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AfD und BSW: Woher kommt der Erfolg im Osten? Experte erklärt die Wut


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Historiker Kowalczuk
"Deswegen ihre Affinität zur blutrünstigen Diktatur Putins"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 27.09.2024Lesedauer: 9 Min.
Sahra Wagenknecht: Das BSW ist keine demokratische Partei, sagt Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.Vergrößern des Bildes
Sahra Wagenknecht: Das BSW ist keine demokratische Partei, sagt Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. (Quelle: Steffen Proessdorf/imago-images-bilder)
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AfD und BSW triumphierten bei den Wahlen im Osten. Was ist der Grund? Wut und Hass, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk. Im Interview erklärt der Historiker, woher der Zorn stammt.

Die Deutschen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben gewählt – und AfD und BSW große Erfolge beschert. Doch warum wenden sich so viele Menschen im Osten Deutschlands diesen Parteien zu? Mit Vernunft habe dies jedenfalls nichts zu tun, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker und Autor des Buches "Freiheitsschock". Es gehe um Wut und Hass.

Im Interview warnt Kowalczuk vor den Plänen von AfD und BSW, erklärt, weshalb die Wut im Osten so groß ist und führt aus, warum er die Bundesrepublik Deutschland keineswegs für wehrhaft gegenüber Extremisten hält.

t-online: Herr Kowalczuk, warum sind AfD und BSW im Osten Deutschlands derart erfolgreich?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Dafür gibt es keine rational hinreichende Erklärung. Jedenfalls keine, die uns intellektuell oder politisch befriedigen könnte. Die ostdeutschen Bundesländer zählen heute zu den wohlhabendsten Regionen in Europa. Alle Ostdeutschland betreffenden Sozialstatistiken sprechen eine andere Sprache als das, was die politische Stimmung dort ausmacht.

Diese Stimmung wird stattdessen von Wut beherrscht?

Im Osten herrscht reichlich Wut, ja. Es geht also um Emotionen, weniger um Rationalität. Zugegeben, es ist politisch auch viel falsch gelaufen in den letzten Jahren, ein Beispiel ist die völlig vermurkste Kommunikation um das Heizungsgesetz. Notstand bei der Bildung, ein demoliertes Gesundheitswesen, Überalterung und ein Männerüberschuss, das alles sind Probleme in Ostdeutschland. Die Liste lässt sich auch problemlos fortsetzen. Aber nichts davon erklärt, warum die Leute im Osten Extremisten wählen. Die Antwort auf diese Frage lautet vielmehr pure Wut.

Sie zählen AfD und BSW gleichermaßen zu den Extremisten?

Für mich sind AfD und BSW zwei Seiten einer Medaille. Es gibt Unterschiede zwischen beiden Parteien, aber in einem zentralen Punkt ticken sie gleich: Beide wollen zurück in die Vergangenheit. An dieser Stelle beginnt das Irrationale.

Zur Person

Ilko-Sascha Kowalczuk, 1967 in Ost-Berlin geboren, ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaften und Kultur. Der Experte für die Geschichte von DDR und Kommunismus veröffentlichte 2023 und 2024 seine zweibändige Biografie von Walter Ulbricht: "Der deutsche Kommunist" und "Der kommunistische Diktator". Kürzlich erschien Kowalczuks neuestes Buch "Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute".

Ein Zurück in die Vergangenheit ist schlechterdings kaum möglich. Man kann sie nur umdeuten, wie Sie in Ihrem Buch "Freiheitsschock" schreiben.

Richtig. Gleichwohl beschwören AfD und BSW die Vergangenheit, beide profitieren von der Wut und schüren sie. In Ostdeutschland gibt es ein unglaubliches Wutpotenzial, da macht es keinen Unterschied, ob jemand sozial abgehängt ist oder munter in seinem teuren SUV durch die Landschaft rast. Die Wut ist im Osten ein klassenübergreifendes Phänomen.

Gegen wen richtet sich die Wut?

Gegen den Westen, er wird nicht nur abgelehnt, der Westen wird regelrecht gehasst. Denn er wird für alles, was tatsächlich oder angeblich falsch läuft, haftbar gemacht. Diese Einstellung ist weitverbreitet, sie hat etwa die Hälfte bis zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung erfasst. Das müssen wir an dieser Stelle einfach mal zur Kenntnis nehmen. Die drei jüngsten Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sind ein Beleg für diesen Befund: Alle Stimmen für radikale Parteien zusammengerechnet – AfD, BSW, Linkspartei und einige rechtsextreme Parteien – ergeben eine deprimierend hohe Zustimmung zum Extremismus. In ihrer Zielsetzung sind sich diese auch ziemlich einig.

Worin besteht dieses Ziel?

Deutschland soll aus der Nato raus. Das ist das eine Ziel dieser Extremisten, deswegen auch ihre Affinität zur blutrünstigen Diktatur Wladimir Putins. Aber sie teilen ein weiteres Ziel: AfD und BSW streben eine staatsautoritäre Verfassung für Deutschland an. Deswegen sind beide Parteien für mich zwei Seiten der gleichen Medaille.

Die BSW-Chefin Sahra Wagenknecht würde dies von sich weisen.

Das BSW ist doch nicht mal eine demokratische Partei. In Brandenburg hat die Partei zurzeit rund 40 Mitglieder, in Thüringen hatte sie zum Zeitpunkt der Wahl etwa 75. Über jede neue Aufnahme entscheidet Wagenknecht höchstpersönlich. Das BSW steht doch auch für nichts weiter als die Parteichefin. Glauben Sie, dass irgendein Wähler in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg etwas mit den Namen der BSW-Kandidaten auf den jeweiligen Stimmzetteln anfangen konnte? Nein, die kennen nur Wagenknecht, die nicht einmal kandidiert hat. Für mich ist das BSW organisiert wie Lenins "Partei neuen Typus", nicht zufällig, ist doch Wagenknecht eine geschulte Leninistin: Eine strikt zentralistisch, auf eine Figur zugeschnittene Kaderpartei, in der ausschließlich der Wille der Führerin gilt.

Es handelte sich um Landtagswahlen, bei denen allerdings der russische Krieg gegen die Ukraine eine gewichtige Rolle spielte. Wagenknecht plädiert für eine Art von Frieden, der die angegriffene Ukraine viel kosten würde.

Wagenknecht hat eine fragwürdige Auffassung von Frieden, ihr Friedensbegriff kommt ganz ohne Freiheit aus. Das passt auch zu ihrer Ablehnung des westlichen Verteidigungsbündnisses, die sie mit der AfD teilt. Die AfD ist wiederum im Kern eine faschistische Partei. Es mag einzelne Mitglieder geben, die keine Faschisten sind. Ebenso sind nicht alle ihre Wähler Faschisten, aber viele Leute wählen die AfD nicht trotz ihres faschistischen Ansatzes, sondern gerade deswegen. Wer AfD und BSW heute wählt, übernimmt Verantwortung für die Folgen! Niemand kann sich später herausreden, nicht gewusst zu haben, was gewählt wurde: Antiwestliche Parteien, die den Schulterschluss mit dem Kreml suchen und die Westbindung Deutschlands aufgeben wollen.

Dann müssen wir uns aber von der Vorstellung verabschieden, dass die bisherigen Erfolge der AfD lediglich das Ergebnis von Protestwahlen gewesen sind?

Jeder in unserem Land kann genau sehen, wofür die AfD steht, was ihre Ziele sind. Das sind faschistische Ziele und wer das mit seiner Stimme unterstützt, kann sich nicht mehr rausreden. Die AfD ist keine Protestpartei, sie bekommt auch keine Proteststimmen, sondern überwiegend politisch bewusste Stimmen zu ihrem völkischen Programm.

Was steht nun in den betreffenden drei Bundesländern an?

Das Wahlergebnis in allen drei ostdeutschen Bundesländern macht mehr oder weniger aus der Sicht der "Wahlsieger" Koalitionen mit dem BSW notwendig. Schon wie die designierten Ministerpräsidenten in Berlin Geheimtreffen mit Wagenknecht abhalten, lässt Schlimmes befürchten: Die Frau hält Hof. Wir stehen im Prinzip am Rande einer Staatskrise, weil die Extremisten vom BSW und Sahra Wagenknecht mit entscheiden sollen, was da passiert. Wagenknecht hat immer wieder gesagt, sie pocht darauf, dass in der Landespolitik außenpolitische und verteidigungspolitische Erklärungen gemacht werden.

Das Grundgesetz legt ausdrücklich fest, dass Außen- und Verteidigungspolitik Sache des Bundes ist.

Das ist das eine Problem. Eine andere Gefahr besteht darin, dass sich CDU und SPD in den Ländern dazu hinreißen lassen könnten, Wagenknechts Spiel mitzuspielen. Damit würden sie die Grundideale ihrer Parteien verraten. Union und SPD stehen für die Westbindung, sie stehen für eine aktive Verteidigungspolitik und die aktive Unterstützung des Freiheitskampfes der Ukraine. Wenn sie das aufgeben würden, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Klar ist, dass wir dann nicht nur ein Problem in diesen Bundesländern hätten, sondern in der gesamten Bundesrepublik.

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Haben Sie eine Idee, wie die Situation in Thüringen, Sachsen und Brandenburg entschärft werden könnte?

Eine Lösung besteht in der Bildung von Minderheitsregierungen. Das wäre der Ausweg, zwar anstrengend und in Deutschland nicht oft angewendet, aber es gibt stabile Demokratien, in denen das überhaupt nichts Ungewöhnliches ist.

Die demokratischen Parteien wollen gerade von der AfD Wähler zurückgewinnen. Sehen Sie die Möglichkeit dafür?

Das mit dem Zurückgewinnen ist eine Politikerfloskel, die ich zwar verstehe, aber so nicht verwende. Es gibt in jeder Gesellschaft einen Teil von Leuten, den man für das politische System nicht gewinnen kann. Dieser Anteil liegt nicht irgendwo bei drei Prozent, sondern bei 20 bis 25 Prozent. Diese Tatsache müssen wir akzeptieren, ob uns das gefällt oder nicht. Die Politik muss sich um die übrigen 75 bis 80 Prozent kümmern und diesen Menschen Angebote machen. Vor allem Partizipationsangebote, die die Demokratie stärken und zugleich verdeutlichen, wie kompliziert Politik ist. Wir leben eben nicht in einer Konsensgesellschaft, sondern in einer Kompromissgesellschaft. Kompromisse zu erarbeiten, ist harte Arbeit.

Die Fähigkeit zum Kompromiss schwindet.

Es schwindet auch der gute Stil unter den Demokraten. Lange, lange Zeit war es Usus, dass sich die demokratischen Parteien untereinander hart bekämpft haben, dabei aber gewisse Grenzen nicht überschritten. Denn nur so bleibt man koalitionsfähig. Was passiert jetzt aber seit Monaten? Da erklärte die AfD die Grünen zum angeblichen Hauptfeind unserer Gesellschaft und alle machten mit. Man kann mich gerne korrigieren, aber noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Grünen den Bundeskanzler gestellt. Aber es wird immer so getan, als wenn sie seit 30 Jahren an der Macht wären und niemand sonst. Der Tonfall etwa aus CDU und CSU gegenüber den Grünen unterscheidet sich nicht von dem der AfD. Das unterhöhlt die Demokratie, das ist zersetzend, weil sich die Parteien so koalitionsunfähig machen. Die Wut macht vieles kaputt.

Wie ließe sich die Wut wieder eindämmen?

Wir brauchen andere Narrative, Erzählungen, die die Erregungsspirale nicht unentwegt befeuern und diesen Hass und diese Wut ständig verstärken. Dazu gehört auch ein konstruktiver Journalismus, der eben nicht nur auf Klickzahlen setzt und über jedes Stöckchen springt, das die Extremisten ihm vorhalten. Es sollte viel mehr über die Bedürfnisse der Mehrheit berichtet werden, die oft ruhig und schweigend ist, aber den Laden etwa durch Übernahme von Ehrenämtern auf allen möglichen Ebenen zusammenhält. Sonst würde der Laden morgen zusammenkrachen. Das Morgen ist übrigens ein weiterer Quell der Unruhe und Wut.

Inwiefern?

Unsere Zeit ist durch eine welthistorische Einzigartigkeit geprägt. Wir leben nämlich in einer Zeit ohne Zukunft. Die gesamte Menschheitsgeschichte war eigentlich davon geprägt, überaus zukunftsorientiert zu sein. Aber Zukunft war früher immer etwas, was man selbst nicht mehr erleben sollte, sondern die Nachfahren. Die Utopien der Zukunft, die sich meine Oma vorgestellt hat, waren weit, weit weg. Aus dem Grunde, weil die Dinge sich langsam entwickelten. Was auch gut war, weil der Mensch sonst schnell überfordert ist. Diese Weisheit wussten schon die alten Griechen.

Unsere Gegenwart ist hingegen von Schnelligkeit und Überforderung geprägt.

Alles passiert rasend schnell, wir sind alle total überfordert. Niemand kann uns sagen, wie die Welt in zwei Jahren aussieht. Niemand. Keiner weiß, was Künstliche Intelligenz anrichten wird, was das alles verändern wird. Wir haben nicht einmal mehr eine Vorstellung von der Zukunft.

So scheint es auch der Politik zu gehen?

Das ist das entscheidende Problem. Politik ist immer zukunftsorientiert. In der Gegenwart wollen Politiker die Zukunft gestalten. Wie will man aber etwas gestalten ohne die geringste Ahnung, wie es aussehen wird? Fast alle Menschen erleben dieses Phänomen tagtäglich in ihrem Arbeits- und Alltagsleben. Es herrscht die totale Verunsicherung, auf allen Gebieten. Es werden auch keine positiven Angebote unterbreitet, sondern alles, was die Zukunft betrifft, hat einen bedrohlichen Anstrich.

Ein guter Nährboden für Populisten und Extremisten?

Selbstverständlich. All das führt zu einer unglaublichen Verunsicherung, die dann natürlich schnell aufgeheizt und aufgeladen werden kann durch Extremisten. Etwa anhand des klassischen Themas Migration. Offenbar existiert die Vorstellung, dass morgen wieder sämtliche Busse pünktlich fahren und das Gesundheitssystem bestens funktioniert, wenn wir nur alle Migranten ausweisen würden. Bei näherer Überlegung kommt man dann allerdings schnell drauf, dass das ziemlicher Quatsch ist.

In "Freiheitsschock" schreiben Sie, dass Ostdeutschland ein "Laboratorium" sei, das die Entwicklung der gesamten Bundesrepublik vorwegnehmen könnte.

Der Osten ist tatsächlich ein Laboratorium der Globalisierung. Deswegen ist die Beschäftigung mit ihm so wichtig: Hier beobachten wir Entwicklungen, die europaweit drohen, wenn nicht gegengesteuert wird. Im Westen steht die AfD nach wie vor am Rand der Gesellschaft, sie ist geächtet. Denn es gibt eine starke Zivilgesellschaft, die sich ihren Bestrebungen wirkungsvoll entgegenstellt. Aber auch in Westdeutschland steht die AfD mittlerweile bei 15 Prozent. Der Westen zieht dem Osten nach. Noch jedoch gibt es dort kein BSW. Noch lässt sich das verhindern, glaube ich.

Was droht im schlimmsten Fall?

Über kurz oder lang könnten wir ein autoritäres Staatssystem auch in Deutschland erleben. Keine Diktatur, eher eine illiberale Demokratie à la Viktor Orbán.

Wirklich? Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als wehrhafte Demokratie.

Ich halte die Bundesrepublik nicht für besonders wehrhaft. Was würde sich in unserem Land abspielen, falls der Kreml uns tatsächlich angreifen würde? Das möchte ich nicht erleben. Eine solche Widerstandskraft wie die Ukraine, Polen oder die baltischen Staaten haben wir einfach nicht. Nein, ich fürchte, das Schlimmste steht uns noch bevor.

Will ein Teil der Ostdeutschen die erst 1989 eingetretene Freiheit tatsächlich wieder gegen ein autoritäres Regime eintauschen?

Die Freiheit haben 1989 nur sehr wenige Mutige erstritten, der Rest der DDR-Bürger stand hinter den Gardinen und wartete ab, wie die Sache ausging. Die meisten Ostdeutschen haben Freiheit und Demokratie geschenkt bekommen. Und mit Geschenken gehen die Leute eher schlampig um. Freiheit kann man nur in der Freiheit verraten, davon bin ich überzeugt.

Die DDR kann aber doch niemand zurückhaben wollen?

Eine Diktatur wie die DDR funktioniert nur, wenn man die Diktatur irgendwann nicht mehr als solche wahrnimmt. Denn sonst würde man verrückt. Jeder will in einem solchen System überleben und passt sich an. Das ist auch absolut nachvollziehbar. Nur haben die meisten Ostdeutschen tatsächlich vergessen, wie die DDR wirklich gewesen ist. Dahin will tatsächlich niemand zurück, allerdings schon in eine völlig verklärte DDR, die so niemals existiert hat. Die DDR war ein sowjetisches Produkt, mit fast 17 Millionen Menschen in präventiver Haft. Das alles vergessen zu haben, ist ein Teil der Ostdeutschtümelei, wie ich das nenne. Das grassiert im Osten wie eine Seuche.

Herr Kowalczuk, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ilko-Sascha Kowalczuk via Videokonferenz
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