Bunkeranlagen in Finnland "Ihr werdet ohne sie sterben"
Im Katastrophenfall kann Finnland fast seine gesamte Bevölkerung in Bunkern schützen. Doch die Anlagen bleiben auch ohne Notfall nie ungenutzt.
David Schafbuch berichtet aus Helsinki
Von außen sieht es aus wie der Eingang zu einem Parkhaus. Eine unscheinbare Konstruktion aus Metall und Glas auf einem Grünstreifen im Norden von Helsinki. "Leikkiluola" nennt sich das, was sich hinter dem Eingang verbirgt, auf Deutsch: "Spielhöhle". So steht es in großen Buchstaben auf dem Eingang.
Aber es handelt sich hier weder um den Eingang zu einem Parkhaus noch zu einer reinen Spielhöhle. Was sich tatsächlich hinter der Tür verbirgt, verrät ein blaues Dreieck auf orangefarbenem Grund: "Luftschutzbunker" steht auf dem Schild. Wer von hier mehr als einhundert Stufen in die Tiefe steigt, befindet sich in einer Schutzanlage für rund 6.000 Menschen. Sind alle Türen verriegelt, sollen die Bewohner von Helsinki dort unten auch einen Atomschlag überleben können.
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Während Deutschland seine Bunker mit Ende des Kalten Kriegs größtenteils stillgelegt hat, sind private wie öffentliche Schutzräume in Finnland bis heute eine Säule der Sicherheitsarchitektur. Die großen öffentlichen Anlagen haben allerdings auch in Friedenszeiten eine Funktion und sind für viele Finnen ein selbstverständlicher Teil ihres Alltags.
Unter der Erde, hinter mehreren schweren, blauen Stahltüren, erläutert Tomi Rask das Konzept der öffentlichen Bunker. "Ihr habt gerade die Frühschicht verpasst", sagt er zu Beginn. Rask ist Sicherheitsausbilder in der finnischen Zivilschutzabteilung. Mit der "Frühschicht" meint er aber nicht seine eigenen Kollegen, sondern die vielen Privatpersonen, die den Bunker aktuell für Sport nutzen. Rask steht am Rande einer großen Freifläche, auf der man Fußball oder Hockey spielen kann, solange Helsinki nicht angegriffen wird. Dafür ist der Bunker täglich für alle geöffnet.
"Ein Platz zum Überleben"
Nachdem die "Frühschicht" abgerückt ist, finden sich an diesem Morgen nur noch wenige Menschen in den riesigen Hallen. In den Fluren stehen leere Handballtore. Neben den Sportplätzen liegt ein voll ausgestatteter Raum für Krafttraining. In einem Empfangsraum können Besucher Hockeyschläger leihen. Es werden Hotdogs und Pommes frites verkauft. Daneben amüsieren sich Kinder auf einem kleinen Spielplatz.
Rask sagt allerdings mehrfach, dass der eigentliche Zweck der Anlage nicht die Freizeitgestaltung ist: "Das ist ein Platz zum Überleben, das ist kein Ort für Spaß". Das Härteste an seiner Arbeit sei es, die Bedeutung der Bunker regelmäßig zu vermitteln. "Ihr werdet ohne sie sterben." Um vom Normal- in den Ernstfall umzuschalten, haben Rask und seine Kollegen 72 Stunden Zeit. So lange darf es maximal dauern, bis der Bunker von einem Freizeit- zu einem Schutzraum umgebaut werden kann.
Deutschland entschied sich, mit dem Ende des Kalten Kriegs viele Schutzanlagen zurückzubauen. Finnland baute sie bis zum Jahr 2011 weiter aus. Aktuell plant die Regierung in Helsinki keine weiteren Anlagen. Allerdings müssen viele Privatpersonen per Gesetz eigene Schutzräume errichten: Jedes Gebäude ab einer Fläche von 1.200 Quadratmetern muss einen eigenen Bunker vorweisen. Bei industriell genutzten Gebäuden beträgt der Grenzwert 1.500 Quadratmeter.
Haben Rask und seine Kollegen den Bunker umgebaut, sollen Betroffene dort mehrere Stunden bis wenige Tage Schutz finden können. 20 seiner Kollegen seien notwendig, um die gesamte Anlage am Laufen zu halten. Die meisten davon werden für den Umbau benötigt. Der Rückhalt in der Bevölkerung scheint groß zu sein: Rask spricht davon, dass laut einer jüngsten Umfrage mehr als 96 Prozent der Finnen ihm und seinen Kollegen vertrauen. Damit habe man ein höheres Ansehen als die Polizei, erklärt der Sicherheitsexperte.
Wichtig in der Umbauphase sind vor allem gelbe Markierungen auf dem Boden. Dort werden die Sanitäranlagen des Bunkers aufgestellt. Während Rask darüber spricht, hält er einen weißen Eimer in der Hand. Auf den ersten Blick gleicht er einem herkömmlichen Mülleimer aus Kunststoff. Doch im Katastrophenfall ist das eine der vielen Toiletten in dem Bunker, ohne Spülung oder Anschluss an die Kanalisation.
In dem gesamten Land gibt es nach Angaben des Innenministeriums rund 50.500 zivile Bunker. Sie bieten 4,8 Millionen der insgesamt 5,5 Millionen Finnen im Extremfall Schutz vor Naturkatastrophen oder Raketenangriffen. Zum Vergleich: In Deutschland soll es laut Innenministerium aktuell 579 Schutzräume für 480.000 Menschen geben.
Keine Duschen, keine Spülung
"Die Lebensstandards müssen heruntergeschraubt werden", macht der Sicherheitsausbilder Rask deutlich. Abgesehen von den Kunststofftoiletten beschränkt sich das Sanitäranlagenkonzept der Bunker auf Waschbecken. Duschen oder die ansonsten in Finnland allgegenwärtigen Saunas sucht man vergeblich.
Sind die Eimer voll, gibt es in der Anlage keine Entsorgungsmöglichkeiten. Im Ernstfall werden die Toiletten händisch geleert. Die zuständige Person muss dafür den Bunker verlassen, im Extremfall mit entsprechender Schutzkleidung. "Irgendjemand muss es tun. Seid ihr so besonders, dass ihr nicht den Müll heraustragen müsst?", fragt Rask die Besucher, während er durch die Hallen führt.
Die Frage des Beamten zielt darauf ab, dass im Katastrophenfall jeder im Bunker mithelfen muss. Auch das ist für Finnland eine gelernte Praxis: Das Land verfolgt das Prinzip der Gesamtverteidigung. Im Groben ist damit gemeint, dass die Sicherheit des Landes nicht nur von staatlichen Behörden oder dem Militär, sondern von der gesamten Bevölkerung getragen wird.
Information statt Kommunikation
Wird aus der "Spielhöhle" also wieder ein Bunker, bedeutet das: Alle Personen werden in drei Gruppen aufgeteilt. Ein Drittel hält die Anlage in Betrieb. Ein Drittel schläft und ein Drittel macht Pause. Alle acht Stunden wechseln die Rollen.
Das Konzept bedeutet auch: Jeder Bewohner Finnlands muss sich für den Katastrophenfall selbst vorbereiten. Die finnischen Behörden empfehlen, grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt Vorräte anzulegen, um 72 Stunden überleben zu können. Ein Erwachsener soll unter anderem sechs Liter Wasser, ein Kilo Gemüse und Früchte und etwa ein halbes Kilo Brot zu jeder Zeit zu Hause haben.
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Neben den schlichten Sanitäranlagen müssen die Menschen in den Schutzräumen weitere Einschränkungen hinnehmen. Der Bunker verfügt lediglich über einen Grundstock an Medikamenten. Essensvorräte oder Kochmöglichkeiten gibt es gar keine. Eine Lüftung ist vorhanden, es gibt aber keine Heizung. "Wir brauchen sie nicht, dafür haben wir euch", sagt Rask. Jeder Mensch strahle ausreichend Wärme ab, vor allem in Zeiten von deutlicher Anspannung. Für den Sicherheitsexperten sind lediglich zwei Dinge entscheidend: Sauerstoff und Wasser. Damit könne man bis zu drei Wochen hier unten überleben.
Auch für die Telekommunikation gibt es hier unten klare Spielregeln: Handyempfang ist in dem Bunker vorhanden. Allerdings ist es auch möglich, den abzudrehen. Man brauche im Kriegsfall Information, aber nicht zwangsläufig Kommunikation, meint Tomi Rask.
Wie man eine Kommunikationssperre hier unten begründen könne? "Die Antwort ist relativ einfach: Da draußen herrscht Krieg", antwortet der Sicherheitsexperte. Zudem gebe es finnische Nachbarländer, die sehr gut in psychologischer Kriegsführung seien. Wen er damit genau meint, lässt Rask offen.
Transparenzhinweis: Dieser Text entstand im Rahmen einer Pressereise der deutschen Vertretung der Europäischen Kommission.
- Eigene Recherche und Beobachtung








