller KGB-Mann die Macht übernimmt, hat nicht alles, was er tut, mit Euch zu tun."
Selbstabschreckung statt Abschreckung
Auch das sogenannte Selbstabschreckungs-Vorurteil der Studie vom Hague Centre kann Merkels Bewertung erklären. Schon 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der russischen Invasion in den Osten der Ukraine zögerten Berlin und Paris, Kiew militärisch zu unterstützen – aus Angst, Russland zu provozieren. Merkels heutige Kritik an Polen und den baltischen Staaten, die frühzeitig auf Abschreckung setzten, wiederholt genau diese Selbstblockade.
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Ironischerweise waren es ausgerechnet jene Staaten, die Merkel heute indirekt tadelt, die die Gefahr damals korrekt einschätzten. Aus Estland, Lettland, Litauen und Polen kam schon seit 2014 notwendige militärische Unterstützung, die der Ukraine half, Russlands Invasion 2022 zu stoppen.
Vom Erbe der Ostpolitik zur analytischen Blindheit
Die Autoren der Studie beschreiben Deutschlands Haltung vor 2022 als eine Mischung aus ökonomischem Selbstinteresse und pazifistischer Selbstberuhigung. Merkels neue Aussagen zeigen, dass diese Einschätzungen tief sitzen: die Annahme, Kooperation statt Konfrontation bringe Sicherheit; die Überzeugung, Russland sei berechenbar wie man selbst, samt einem Misstrauen gegenüber Sicherheitsbedenken der östlichen Nachbarn. All das sind laut der Denkfabrik klassische Beispiele für Vorurteile aus Vorstellungen, die sich allein aus der eigenen Erfahrung schöpfen und andere Einschätzungen unterdrücken.
Immerhin zieht Angela Merkel aber aus der inzwischen veränderten Lage im gleichen Interview den Schluss, dass heute eine robustere Sicherheitsarchitektur, Abschreckung und Ukraine-Unterstützung notwendig sind.
Ein warnendes Beispiel politischer Selbsttäuschung
Damit folgt sie der Linie der aktuellen Bundesregierung unter Friedrich Merz. Nur bleibt der Appell der Hague-Centre-Studie aktuell, auch die bisherigen Fehlwahrnehmungen endlich bewusst zu analysieren.
Nur wer die eigenen Vorurteile erkennt, kann künftige Krisen richtig einschätzen. Angela Merkels jüngstes Interview belegt, wie tief manche Denkfehler sitzen – selbst bei der klugen Kanzlerin, die Europa 16 Jahre lang prägte. Solche Vorurteile und Denkfehler können uns in Zukunft leicht wieder in die gleiche Falle tappen lassen. Wer das heutige Russland durch die Brille westlicher, wirtschaftlicher und institutioneller Rationalität betrachtet, riskiert, denselben Fehler zu wiederholen. Mit noch höheren Kosten.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung der Autoren wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.
- Eigene Überlegungen
- youtube.com: "Angela Merkel: a magyar nép feladata eldönteni, újraválasztja-e Orbán Viktort" (ungarisch)
- hcss.nl: "Blinded by Bias: Why the West Failed to See Russia’s Invasion Coming" (englisch)



