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Trump, Putin, Musk, KI und Krieg: "Es droht eine Ära grenzenloser Gewalt"


Politikanalyst Giuliano da Empoli
"Jetzt kommt die bitterböse Rechnung"

InterviewEin Interview von Marc von Lüpke

06.10.2025Lesedauer: 11 Min.
Donald Trump und Wladimir Putin: Der US-Präsident will mit Gleichgesinnten alle Regeln zertrümmern, warnt Schriftsteller Giuliano da Empoli.Vergrößern des Bildes
Donald Trump und Wladimir Putin: Der US-Präsident will mit Gleichgesinnten alle Regeln zertrümmern, warnt Schriftsteller Giuliano da Empoli. (Quelle: Daniel Torok/White House/imago-images-bilder)
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Das Chaos wird zur Normalität, die alte Weltordnung wird zerschlagen – so wollen es Donald Trump, Wladimir Putin und ihre Gleichgesinnten aus der Tech-Welt. Vor allem Europa ist in höchster Gefahr, warnt Politologe Giuliano da Empoli.

Kriege sind entfesselt, Krisen und Konflikte nehmen zu: Kann die Lage noch schlimmer werden? Ja, sagt Giuliano da Empoli, Politologe, Berater und preisgekrönter Schriftsteller, der sich seit Jahrzehnten mit Macht und ihren Erscheinungsformen beschäftigt. Politische Extremisten wie Donald Trump haben nun ein Bündnis mit den Mächtigen der Tech-Welt geschlossen, warnt da Empoli in seinem neuen Buch "Die Stunde der Raubtiere".

Warum wollen Trump und Co. die Welt erschüttern? Wie gehen sie vor? Und wie kann sich Europa schützen? Diese Fragen beantwortet Giuliano da Empoli im Gespräch.

t-online: Professor da Empoli, Ihr neues Buch liest sich wie eine allerletzte Warnung, die "Stunde der Raubtiere" sei gekommen. Wie schlimm kann es werden?

Giuliano da Empoli: Sehr schlimm. Uns droht eine Ära grenzenloser Gewalt, das Schlimmste erwartet uns noch. Besonders alarmierend ist die Tatsache, dass die Verteidiger der Freiheit so miserabel vorbereitet sind. Wir haben uns zu lange der Illusion hingegeben, dass sich die Raubtiere dauerhaft durch Regeln einhegen und bändigen lassen würden. Das erwies sich als Irrtum.

Wir lebten seit Ende des Zweiten Weltkriegs mit der liberalen, regelbasierten Weltordnung also in einer historischen Anomalie?

Ich fürchte es, ja. Wir hatten das große Glück, eine lange Zeit des Friedens und der Demokratie zu erleben. Aber der Glaube, dass dieser Zustand normal ist, ist falsch. Tatsächlich ist das erfolgreiche Fernhalten der Raubtiere in der Geschichte eher die Ausnahme als die Regel. Es gibt immer wieder Phasen, in denen die Raubtiere frei umherstreifen, unterbrochen wiederum von Phasen, in denen sie gebändigt werden können.

Zur Person

Giuliano da Empoli, geboren 1973, ist italienisch-schweizerischer Schriftsteller und Politologe. Da Empoli war Berater des früheren italienischen Regierungschefs Matteo Renzi und ist Gründer des pro-europäischen Thinktanks Volta in Mailand. Gegenwärtig ist da Empoli Professor für vergleichende Politikwissenschaft am Institut d’études politiques de Paris in Paris. Sein Roman "Der Magier im Kreml" avancierte zum Bestseller, kürzlich erschien da Empolis neues Buch "Die Stunde der Raubtiere. Macht und Gewalt der neuen Fürsten" im Verlag C. H. Beck.

Wer sind diese Raubtiere? Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping und andere, die ihnen lästige Regeln abschütteln wollen?

Wir haben es mit zwei Kategorien von Raubtieren zu tun. Trump und die anderen extremistischen Führer weltweit bilden die politische Kategorie. Es sind brutale Figuren, die rücksichtslos Gewalt anwenden, oft unüberlegt und unvorhersehbar, sie wollen schnell handeln und Dinge zerstören, die ihnen nicht gefallen. Diese Figuren und ihr Handeln mögen auf den ersten Blick modern erscheinen, doch im Grunde sind sie sehr alt. Wer sie verstehen will, sollte lieber zu römischen Autoren wie Tacitus oder Juvenal greifen als zu den Werken der Politikwissenschaft der letzten 20, 30 Jahre.

Tech-Giganten wie Elon Musk, Mark Zuckerberg und Co. gehören zur zweiten Kategorie der Raubtiere. Was macht diese Leute besonders gefährlich?

Wir haben die Tech-Overlords für nette Typen mit Kapuzenpullis gehalten, nun erkennen wir, dass sie viel mit den Raubtieren vom Schlage eines Donald Trump gemeinsam haben. Sie eint das Ziel, die alten Eliten zu beseitigen. Damit meine ich nicht nur unsere bisherigen Politiker, sondern auch die Medien und jede Art von Autorität, Regeln und Gesetzen, die ihre Macht beschränken. Sie wollen die liberale Demokratie beseitigen und ein weniger demokratisches, wesentlich schnelleres System erschaffen. Diese Überstimmung zwischen diesen beiden Arten von Raubtieren ist neu, das macht sie auch so ungeheuer gefährlich.

Wie gefährlich?

Trump führt einen illustren Tross aus Autokraten an, die keine Hemmungen kennen. Dazu gehören Tech-Konquistadoren, Reaktionäre und Verschwörer. Sie können den Kampf kaum erwarten – und sie sind im Augenblick im Vorteil.

Inwiefern?

Ich sehe eine Parallele zum Italien des 16. Jahrhunderts: Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurden dort die kleinen Staaten der Renaissance durch eine ausländische Invasion aus Frankreich ausgelöscht. Dafür war vor allem eine technologische Revolution verantwortlich, nämlich die Erfindung der schweren Artillerie. Zuvor waren die Verteidiger der Städte im Vorteil, weil sie etwa ihre Mauern hatten, mit denen sie sich vor Angreifern schützten. Die schwere Artillerie war aber so mächtig, dass sie die Befestigungsanlagen durchbrechen konnte, was den Angreifern einen Vorteil verschaffte. Wenn man das Pech hat, sich in einer Phase zu befinden, in der der technologische Vorteil beim Angreifer liegt, wird dieser natürlich gewalttätiger. Denn Aggression wird belohnt.

Wir haben dieses Pech gegenwärtig, oder? Drohnen verändern etwa die Kriegsführung momentan grundlegend.

Genau das erleben wir gerade. Eine Drohne im Wert von 1.000 Dollar kann Schäden im Wert von Abermillionen verursachen. Das betrifft den militärischen Bereich. Aber in unserer Gesellschaft verhält es sich genauso: Die öffentliche Diskussion verlagert sich in den digitalen Raum; auch dort wird Aggression belohnt. In dem Sinne, dass man sich in einem System befindet, in dem Angriffe nichts kosten: Man zahlt keinen Preis, man trägt keine Verantwortung, in den sozialen Medien lässt sich jederzeit eine Kampagne starten, um jemanden zu diffamieren. Wir befinden uns in einem Umfeld, das die Raubtiere ungeheuer anstachelt.

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Was tun?

Ich bin keineswegs ein Technikfeind, auch nicht von Künstlicher Intelligenz. Die digitale Technologie ist nicht das Problem, das Problem ist ihre Regulierung. Die ist mangelhaft bis hin zu nicht existent. Dadurch sind wir nun mit einer enormen Machtkonzentration in den Händen weniger Menschen konfrontiert.

Kann diese Anhäufung von Macht in Händen von Tech-Milliardären und extremistischen Politkern noch unter Kontrolle gebracht werden?

Es könnte längst zu spät sein. Die Tech-Konquistadoren stehen jetzt offen an der Seite der extremistischen Politiker, sie wollen jede Art von Regeln auslöschen. Sie fühlen sich nun stark genug, den alten Eliten den Krieg zu erklären.

Hegen Sie keinerlei Optimismus mehr?

Wir sollten nicht verzagen. Es ist ein unfassbar schwieriger Weg, aber insbesondere für Europa besteht noch Hoffnung. Ein und dieselbe Technologie kann an unterschiedlichen Orten der Welt völlig unterschiedliche Auswirkungen haben. Das war einst bei der Druckerpresse der Fall, das kann heute ebenso bei den digitalen Technologien, die sich rasant entwickeln, so sein. Wir brauchen nun ein europäisches Modell, digitale Technologien in unsere Gesellschaften und unsere Politik zu integrieren. Warum sollten wir kritiklos das amerikanische oder chinesische Modell übernehmen?

Um Ihren Vorschlag zu realisieren, braucht es eine harte Regulierung der Technologie und der entsprechenden Unternehmen. Dagegen wehren sich die Digitalriesen vehement.

Niemand sollte der Rhetorik der Tech-Bros glauben, dass Regulierung immer schlecht für Innovationen sei. Das ist ebenso unsinnig wie die Behauptung, dass rote Ampeln schlecht für die Entwicklung von Automobilen wären. Schlechte Regulierung ist ein Nachteil, ja, aber für eine gute und notwendige Regulierung trifft das nicht zu.

Welcher Mittel bedienen sich die Raubtiere, um ihre Macht auszubauen?

Chaos ist eigentlich die Waffe von Rebellen, heute ist sie das Markenzeichen der Machthaber. Wie meine ich das? Wenn wir uns die letzten zehn Jahre ansehen, stoßen wir auf diese sehr aggressiven und etwas chaotischen Strategien zur Machtübernahme: Trumps Wahl 2016 gehört dazu, in gewisser Weise auch die Kampagne für den Brexit, ebenso die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Die Ausgangssituation war immer die gleiche, es gab eine Art reguliertes System im Zentrum des jeweiligen Landes, das sich mit diesen aggressiven und chaotischen Kampagnen konfrontiert sah, um die Macht zu übernehmen. Manchmal waren sie erfolgreich, manchmal nicht.

Mittlerweile hat das Chaos also Methode?

Nun sehen wir, dass dieses chaotische Modell die Oberhand gewonnen hat. Es ist eine Art Umschwung, ich würde es als eine Art Karneval bezeichnen: Karneval ist die Umkehrung aller Werte, die Reichen sind für diese Zeit arm, die Mächtigen werden machtlos. Das passiert mit unserem System, wenn Chaos herrscht: Alles wird auf den Kopf gestellt. Wenn jemand Erfahrung durch frühere Regierungsarbeit hat, dann ist das schlecht, weil die alte Regierung schlecht war. Wenn jemand kompetent ist, dann ist das schlecht, weil man dann ein kompetenter Teil eines verdorbenen Systems war.

Eine diabolische Logik …

Nicht wahr? Wenn man hingegen inkompetent ist, ist das gut, weil man dann nicht Teil dieses alten Systems ist. Wenn diese Art von Logik die Oberhand gewinnt, dann wird es kritisch. In den meisten europäischen Ländern ist es noch nicht so weit, aber es ist definitiv in den USA der Fall, ebenso in einigen südamerikanischen Ländern. Das Chaos wird zur Hegemonie, anstatt ein Werkzeug zu sein. Die Raubtiere fühlen sich in diesem Zustand wohl, denn sie ernähren sich vom Chaos.

Nach ihrem Bestseller "Der Magier im Kreml", einem Roman, der den Aufstieg Wladimir Putins zum Thema hat, ist Ihr neues Werk nun wieder ein Sachbuch. Warum haben Sie das Genre gewechselt?

Da die Realität allmählich verrückter wird als die Fiktion, versuche ich in meinem neuen Buch die Realität in Form eines Sachbuchs zu beschreiben. Weniger mit Theorie, sondern mit dem Fokus auf die Schilderung von Charakteren, Beobachtungen und Überlegungen. Daraus lässt sich eine Menge lernen.

Haben Sie ein Beispiel?

Es gibt diese Szene mit Alexander Nix, dem früheren Chef von Cambridge Analytica, einem Unternehmen, das im großen Stil Wählerdaten sammelte, um ihr Wahlverhalten zu beeinflussen. Nix erklärte einmal einer Gruppe reicher Männer, was eine traditionelle Werbeagentur tun würde, um verstärkt Coca-Cola in einem Kino zu verkaufen: mehr Werbung, bessere Werbeträger, eben dies und das. So lässt es sich zusammenfassen.

Nix hatte einen anderen Ansatz.

Genau. Nix erklärte den einen und einzigen Grund, warum ein Mensch Cola im Kino kauft: Weil er Durst hat. Wie steigert man also den Durst der Leute im Kino? Indem man die Temperatur hochdreht. Damit hat Nix die Funktionsweise der sozialen Medien ziemlich genau auf den Punkt gebracht, so arbeitet das Digitale, so arbeiten viele Plattformen. Es geht darum, die Stimmung anzuheizen.

Ist allein Geld der Antrieb?

Sie tun das nicht mit dem ursprünglichen Ziel, die Demokratie zu stören, im Grunde arbeiten sie daran, Werbung zu verkaufen. Die Störung der Demokratie und der öffentlichen Sphäre ist ein Nebeneffekt davon. Allerdings ist das ein ziemlich verstörender Nebeneffekt, um den wir uns dringend Gedanken machen sollten.

Donald Trump besitzt mittlerweile mit Truth Social seine eigene Plattform, dazu kommt seine lange Erfahrung als eine Art Entertainer. Wie wichtig ist der Faktor Show in der Politik?

Ronald Reagan wurde einmal gefragt, wie ein Schauspieler Präsident der Vereinigten Staaten sein könne. Reagan entgegnete, dass er nicht verstehe, wie man US-Präsident sein könne, ohne Schauspieler zu sein. Es gab immer diese Verbindung zwischen Politik und Show, aber mittlerweile hat sich etwas verändert. Und zwar handelt es sich um die Art der Show: Wenn man sich in einem Umfeld bewegt, das extremes Verhalten belohnt, gerät etwas ins Rutschen. Denn diese Dynamik erfordert immer extremere Sensationen, es spielt keine Rolle mehr, ob man heute dem widerspricht, was man noch am Tag zuvor verkündet hat.

Trump beherrscht dieses Spiel nahezu perfekt.

Trump und Menschen wie er haben etwas Hypnotisches. Jeden Tag wachen wir hier in Europa auf und bekommen mit, was er nun wieder gesagt und getan hat. Es ist tatsächlich so, als würde uns Trump jeden Tag etwas hypnotisieren. Er lässt uns keine Zeit zum Nachdenken, weil er schon längst wieder andere Themen jagt.

Wie denkt Trump wohl?

Das ist eine gute Frage. Trump liest überhaupt nicht, weder Bücher noch Zeitschriften oder die paar Zeilen, die ihm Berater hinlegen, um ihn vor einem Gespräch oder einer Entscheidung vorzubereiten. Trump funktioniert ausschließlich verbal. Das ist nicht sehr gut, um wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen, aber er agiert mit seinem Instinkt, seinem Talent für die Show. Trump ist frei von jeglicher Struktur, es gibt nichts, was ihn bremsen könnte. Er konzentriert sich einfach auf das, was gerade aktuell ist, mit einem bemerkenswerten Instinkt. Auch das ist ein Führungsmerkmal der Raubtiere.

Wie ist das gemeint?

Es geht nicht nur darum, eine Entscheidung zu treffen, sondern auch darum, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung nach reiflicher Überlegung und guter Planung zu treffen, kann nahezu jeder in den Augen dieser Leute. Aber eine Entscheidung, die völlig unerwartet und überraschend ist, etwas, mit dem niemand rechnet, das ist ein echter Akt der Macht.

In den liberalen Demokratien haben wir die Macht aus guten Gründen gebändigt.

Bei Goethe findet sich die Geschichte des Herzogs von Sachsen, alt und eigensinnig. Als er gebeten wurde, eine besonnene Entscheidung zu treffen, kam dieses: "Ich will nichts bedenken, nichts überlegen, wozu wäre ich denn sonst Herzog von Sachsen?" Heute ist die Faszination für schnelle Entscheidung so mächtig, weil viele Menschen das Gefühl haben, dass nichts passiert, dass das System festgefahren ist, dass man Probleme nicht lösen kann. Entsprechend beeindruckt sind sie dann, wenn jemand zeigt, dass er vorschnelle Entscheidungen treffen kann.

Nun ist zu befürchten, dass die Künstliche Intelligenz Entscheidungen für uns treffen wird.

Jake Sullivan war unter Joe Biden als Nationaler Sicherheitsberater einer der bestinformierten Menschen dieser Welt. Als er das Weiße Haus verließ, wies er darauf hin, dass es aktuell fünf oder sechs Projekte in den USA gibt, die mit dem Manhattan-Projekt, das immerhin die Atombombe hervorbrachte, vergleichbar sind. In dem Sinne, dass sie das gleiche Potenzial haben, die Welt zu verändern. Allerdings beklagte Sullivan, dass sie in der Administration nicht die Kontrolle darüber gehabt haben, sie nichts darüber wussten und völlig machtlos waren. Ich finde das beängstigend.

Im Grunde handelt es sich doch stets um eine Machtfrage?

Ja, es geht um Macht. Welche Bereiche unseres Lebens wollen wir weiter vollständig von Menschen kontrollieren? Welche Bereiche wollen wir an die KI delegieren? Ich persönlich finde, dass wir die Freiheit haben sollten, diese Entscheidung treffen zu dürfen – und sie nicht einfach in jedem Bereich aufgezwungen bekommen sollten. Genau das passiert nämlich gerade zum Teil. Es ist also tatsächlich eine Frage der Macht.

Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Funktionen mit Politik und Macht. Was fasziniert Sie daran?

Wahrscheinlich habe ich mich schon von klein auf damit beschäftigt. Ich wuchs zwischen Paris und Brüssel auf, als ich zehn Jahre alt war, zog meine Familie dann nach Italien, wo später auf meinen Vater, der Ökonom als Berater für die Regierung tätig war, ein Terroranschlag verübt worden ist. Er wurde nicht getötet, aber verletzt. Irgendwie hatte ich früh das Gefühl, dass die Politik der Schauplatz war, an dem das Relevante geschah.

Wie sehen Sie die Sache heute?

Heute glaube ich, dass die grundlegende Aufgabe der Politik darin besteht, uns daran zu hindern, uns umzubringen, wenn wir unterschiedliche Meinungen oder Interessen haben. Es wäre gut, wenn wir das so beibehalten könnten.

Das ist eine ziemlich nüchterne Sicht auf die Dinge.

Sie ist aber in unserer Zeit notwendig. Daraus lassen sich zwei Lehren ziehen: Erstens kehrt die Gewalt sofort zurück, wenn die Politik versagt, sie dysfunktional wird. Und zweitens zieht die Politik, selbst wenn sie funktioniert, gewalttätige Charaktere an. Aber wenn das System funktioniert, gibt es zumindest keine physische Gewalt, denn es absorbiert viel dieser Gewalt. Auch wenn die Menschen, die damit zu tun haben, gleichwohl eine gewisse Gewalt konzentrieren.

Nun hat also die "Stunde der Raubtiere" geschlagen, Ihr Buch gibt wenig Grund zu Optimismus. Haben Sie nicht ein wenig Hoffnung?

Ursprünglich umfasste das Buch tatsächlich drei Seiten mehr, drei Seiten mit eher optimistischem Inhalt. Ich habe sie weggelassen, weil mir klar geworden ist, dass das Buch stärker ist, wenn es sozusagen vom dunklen Schlag ist. Den Lesern wollte ich auch keine Überlegungen zumuten, an die ich nicht selbst fest glaube.

Dann also zum Schluss bitte noch einmal schonungslos: Was erwartet uns Europäer?

Europa drohen Erniedrigung und Demütigung. Es ist, als wenn wir als wohlhabende Provinz des Römischen Reiches bislang gute Kaiser gehabt hätten, plötzlich beherrscht uns nun ein Nero oder Caracalla. Dann wird deutlich, dass man eigentlich nicht souverän ist, dass man nicht mehr die Kontrolle über sein eigenes Schicksal hat. Schlimmer noch: Wir sind etwas Schlimmen ausgesetzt, weil wir weder militärisch noch wirtschaftlich und technologisch souverän sind. Jetzt kommt die bitterböse Rechnung, wir müssen den Preis bezahlen. Aber sind wir dazu bereit?

Sind wir es?

Ich fürchte nicht. Die europäischen Staats- und Regierungschefs wollen Trump einbinden, ihn bei der Ukraine ins Boot holen, auch mit seinen Zöllen wollen sie umgehen. Das sind alles nahezu technische Details, die das gewaltige eigentliche Problem übertünchen: Die Raubtiere zielen darauf ab, die liberale Demokratie abzuschaffen und durch etwas anderes zu ersetzen. Schauen Sie sich die ausdrückliche Unterstützung der Trump-Administration für die AfD in Deutschland und rechtsextreme Bewegungen in ganz Europa an. Da droht die tödliche Gefahr.

Haben Sie einen Rat?

Es braucht Mut, wir dürfen nicht ängstlich sein. Was sagte Trump neulich vor der Generalversammlung der Vereinten Nation an die Europäer gewandt? "Eure Länder fahren zur Hölle!" Wer kann das anders als Drohung verstehen? Die Raubtiere warten schon, diese Leute sind unfassbar gefährlich. Als Europäer sollten wir ruhig ein wenig stolzer auf das sein, was uns ausmacht – und uns der Raubtiere erwehren.

Professor da Empoli, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Giuliano da Empoli in Berlin
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