Kolumne "Russendisko" Alle müssen nun Angst haben

Autokraten sind misstrauisch. Das bekam eine junge Straßenmusikerin in Russland zu spüren, die sich in Handschellen wiederfand. Nicht gerade clever von Putins Schergen, meint Wladimir Kaminer.
Wie ein bissiger Hund, der sich von der Kette gerissen hat, jagt Putins Regime durch die Straßen Russlands, stellt zufälligen Passanten nach und beißt Fußgängern in die Waden. Selbst loyale Bürger haben Angst vor ihm. Die Beamten, die Minister, die Geschäftsmänner, alle haben Angst.
Trotz des fast vier Jahre andauernden Krieges gegen die Ukraine und des ununterbrochenen Propagandaflusses in den Medien tragen noch viele Menschen in Russland die Erfahrung der persönlichen Freiheit in sich. Immerhin hatten die Russen, anders als die Nordkoreaner, gut zwanzig Jahre lang in relativer Freiheit gelebt, wenn auch nicht bei der Präsidentschaftswahl, dann aber zumindest im Bereich Kunst und Kultur.

Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch ist "Das geheime Leben der Deutschen", das am 27. August 2025 erschienen ist.
Künstler durften sich frei austoben, in den Galerien, auf Theaterbühnen und in den Kinos durften sie sagen, was sie möchten – solange es nicht um primär politische Themen ging. Man durfte sogar öffentlich den Westen loben, für den Frieden sein und auf Stalin schimpfen. Man durfte lachen, sogar über einige speziell markierte russische Politiker Witze im Fernsehen machen. Seit der Präsident von dem tollwütigen Schweinehund des Krieges gebissen wurde, ist damit Schluss.
Besonders gefährdet sind heute diejenigen, die viel Zeit draußen, auf der Straße verbringen: die Jugend und die Künstler. Das Regime hat den Straßenmusikern den Krieg erklärt. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Verhaftung Naokos, einer achtzehnjährigen Sängerin, die mit ihrer Band Stoptime auf den Straßen von Sankt Petersburg gesungen hat. Naoko, die mit bürgerlichem Namen Diana Loginowa heißt, ist keine politische Aktivistin.
Ein Horror für den Autokraten
Auch ihr Programm war nicht durch Inhalte aufgefallen, die das Regime gefährden könnten. Naoko sang einige Songs von Musikern, die in Russland neuerdings als "ausländische Agenten", "Extremisten" und "Terroristen" eingestuft werden. Dieses Schicksal ist aber zumeist populären jungen und alten Musikern widerfahren – sie mussten das Land verlassen, weil sie in Unfreiheit nicht singen konnten.
Naoko fühlte sich zu frei und wurde dafür verhaftet, auch verurteilt, gerade erneut. Die Härte der Strafe ist neu, obwohl der Kampf gegen die Straßenmusikanten in Russland nicht erst seit gestern tobt. Straßenmusiker mochte das Regime noch nie, sie sind mobil und schwer zu kontrollieren. Und wer soll die Verantwortung tragen, wenn auf der Straße Dinge laut gesungen werden, die nicht einmal geflüstert werden dürfen? Da kann ja jeder singen, was ihm in den Sinn kommt, eine Horrorvorstellung für den totalitären Staat.
Deswegen wurden die vorbeugenden Maßnahmen bereits vor Beginn des Einmarschs in die Ukraine beschlossen. Unter dem Vorwand der Ruhestörung wurde per Gesetz geregelt, dass alle Musikgruppen und Kulturschaffenden, die auf der Straße auftreten wollen, sich bei der Stadtverwaltung anmelden und sogar ihr Programm absprechen müssen. Danach könnten sie eine Auftrittsgenehmigung beantragen. Diese Gesetze und Regeln haben die Straßenmusiker lange Zeit schlicht ignoriert.
Die hohe Anzahl an Gesetzen und Regeln wird in Russland traditionell durch stabiles Nichteinhalten ebendieser Gesetze und Regeln relativiert. Mit anderen Worten: Es gibt praktisch für jede menschliche Tätigkeit in Russland ein Verbot, an das sich niemand hält. Nicht anders verhält es sich mit der Musik auf der Straße. Im schlimmsten Fall wurden die Musiker von Polizisten verscheucht, sie mussten ihre Instrumente einpacken und weiterziehen, eine neue "Location" suchen.
Unbehagen bei der Jugend
Mit Naoko kam zum ersten Mal eine Musikerin von der Straße direkt in den Knast, nachdem ein Fußgänger ihr zugehört und die Polizei alarmiert hatte. Das Foto des Mädchens im Gerichtssaal erregte in den sozialen Medien großes Aufsehen. Ein junges zartes Geschöpf mit blondem Haar, einer großen Brille und in Handschellen löste bei den Jugendlichen im ganzen Land Unbehagen aus.
Zum ersten Mal seit der Ermordung von Alexei Nawalny, als Menschen in einer mehrtägigen Schlange zum Friedhof eine Art Flashmob bildeten, um schweigend gegen das Geschehen zu protestieren, gingen im Oktober in vielen Städten Russlands Jugendliche zum Musizieren auf die Straße. Tausende sangen mit. Sie sangen dieselben Songs, die Naoko in Sankt Petersburg gesungen hat, drehten Videos von ihren Auftritten und stellten die Aufnahmen mutig ins Netz. In diesen Videos sind sehr viele junge Menschen zu sehen, die freche Texte mitsingen. "Hört auf mit dem Krieg", das singen sie.
Der Blick, mit dem Diana Loginowa auf den Polizisten schaut, der ihr die Handschellen anlegt, eine Mischung aus Verwunderung und Fremdschämen, ist der Blick der jungen Generation Russlands auf das Regime im Kreml, auf die tollwütigen Rentner, die keine Zukunft haben und wie die Irren um sich schlagen. Wer könnte Naoko verpfiffen haben, und wie viele waren es? Tausende von Menschen waren bei ihrem Konzert auf der Straße vorbeigegangen, Hunderte waren stehen geblieben: Soldaten, Putins Fans, bullige Petersburger Beamte, Sicherheitspersonal, böse Rentner?
Interessanterweise wurde Naoko aufgrund eines einzigen Denunzierungsberichts eingesperrt. Der "besorgte" Bürger, der sie denunziert hat, heißt Michail Nikolaew, laut Eigenbezeichnung "ein patriotischer Rapper und Inhaber einer Autolackiererei."






