Soziologe Harald Welzer "Da werden sich alle noch wundern"

Enttäuschung, Frustration und Polarisierung: In Deutschland klafft ein Graben zwischen Politik und Gesellschaft, die radikale AfD profitiert. Dabei gibt es ein effektives Gegenmittel, sagt Soziologe Harald Welzer.
Die fetten Jahre scheinen Geschichte, Krisen inner- und außerhalb Deutschlands rufen Beunruhigung hervor. Zugleich ist das Vertrauen in Parteien, die Politik insgesamt, und auch in die Medien gesunken. Warum gelingt es in dieser brisanten Situation vielen Politikern nicht, Vertrauen wiederzugewinnen? Weil sie einen grundlegenden menschlichen Faktor nicht ausreichend beachten, sagt der Soziologe Harald Welzer: Emotionen.
Warum sind Emotionen für die Stabilität unserer Gesellschaft so wichtig? Hat die Politik den Draht zu den Menschen verloren und wie lässt sich die Beziehung wieder reparieren? Und nicht zuletzt: Welchen großen Vorteil besitzt Deutschland trotz aller Krisen? Diese Fragen beantwortet Harald Welzer, Autor des Buches "Das Haus der Gefühle", im Gespräch.
t-online: Professor Welzer, wie steht es um den Gefühlshaushalt der Deutschen?
Harald Welzer: Da herrscht ziemliche Unordnung, wenn man pauschal von den Deutschen sprechen will und kann. Das lässt sich an vielen Indikatoren festmachen.
Immerhin erleben wir gerade den möglichen Zusammenbruch der liberalen Weltordnung, auch der Klimakollaps erscheint immer weniger als Zukunftsmusik. Spielen Sie darauf an?
Da können einem die Gefühle doch mal durchgehen, oder? Aber fangen wir vorn an: Deutschland war lange Zeit ein sehr gut funktionierendes, sehr saturiertes Land, alles war von dem Gefühl geprägt, dass sich daran grundsätzlich niemals etwas ändern würde. Über so ein Hintergrundgefühl legt man sich fast nie innere Rechenschaft ab, so etwas passiert nur, wenn es nachhaltig gestört wird. Wir haben es also mit einem schleichenden Erosionsprozess zu tun, der immer wieder von Einschlägen wie Corona befeuert wird. Die Leute denken mittlerweile, dass hier im Lande irgendetwas ganz grundsätzlich nicht in Ordnung ist.
Denken oder Fühlen?
Zuerst fühlen sie es, dann denken sie es. Entsprechend leidet das Vertrauen. Wir sehen es doch deutlich: Das Vertrauen in die Politik und in die Demokratie sinkt, das in die Medien ebenso. Kurzum, es herrscht insgesamt ein zunehmendes Misstrauen gegen das ganze System. Das passiert, wenn unsere hintergründigen – aber doch sehr wichtigen – Gefühle signalisieren: Etwas stimmt nicht mehr! Da kann die Politik mit noch so vielen Zahlen und technischen Details hantieren.
Zur Person
Harald Welzer, geboren 1958, ist Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist. 2012 gründete Welzer die gemeinnützige Stiftung Futurzwei, die er seitdem als Direktor leitet. Außerdem ist er Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. Welzer hat zahlreiche Bücher verfasst, darunter "Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird" und "Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens". Gerade erschien mit "Das Haus der Gefühle. Warum Zukunft Herkunft braucht" Welzers neues Buch im S. Fischer-Verlag.
Besteht darin das Problem: Braucht es aus der Politik mehr Emotionen anstelle technischer Details?
Das ist das entscheidende Problem. Mit Reden per Teleprompter, Powerpoint-Präsentationen und technokratischen Maßnahmen kann ich viel machen, aber ich kann damit kein Vertrauen herstellen. Und zwar deswegen, weil diese Präsentationen ja immer von der Optik dessen, der sie zeigt, geprägt sind. Soll ich Ihnen ein Beispiel geben?
Bitte.
Vor Jahren war ich mal Mitglied des Rats für nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Ganz wichtige Sache. Mit dem Thema kenne ich mich auch durchaus aus. Aber wissen Sie was? In meiner ersten Sitzung dort habe ich fast kein Wort verstanden. Da wurde mit Akronymen nur so um sich geworfen. Wie will man so mit den Menschen da draußen kommunizieren? Denn ohne die können wir es gleich vergessen. Fachlich und wissenschaftlich war da alles bestens, nur versteht es kein Schwein. Und so geht es uns permanent.
Wie bewerten Sie die Kommunikation der aktuellen Bundesregierung in Sachen Emotionen?
Furchtbar, auch das versteht niemand. Das schlagendste Beispiel: Wie kann es sein, dass trotz der Neuaufnahme von fast einer Billiarde Euro Schulden, die übrigens "Sondervermögen" heißen, in den nächsten Jahren immer noch zahlreiche Finanzlöcher mit windigen Buchungstricks gestopft werden müssen? Das hat mir noch niemand erklären können. Nun bin ich kein Ökonom, aber das sind die meisten anderen Menschen hier im Land auch nicht. Wir sind unter anderem durch solche Sachen ziemlich verunsichert.
Nun haben sich Kanzler Friedrich Merz und Verteidigungsminister Boris Pistorius durchaus bemüht, die Bundesbürger auf die Bedrohung aus Russland einzuschwören.
Auch da können wir bei den schwindelerregenden neuen Schulden bleiben. Reichlich Geld soll ja in die Gefahrenabwehr fließen: In Sachen Drohnen ist seit Jahren nichts passiert, da wird bis heute eher darüber gestritten, wer die Dinger überhaupt einfangen darf und soll. Ebenso klingt es schön und gut, dass wir neue Brücken bekommen sollen, die nicht einsturzgefährdet sind. Aber die Menschen auf der Straße stellen doch eine ganz simple Rechnung an: Da sind neue Schulden, die muss irgendwann irgendwer bezahlen. Anscheinend bringen die Schulden aber nichts, weil der Bau der neuen Brücken noch in weiter Zukunft liegt oder absurderweise gar nicht erfolgen kann, obwohl Genehmigungen vorliegen.
Vermutlich können Sie dem Begriff "Herbst der Reformen" von Friedrich Merz ebenfalls wenig abgewinnen?
Die politische Rede ist mittlerweile derart gestanzt, sie besteht doch vielfach aus Textvorschlägen von irgendwelchen PR-Agenturen. So redet kein normaler Mensch, das versteht auch kein normaler Mensch. Warum machen viele Politiker das? Weil sie Angst vor Shitstorms haben – und auch nicht allzu sehr festgenagelt werden wollen. Die Leute sind ja nicht blöd, die merken das. Dieses Problem ist auch keineswegs trivial, denn es verstärkt bei den Menschen das Gefühl, dass sie mit diesem ganzen Betrieb nichts mehr zu tun haben.
Nun müssen Sie aber Alternativen aufzeigen.
Wie wär's mit ehrlich kommunizieren? Dass wir gerade eine Menge Krisen haben, wissen die Leute selbst. Warum sagt man ihnen nicht, dass der vorhandene Werkzeugkasten nicht ausreicht, um sie zu lösen? Dieses Lösungsdefizit versucht man mit Geld zuzuschütten, und auch das merken denkende Menschen. Wie es zurzeit läuft, ist es sehr, sehr gefährlich: Denn diese unglaublich große Distanz, die sich zwischen Politik und den Bürgern auftut, unterminiert die zentrale Ressource unserer Demokratie: Vertrauen. Da muss die Politik wieder ansetzen.
Zurzeit profitiert die AfD von Emotionen – und zwar von Enttäuschung, Resignation und Wut.
Die AfD ist für ihre Wähler eine Art Retourkutsche, nach dem Motto: Der Fahrkartenautomat ging nicht, ich musste die AfD wählen. Aber den meisten Menschen ist durchaus bewusst, dass es Probleme gibt, ohne dass sie gleich die AfD wählen. Wenn man die in den Griff kriegt, ist alles gut. Anders ausgedrückt: Es braucht eine gefühlte Gerechtigkeit. Solange die da ist, sind die Leute auch demokratisch und freiheitlich orientiert. Sie müssen das Gefühl haben, dass diese Gesellschaft ihnen Zugehörigkeit bietet, sie beheimatet. Wenn das weg ist, dann gibt es entsprechende Reaktionen. Manche wählen die AfD, andere wählen gar nicht mehr.
Was ist also Ihr Rat, um die AfD effektiver einzudämmen: Indem man ihr auf emotionaler Ebene stärker Konkurrenz macht und den Gefühlshaushalt der Menschen wieder in Ordnung bringt? Das klingt doch machbar.
Ich komme aus der empirischen Sozialforschung, daher ist es für mich besonders enttäuschend, dass die Politik deren Erkenntnisse offensichtlich überhaupt nicht wahrnimmt. Das finde ich völlig irre. Wann erodiert denn das Vertrauen in ein System? Warum geschieht so etwas? Das ist alles bekannt, wir haben gerade darüber gesprochen. Auf ein spalterisches Thema wie Migration zu setzen, um so zu mehr Wählerzustimmung zu kommen, ist ein geistiger Kurzschluss. Eine Protesttruppe wie die AfD kann damit zeitweilig Erfolg haben, aber doch nicht die Union, es sei denn, sie wird selbst zur AfD. Es ist zum Verrücktwerden.
Verrückt scheint die Welt tatsächlich geworden zu sein.
Aber das lässt sich erklären. In den USA haben auch zahlreiche Leute für Trump gestimmt, die ihn überhaupt nicht gut finden. Aber es gab für sie keine Alternative, weil er ihnen weit glaubwürdiger als seine Konkurrentin das Gefühl vermitteln konnte, Sicherheit und Orientierung zu bieten. Damit hat Trump in Wirklichkeit nichts am Hut, aber das ist eine andere Geschichte.
Warum hört die Politik nicht mehr auf die Wissenschaft?
Die Politik in Deutschland hat ihre Grundfunktion vergessen – die Erzeugung vertrauensbildender Zusammengehörigkeit. Das liegt einerseits an der Technokratisierung von Politik, aber auch an den Strukturen der parteiinternen Nachwuchsrekrutierung. Früher bekamen Forscher wie ich ab und zu eine Einladung aus der Politik, um gemeinsam über ein Thema zu sprechen. Wieweit das dann Einfluss hatte, sei mal dahingestellt. Aber heute machen das PR-Agenturen. Auch zwischen Parteispitzen und ihrer Parteibasis findet immer weniger Austausch statt, das hört man aus allen Ortsvereinen.
Das System hat sich gewissermaßen entkoppelt?
Dazu kommt die Rolle des politischen Journalismus, der das noch anheizt. Ich habe das verschiedentlich in Talkshows auch kritisiert: Der Journalismus tendiert stark dazu, über den Politikbetrieb zu berichten, aber nicht über Politik. Was interessiert es mich, mit wem der Merz kann oder nicht? Was interessiert es mich, wer gerade eine Intrige gegen wen spinnt? Mich interessiert, ob sie das Gesundheitssystem wieder hinkriegen.
Sind die inflationären Talkshows aber nicht eher Teil des Problems als Teil der Lösung?
Da haben Sie mich erwischt. Ja, die Talkshows sind in der Tat nicht unproblematisch. Denn sie bilden eine Nebenbühne, die aus Politik eben das macht, was ich "Politikerpolitik" nenne.
Der ein oder andere wird Sie auch sicherlich als unbequem empfinden.
Es steht ja nicht in meiner Arbeitsplatzbeschreibung, bequem sein zu müssen.
In Ihrem Buch "Das Haus der Gefühle" analysieren Sie auch die Gefahr, die die Vereinsamung innerhalb einer Gesellschaft darstellt. Wie bedrohlich ist diese?
Die Einsamkeit von Menschen ist die größte Gefahr für die Demokratie. Denn niemand möchte einsam sein. Wenn er dieses Gefühl empfindet, sucht er Anschluss. Und das kann bei den gänzlich falschen Leuten sein. Dass die etablierte Politik das nicht kapiert, ist aufschlussreich. Die Bewirtschafter der Angst haben gerade Hochkonjunktur, die Angst ist die Oberbefehlshaberin der Gefühle.
Ist ein gewisses Maß an Angst in dieser Zeit der Krisen nicht angebracht?
Selbstverständlich. In der Psychologie unterscheidet man aber Real-Angst von neurotischer Angst. Die eine reagiert auf echte Gefahr, die andere auf eingebildete. Da kann die Politik ansetzen, eben dadurch, dass sie Orientierung leistet. Angst ist das Einfachste, was ich überhaupt bewirtschaften kann. Ich wiederhole: Das machen im Augenblick vor allem die Rechten mit dem Thema Migration, die anderen springen drauf, weil sie nicht verstehen, was für ein gewaltiger Fehler dieses Aufspringen ist.
Aber die Umstände müssen den Populisten schon entgegenarbeiten, um erfolgreich Angst zu bewirtschaften, oder?
Ja. Nehmen wir die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1999. Das war im Vergleich zu heute ein ganz ruhiger Laden. Da hätte die AfD keine Chance gehabt, weil die Leute einfach keine Angst hatten. Dieses Hintergrundgefühl, über das wir eingangs gesprochen haben, ist ja ein diffuses Gefühl. Das erreicht gar nicht die kognitive Ebene. Erst wenn dieses Diffuse, dieses Hintergründige, in Unruhe gerät, werden wir anschlussfähig für irgendwelche Bewirtschafter der Angst.
Die sozialen Medien dürften ihren Teil dazu beigetragen haben?
Diese Unternehmen leben ja davon, Angst und Wut, Aggression und Verunsicherung zu erzeugen. Sie erschaffen auch einsame Menschen – und einsame Menschen sind das Beste, was Leuten mit totalitären Absichten passieren kann.
Damit wir in diesem Gespräch nicht nur in Pessimismus schwelgen: Sehen Sie auch Wege aus der Krise?
Mein Buch hat einen durchweg optimistischen Ansatz. Wir müssen uns doch nicht vor der Zukunft verstecken. Wir sind die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, unser Gesundheitssystem ist in der Krise, aber im Prinzip großartig. Ich weiß, wovon ich spreche: Vor fünf Jahren lag ich nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstation, seitdem lege ich mich mit jedem an, der erzählt, in unserem Land würde nichts funktionieren. Wir müssen aufhören, den Rechten über jedes Stöckchen zu springen, das sie hinhalten. Die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen ist so ein Beispiel.
Da ist die AfD weit hinter ihren Hoffnungen zurückgeblieben. Was meinen Sie?
Was schon fast ein Wunder ist, so wie zuvor alle über die AfD geredet haben. Speerspitze dieser überdonnerten Rhetorik war Ministerpräsident Hendrik Wüst, da konnte man ja Angst kriegen, dass die AfD das ganze Land überrollt. Aber 85 Prozent der Wähler in NRW sind vernünftige Menschen. Die AfD hat 15 Prozent gekriegt, das gefährdet keine Demokratie. Wir reden generell zu wenig über Deutschlands großen Trumpf.
Welchen?
Die Leute, die richtig handeln. Wir haben in diesem Land – Gott sei Dank – mehrheitlich eine vernünftige Bevölkerung. Die Leute engagieren sich ehrenamtlich, die drehen nicht durch, die schlagen niemanden zusammen. Und sie wählen, mindestens in Westdeutschland, durchaus rational. Die sind in keiner Gefahr, irgendwie Nazis zu werden. Das ist doch die Stärke von Demokratie: Ja, in Hagen und Duisburg türmten sich die Probleme, man muss sie konkret benennen und lösen. Dann wählt auch keiner die AfD. An deren Aufstieg hat der Journalismus in Deutschland auch seinen traurigen Anteil.
Provokante Gegenfrage: Die Medien haben also die AfD großgeschrieben und die Ostdeutschen sind teils irrational und unvernünftig?
Sagen wir mal so: Wenn ich die Innenstädte von Hagen oder Gelsenkirchen mit Erfurt oder Gotha vergleiche, muss die Ursache für die vielen ostdeutschen AfD-Wähler woanders liegen als in ihren realen Lebensumständen. Und zu den Medien: Der AfD wird ständig ein Gewicht gegeben, das sie gar nicht hat. Oder zumindest nicht hatte. Jetzt haben wir die bizarre Situation, dass die AfD in Westdeutschland als der Gottseibeiuns beschrieben wird, während die Lage in Ostdeutschland teils bagatellisiert wird. Da werden sich alle noch wundern, falls da nächstes Jahr nach einer Landtagswahl ein AfD-Mann Regierungschef werden sollte. Dann ist die komplette deutsche Politik ein Hühnerhaufen, weil ab diesem Moment de facto nichts mehr mit Brandmauer ist. Ich würde die Ostdeutschen übrigens nicht als unvernünftig bezeichnen, wie käme ich dazu? Aber die etablierte Politik interessiert sich nicht für die politische Dimension ihrer Gefühlslage.
Damit sind wir wieder beim Thema Ihres Buches. Warum haben Sie es geschrieben?
Das Buch ist der Versuch, eine andere Erzählung zu machen. Eine offene, vielleicht gerade deshalb auch orientierende Erzählung, eine Erzählung, die vielleicht verletzlich ist, weil ich auch über sehr Persönliches schreibe. Ich mache im Buch Suchbewegungen, wie die Dinge besser werden können, auch weil ich glaube, dass die Zeiten des wissenschaftlichen Experten vorbei sind, falls man nicht gerade Virologe in einer Pandemie ist. Das Buch ist eine Montage und hat Lücken, die man als Leserin und Leser ergänzt. Jedes Buch funktioniert nur unter der Hinzufügung dessen, was der Leser denkt. Klingt gut, ist aber nicht von mir.
Ich meine, den Schriftsteller Umberto Eco darin zu erkennen.
Richtig. "Lector in fabula" heißt Ecos entsprechendes Buch. Ich möchte, dass man selbst eigene neue Gedanken findet, wenn man mein Buch liest. Was aber nun tatsächlich wichtig ist, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wir müssen in dieser Umbruchsituation doch dringend die Frage stellen: Welches Land wollen wir denn eigentlich sein?
Ja, welches?
Eines, das seine freiheitliche Ordnung bewahrt und wieder ein Aufstiegsversprechen hält, würde ich sagen. Ohne einen Horizont, der den bloßen Reparaturbetrieb überschreitet, verliert man die Leute. Und es wird gewiss nicht besser, wenn wir uns diese Frage gar nicht mehr zu stellen trauen.
Zurzeit ist Deutschland arg versetzungsgefährdet, wenn wir es so sehen wollen.
Das kann man wohl sagen. Eigentlich bräuchten wir dringend Nachhilfe. Aber bei wem? USA, China, Russland? Eher nicht. Die anderen Europäer sitzen wiederum mit uns im gleichen Boot. Außer den Skandinaviern, die zwar auch ihre Probleme mit den Rechtspopulisten haben, aber zumindest Ideen dagegen entwickeln. Geld allein wird das Problem nicht lösen. Eher braucht es Blut, Schweiß und Tränen, um unseren Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.
Also mehr als ein "Herbst der Reformen"?
Der "Herbst der Reformen" ist auch wieder so ein Agenturscheiß. Alle labern sie vom "Herbst der Reformen", jeder halbwegs vernünftige Mensch in der Bundesrepublik denkt sich seinen Teil. Warum nicht einfach mal mit nur einem einzigen Bereich der Gesellschaft anfangen, da aber mal vernünftig?
Woran denken Sie?
Die Bildung. Frau Prien könnte als Bundesministerin doch die Karten auf den Tisch legen und bekennen: "Was bei uns seit Jahren in den Schulen läuft, ist eine absolute Katastrophe." Wir müssen zurück zu Willy Brandt, wir müssen einen Begriff davon haben, wofür Bildung in der Demokratie eigentlich da ist. Die Schule der Nation ist die Schule. Punkt. Wenn ich jetzt diese Debatte über die Wehrpflicht beobachte, wird mir ganz anders.
Was ist Ihr Problem damit?
Von den jungen Menschen wird immer nur etwas gewollt, es wird ihnen verdammt wenig gegeben. Ich habe in letzter Zeit oft mit jungen Menschen gesprochen und der Frust ist dort groß. Wer wurde denn während der Pandemie am meisten hängen gelassen? Wer hat jede Menge Unterrichtsausfall, marode Klos und Seiteneinsteiger-Lehrer? Wer kriegt später keine Rente? Und nun sollen diese jungen Leute die Wehrpflicht aufgedrückt bekommen, für Probleme, die sie nicht geschaffen haben? Na, schönen Dank auch.
Irgendwer muss dieses Land im Notfall verteidigen.
Dann sollten wir denjenigen, von denen man das will, auch den Respekt erweisen, den sie verdienen. Oder?
Professor Welzer, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Harald Welzer via Videokonferenz














