Neuordnung der Welt "Für Deutschland ist das eine schlechte Nachricht"

Die Weltlage ist gefährlich, denn eine Epoche nähert sich ihrem Ende: Der Westen wird nicht länger den Globus dominieren. Wie dramatisch die Lage ist und welche Rolle Donald Trump dabei spielt, analysiert der Politologe Daniel Marwecki.
Der Westen steigt ab, andere Mächte steigen auf. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern wir befinden uns inmitten dieses Prozesses. Damit steigt nicht nur die Gefahr von Kriegen bei der Aushandlung einer neuen Weltordnung. Deutschland und andere westliche Staaten könnten komplett den Anschluss verlieren. Gerade in Zeiten eines Donald Trump im Weißen Haus, der keine Rücksichten nimmt.
Warum könnte aber ausgerechnet Trump eine positive Rolle bei der Verhinderung eines globalen Krieges spielen? Was müssten Deutschland und die Europäer nun dringend tun? Und welche Fehler wurden begangen? Diese Fragen beantwortet Daniel Marwecki, Autor des Buches "Die Welt nach dem Westen", im Gespräch.
t-online: Herr Marwecki, der Westen befindet sich schon länger im Abstieg, droht ihm mit Donald Trump nun der Absturz?
Daniel Marwecki: Donald Trump ist eine Art Abrissbirne. Er versteht Politik als das Recht des Stärkeren, seine Politik ist auch mit neuem Wahnsinn versehen. Dieser megalomanische Anspruch, diese Mischung aus Showgehabe, Brutalität und Nullkooperation, die eher vom Kampfsport als von Politik inspiriert ist, zeichnet den Trumpismus aus. Doch ist Trump eher ein Symptom als die Ursache des Abstiegs des Westens. Tatsächlich hat Trump in gewisser Weise ein entscheidendes Problem beseitigt.
Welches?
Die westliche Außenpolitik – und mit ihr die liberale Weltordnung – krankten an Scheinheiligkeit und Doppelmoral. Das hat Trump hinweggefegt, weil Moral keinerlei Rolle für ihn spielt. Das klingt nun zunächst übel, kann aber durchaus positive Auswirkungen haben: Denn Kriege werden meist von Leuten begonnen, die eine höhere Moral für sich beanspruchen.
Auch Wladimir Putin reklamiert in seinem Kampf gegen den Westen die Moral für sich.
Putin zieht alle Register, ja. Er deklariert seinen Krieg gegen die Ukraine als Kampf gegen einen spätimperialen, dekadenten Westen. So will er seiner Aggressivität Legitimität verleihen. Gerade vor den Staaten des sogenannten Globalen Südens.
Zur Person
Daniel Marwecki, geboren 1987, ist promovierter Politologe und lehrt Internationale Beziehungen an der University of Hong Kong. Marwecki schreibt unter anderem für Medien wie "Le Monde Diplomatique", "Taz" und "Unherd". Gerade ist mit "Die Welt nach dem Westen. Über die Neuordnung der Macht im 21. Jahrhundert" sein neues Buch erschienen.
Welche Rolle spielt nun ein Donald Trump im Abstiegsprozess des Westens?
Das ist eine gute Frage. Trump könnte eine dieser historischen Figuren sein, die das Ende einer Epoche markieren. Denn sie räumen mit der Scheinheiligkeit und den falschen Gewissheiten ihrer Zeit auf. Diese Überlegung stellte der 2023 verstorbene frühere US-Außenminister Henry Kissinger in einem seiner letzten Interviews an. Daraus folgt aber weder, dass Trump eine alternative Ordnung zu bieten hat, noch sich seiner historischen Rolle überhaupt bewusst ist. Es könne auch alles ein Zufall sein. So viel zu Kissingers Überlegungen.
Trump hält sich mit Sicherheit selbst für "historisch". Im Guten wie im Schlechten dürfte ihm tatsächlich ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher sein: für seine Demontage der liberalen Demokratie ebenso wie für die Waffenruhe im Krieg zwischen der Hamas und Israel.
Davon gehe ich ebenfalls aus. Fest steht, dass Trump sich kritikresistent gemacht hat, indem höhere Werte bei ihm kaum mehr vorkommen. Andererseits wirkt er gerade deswegen nahezu glaubwürdiger als so mancher seiner Vorgänger, denn Trump ist ein ehrlicher Lügner: Trump weiß, dass er lügt, seine Verhandlungspartner wissen, dass er lügt, ja, selbst seine Anhänger wissen, dass er lügt. Wenn moralische Standards fallen, ist das gleichwohl schlimm, denn dann herrscht die nackte Gewalt, das Recht des Stärkeren. Niemand muss – oder darf – sich darüber Illusionen machen.
- Trump trifft Putin: "Sind Autokraten die neuen Friedensstifter?"
Nun haben sich Deutschland und Europa eine Menge Illusionen über Donald Trump und die erodierende Weltordnung gemacht, wie Sie es auch in Ihrem Buch "Die Welt nach dem Westen" analysieren.
Die Welt, die Europa im 19. Jahrhundert geschaffen hat, kann der Westen nicht mehr allein beherrschen. Anstatt aber ein würdevolles Abstiegsmanagement einzuleiten und sich in die neue Weltordnung einzugliedern, setzt man aber immer eher auf das Prinzip Hoffnung. Es ist aber eine Tatsache: Der Westen steigt ab. Diese Angst ist völlig berechtigt.
Wie sehr haben wir uns in Deutschland selbst belogen, was die Zukunft angeht?
Deutschland hatte sich besonders bequem im Ende der Geschichte eingerichtet. In den Neunzigerjahren galt es nach dem Ende des Kalten Krieges als unumstößliche Tatsache, dass die Welt liberal und amerikanisch dominiert bleiben würde. Was hätte das für das vereinte Deutschland bedeutet? Auf ewig billiges Gas aus Russland, beste Geschäfte mit China, während die USA als Schutzmacht die Sicherheit leisten. Eigentlich war es der perfekte Deal.
Allerdings hatte dieser Deal ein Ablaufdatum, das spätestens Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump festlegten.
Exakt. Heute wird diese Politik aus guten Gründen kritisiert, aber aus der damaligen Perspektive war das – national gesehen – alles überaus positiv. Wir haben massiv von der Unipolarität zugunsten der USA nach dem Kalten Krieg profitiert, doch der Scheck war nicht gedeckt. Die Weltgeschichte löste sich nicht in liberalem Wohlgefallen auf.
Vor allem blieb ein Großteil der Staaten arm und abhängig, oder?
Das ist ein wichtiger Punkt. Die meisten postkolonialen Staaten blieben mehr oder minder an der Peripherie der Weltwirtschaft gefangen. Sie kamen dort während des Kalten Krieges nicht heraus und sie kamen auch nach dem Kalten Krieg dort nicht heraus. Wenn wir uns anschauen, wer es früh geschafft hat, sehen wir vor allem Japan, Südkorea, Taiwan, meist westlich orientierte oder mit dem Westen verbündete Staaten. Nun ist China zum Giganten aufgestiegen, besser gesagt, wieder aufgestiegen. Indien sollten wir auch nicht vergessen. Es brauchte also gar nicht den Aufstieg allzu vieler Länder, um den Übergang in eine postwestliche Welt einzuleiten.
Stellt sich die Frage nach den übrigen Staaten?
Damit kehren wir zu den Faktoren Doppelmoral und Scheinheiligkeit zurück. Dass vielen postkolonialen Staaten Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt geblieben sind, hat verschiedene Gründe. Aber diesen Staaten wurde gemäß dem liberalen Weltbild ein Aufstiegsversprechen gemacht, das unerfüllt blieb. Das lässt sich vom Sklavenaufstand 1791 auf Haiti gegen die französische Kolonialmacht über den Kalten Krieg bis in unsere Gegenwart erkennen. Dieses liberale Weltbild im Westen ist einfach nicht deckungsgleich mit der außenpolitischen Realität. Diese Doppelmoral fliegt dem Westen momentan wieder massiv um die Ohren. Stichwort sind die Ukraine und Gaza.
Die Ukraine wird in ihrem Abwehrkrieg gegen Russland vom Westen unterstützt, während die westlichen Staaten die Palästinenser in Gaza während des Krieges Israels gegen die Hamas sich selbst überlassen hätten: Lässt sich die Kritik des Globalen Südens so zusammenfassen?
Das trifft es ziemlich gut. Bereits an der Ukraine können wir sehen, dass die Mehrheit der Staaten dieser Welt dem Westen gar nicht mehr folgt, Gaza sorgte für eine weitere Distanz. In einer Zeitung in Hongkong schrieb ein Kolumnist, dass der Westen sich in Gaza sein eigenes Grab geschaufelt habe. Also in moralischer Hinsicht. Wir können nun ebenso gut über die Doppelmoral des Globalen Südens reden, die gibt es selbstverständlich auch. Aber Doppelmoral muss man sich leisten können. China ist wirtschaftlich ungeheuer stark, Russland ist ungeheuer aggressiv, durch die globale Machtverschiebung ist der Westen immer weniger dazu in der Lage, eine Doppelmoral vor sich herzutragen. Wer schwach ist oder schwach erscheint, wird eben nicht als ernsthafter Akteur wahrgenommen.
Wir erleben momentan das Ende des unipolaren Moments der Vereinigten Staaten und die erneute Entstehung einer multipolaren Welt. Drohen Deutschland und Europa endgültig den Anschluss zu verlieren?
Ja. Wir sind ziemlich abgeschlagen und täten gut daran, in strategischen Bereichen endlich eine Souveränität herzustellen. An der grundsätzlichen Richtung wird das nichts ändern: Der Abstieg des Westens ist der Aufstieg der anderen. Aber ein Abstieg kann würdevoll und geplant erfolgen, er muss keineswegs chaotisch sein. Noch ist die multipolare Welt übrigens nicht ganz da, das verrät der Blick auf die Verteidigungshaushalte: Die USA geben aus wie eine Weltmacht, China wie die wichtigste Regionalmacht in Ostasien. Beim Bau von Kriegsschiffen ist China den USA wiederum meilenweit voraus, in seiner Nachbarschaft ist Peking wohl auch mittlerweile dominant.
Stellt sich die Frage, wer nun die stärkste Macht im Westpazifik ist?
Da sind sich die USA und China sicher uneins. Trump plant wohl zudem den geopolitischen Rückbau, richtet den Fokus mehr auf die eigene Hemisphäre und stößt auch schon mal Drohungen gegen Grönland, Kanada und Panama aus, mit Venezuela springt er auch durchaus härter um. Es wirkt wie die Rückkehr zur Monroe-Doktrin.
1823 verbat sich US-Präsident James Monroe die Einmischung europäischer Mächte auf dem amerikanischen Kontinent, zugleich erklärte er, dass sich die USA wiederum nicht in europäische Angelegenheiten einmischen würden.
So ist es. Möglicherweise beginnen die USA gerade wieder weniger als ein Imperium, sondern wie ein Nationalstaat zu denken, wie es einmal der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar formuliert hat. Die USA haben über Jahrzehnte eine internationale Ordnung aufrechterhalten, was ihnen nach Donald Trump mehr Kosten als Nutzen eingebracht hat. Das steckt hinter seinem "America First". Ein weiterer Grund, warum Trump der westliche Abstiegsmanager ist.
Das Ende einer Epoche und der Beginn einer neuen können friedlich, aber auch äußerst gewaltreich ablaufen. Wie gefährlich ist die aktuelle Situation?
Die Zeit, in der wir uns gerade befinden, hätte der italienische Intellektuelle Antonio Gramsci aus dem letzten Jahrhundert wohl als die Zeit der Monster bezeichnet. Es gibt Chaos, es gibt potenziell neue Kriege, vielleicht aber auch nicht. Es ist ziemlich gefährlich, denn wir wissen nicht, was passieren wird. Vielleicht spielt Trump in gewisser Weise sogar eine positive Rolle, denn vermutlich will er einen großen Krieg um die Unipolarität vermeiden. Das sage ich mit aller gebotenen Vorsicht.
Zumindest im Nahen Osten hat Donald Trump nun zumindest zeitweilig für eine Waffenruhe gesorgt.
Das ist richtig. Ketzerisch ließe sich nun fragen, warum der mit dem Autoritären liebäugelnde Geschäftsmann Donald Trump in Gaza das erreicht hat, was der liberale Joe Biden nicht geschafft hat? Ja, Trump ist skrupellos, ja, er will den Friedensnobelpreis unbedingt: Aber er hat es hinbekommen.
Zugleich ist es ein Beispiel, wie massiv Trump die Macht der USA einsetzt, um seine Ziele zu erreichen.
So oder so müssen wir uns in Deutschland mit den Umständen arrangieren, besser noch: eine Chance darin sehen und sie ergreifen. Diese Unipolarität, die wir als Zeitgenossen erlebt haben, ist historisch gesehen die absolute Ausnahme. Noch nie zuvor hat ein Staat über derart große Macht im globalen Maßstab verfügt, wie es den USA gelungen ist. Diese Zeit endet nun. Für Deutschland ist das eine schlechte Nachricht, weil es davon ungemein profitiert hat. China, Russland, aber auch für die gesamten Staaten innerhalb der BRICS werden dagegen nun ihre Interessen verfolgen, ihre regionalen Rollen stärker ausspielen und ihre Autonomien schützen wollen.
Läuft es auf eine Dualität zwischen den USA und China an der Spitze der globalen Macht hinaus?
Bei der sogenannten Hard Power – vor allem im militärischen Bereich – sind die USA immer noch ganz weit vorn, aber bei dem wirtschaftlichen Einfluss sieht es anders aus. Da müssen die USA mächtig aufpassen. Im Großen und Ganzen ist China im Globalen Süden bereits beliebter als die USA. Nach Gaza hat sich auch das Ansehen Europas und Deutschlands dort verschlechtert. China agiert ziemlich clever und nutzt die Fehler der USA und des Westens aus. Wir müssen abwarten.
Was ist Ihre Prognose?
Dieses Jahrhundert wird nicht zwangsläufig ein chinesisches sein. Dafür hat China zu viel Gegenwind, Indien und Japan etwa. Aber dieses Jahrhundert wird ziemlich sicher ein asiatisches. Ich denke, dass die nächsten Dekaden sehr von einer Multipolarität geprägt sein werden. Hoffentlich werden sie möglichst friedlich ablaufen. Bislang können wir froh sein, dass China seine Interessen ökonomisch durchsetzen will. China steht für wirtschaftliche Entwicklung und Souveränität – das findet im Globalen Süden natürlich Anklang.
Haben Sie einen Ratschlag für Deutschland und Europa?
Ich rate zu einem kreativen und würdevollen Abstiegsmanagement. Der Abstieg erfolgt so oder so, da ist es doch besser, ihn aktiv zu gestalten. Das Stichwort ist strategische Empathie. Wir müssen die anderen nicht mögen, wir müssen auch nicht gut finden, was sie tun oder wollen: Aber wir müssen ihre Motivation nachvollziehen können.
Wenn wir nun aber das Objekt der Begierde sind? Wladimir Putins Pläne dürften über die Ukraine hinausgehen.
Europa sollte doch in der Lage sein, Russland abzuschrecken. Ansonsten hat der Soziologe Andreas Reckwitz vernünftige Empfehlungen: Die Gesellschaften des Westens müssen resilienter werden, sie müssen mehr umverteilen und auch konsumärmer werden. Also im Grund mehr Sozialdemokratie wagen, um den Fall ins Rechte zu vermeiden. Wenn wir dann als Europäer dann noch das hinbekommen, was Emmanuel Macron quasi jedes Jahr in einer Rede für Europa fordert – nämlich strategische Autonomie – wäre viel erreicht.
Herr Marwecki, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Daniel Marwecki via Videokonferenz














