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Deutschland, Russland und die Freiheit: "Putin will uns maximal schaden"


Bedrohte Freiheit
"Nun legt Trump in den USA die Axt an"

InterviewEin Interview von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 09.11.2025Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin und Donald Trump: Die beiden Präsidenten bedrohen die Freiheit.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin (l.) und Donald Trump: Die beiden Präsidenten bedrohen die Freiheit. (Quelle: Kevin Lamarque/reuters)
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Freiheit und Demokratie haben zahlreiche Feinde. Wie konnte es nach den Hoffnungen des Wendejahres 1989 so weit kommen? Schriftsteller Marko Martin erklärt, was falsch gemacht wurde und wieso Wladimir Putin nur Zerstörung kennt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 sollten Freiheit und Frieden global Einzug halten. Doch diese Hoffnung trog. In unserer Gegenwart stehen Freiheit und Demokratie unter enormem Druck: In Deutschland erstarkt die AfD, aggressive und revisionistische Mächte wie Russland unter Wladimir Putin sehen den liberalen Westen als Feindbild. In der westlichen Führungsmacht USA zeigt Donald Trump wiederum autoritäre Neigungen.

Ein früher und langjähriger Mahner und Warner vor der Bedrohung der Freiheit ist der Schriftsteller Marko Martin, Autor des Buches "Freiheitsaufgaben". Im Gespräch erklärt Martin, welche Fehler speziell in Deutschland gemacht werden, worauf Wladimir Putin aus ist und warum Martin durchaus Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat.

t-online: Herr Martin, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, die Menschen der DDR gewannen ihre Freiheit zurück. Wie steht es rund 35 Jahre nach der Wiedervereinigung um die Freiheit in Deutschland?

Marko Martin: Unsere Freiheit steht vor einer ungeheuren Belastungsprobe. Wir haben einen Rechtsruck im Osten, der Westen ist verzagt. Die moralischen Maßstäbe verrutschen, Zentimeter für Zentimeter, Tag für Tag. Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt, denn die freiheitlich verfassten Gesellschaften stehen unter einem zweifachen Druck: von außen durch autoritäre Mächte wie Russland und China und von innen durch autoritäre Parteien wie die AfD.

Haben wir unsere "Freiheitsaufgaben", so der Titel Ihres neuen Buches, also vernachlässigt?

Wir waren viel zu sorglos, nun rächen sich die Fehler der Vergangenheit. Der Verlust der Freiheit, das war scheinbar etwas, das nur anderen passieren konnte. Diese Fehleinschätzung war der deutsche Kardinalfehler. Wie schnell freiheitliche Strukturen zerbröseln, zeigt doch das Beispiel Ungarn: Dort hat Viktor Orbán es vorgemacht, jetzt legt Donald Trump in den USA die Axt an. In Frankreich wird die Mitte zerquetscht in einer gemeinsamen Anstrengung von Rechtsaußen und Linksaußen – um ein weiteres Beispiel zu nennen.

Erinnern Sie die aktuellen französischen Verhältnisse an die Weimarer Republik?

Durchaus. Geschichte wiederholt sich nicht auf die gleiche, aber auf vergleichbare Weise. Die Kunst des Kompromisses, die Fähigkeit zur Toleranz wird beiseite gewischt zugunsten eines auftrumpfenden Jetzt-muss-mal-was-passieren. Aber die Geschichte lehrt uns auch, dass es immer schiefgeht, wenn radikale Prediger radikale Lösungen anstreben.

Zur Person

Marko Martin, Jahrgang 1970, ist weit gereister Schriftsteller und Publizist. Martin schreibt für verschiedene deutsche Medien und ist Autor zahlreicher Bücher wie "'Brauchen wir Ketzer?' – Stimmen gegen die Macht: Portraits" (2022) und "Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober" (2024). Kürzlich erschien Martins neuestes Buch "Freiheitsaufgaben" im Tropen-Verlag.

Woran fehlt es derzeit am meisten bei der Verteidigung der Freiheit?

Wir bräuchten mehr Mut, zu unseren Überzeugungen zu stehen. Wir haben es ja mit Kräften zu tun, welche die Stückwerk-Arbeit der Politik als nutzloses Klein-Klein permanent lächerlich machen. Aber es ist doch gerade dieses Klein-Klein, das unsere Gesellschaften effizienter, fortschrittlicher und gleichzeitig menschenfreundlicher macht, step by step. Nehmen wir etwa die Europäische Union, die so oft gescholten wird. Gewiss, sie ist manchmal schwerfällig, erzeugt oft überflüssige Bürokratie. Aber: Sie erzeugt auch Frieden und Wohlstand. Und das wissen viel zu viele Menschen viel zu wenig zu schätzen, fürchte ich.

Was tun?

Die Parteien der demokratischen Mitte machen einen gewaltigen Fehler, wenn sie lediglich aus einer Position der Defensive heraus agieren und Reformen fast entschuldigend angehen. Überdies sind diese dann oft auch nur halbherzig gemeint und geplant, entsprechend niedrig sind die Erwartungen. Weshalb nicht einmal mutig sein und offen, ehrlich und offensiv vorgehen? Die demokratischen Parteien müssten deutlicher machen, dass sie Strategien für die Zukunft haben.

Aber wenn sie im Hinblick auf Strategien tatsächlich eher blank sind?

Dann sollten sie dringend welche entwickeln. Die AfD weiß ganz genau, was sie will. Sollten die demokratischen Parteien das nicht erst recht? Eine selbstbewusste Politik des Schritt-für-Schritts, Fehler und Korrektur, offen und transparent, könnte noch immer erfolgreich sein. Davon bin ich überzeugt.

Friedrich Merz will der AfD insbesondere beim Thema Migration Konkurrenz machen. Hat der Bundeskanzler eine Chance auf Erfolg?

Die AfD kann Merz doch jederzeit rechts überholen. Also eher nicht. Sich nun auf das Thema Abschiebungen zu konzentrieren, greift ebenfalls zu kurz. Das hat auch die Aufregung um Merz' "Stadtbild"-Äußerung gezeigt. Da fühlten sich auch viele Menschen angegriffen, die einen Migrationshintergrund haben und denen Merz nach eigener Aussage nicht zu nahe treten wollte.

Mittlerweile haben rund 30 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund.

Ja. Und wir sollten uns eher auf die Verfassungstreue konzentrieren. Egal, woher Menschen kommen, egal, was die Menschen tun und lassen, der Rahmen muss immer die Verfassungstreue sein. Das ist der Rahmen, in dem sich jeder nach seinem Gusto ausleben kann und soll. Dann spielt es keine Rolle, ob es ein eingebürgerter ehemaliger Flüchtling ist oder ein sogenannter Biodeutscher.

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Wie soll das in der Praxis gelingen? Sowohl in migrantischen Parallelgesellschaften als auch in rechtsextremen Kreisen, die jeweils die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen?

Zunächst einmal müssen wir offen über die Probleme reden – und sie nicht ignorieren oder verharmlosen. Wer sich nicht an die Verfassung und ihre Grundsätze hält oder sie gar bekämpft, muss entsprechend sanktioniert werden. Ein Sanktionsapparat beißt sich stets mit der Freiheit, aber Freiheit kann eben nicht grenzenlos sein. Den Feinden der Freiheit Grenzen aufzuzeigen, ist wiederum eine "Freiheitsaufgabe".

Der Begriff "Freiheitsaufgabe" ist doppeldeutig, haben Sie ihn deshalb für Ihr Buch gewählt?

Das hat sich zusammengefügt. Wir alle wollen angstfrei leben, wollen weder an Körper noch an Seele beschädigt werden. Deswegen müssen die Regeln der Verfassung gelten. Darauf kann sich doch jeder von Mitte links bis Mitte rechts einigen. Das sehe ich auch als einen Teil der Verantwortung der öffentlichen Rede und des öffentlichen Handelns. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir nur auf die Extremisten starren – wie das Kaninchen auf die Schlange. Es bringt auch nichts, stets nur nach Verfallsymptomen Ausschau zu halten. Mir geht es darum, Mut zu machen.

Sie sind gebürtiger Sachse. 1989 war ihre Heimat so wichtig für die friedliche Revolution in der DDR. Heute ist die AfD in Sachsen stark. Worin liegt das?

Es kam in Sachsen – wie auch andernorts in der früheren DDR – zu einem folgenschweren Irrtum. Freiheit, so glaubten viele, führe automatisch zu Glück. Aber so einfach ist das nicht. Freiheit ist die Basis für alles, auch für Glück. Den Weg dahin muss man aber schon selbst beschreiten. Weder Freiheit noch Glück werden einem geschenkt, dafür müssen wir alle etwas tun. Daher stammt auch diese tiefe Unzufriedenheit.

Weil die DDR ihren Bürgern versprach, sie glücklich zu machen? Zur Not auch mit Zwang und Gewalt?

Ja. Die DDR entmündigte die Menschen. Aber Freiheit ist eben auch Verantwortung, die muss man schon selbst tragen. In meinem Buch zitiere ich den österreichisch-französischen Schriftsteller Manès Sperber. Nach ihm ist Freiheit auch "die kategorische Ablehnung der Mutlosigkeit". Das sind wahre Worte. Und wir müssen den Mut doch auch gar nicht verlieren.

Was macht Ihnen Mut?

Ich will nicht das "Wort zum Sonntag" führen, sondern ganz konkrete Beispiele liefern. Da sind etwa Millionen Menschen in diesem Land, die in Ehrenämtern als Bürger Gutes tun. Diese Menschen überführen all diejenigen der Lüge, die behaupten, dass in diesem Land nichts mehr funktioniert. Joachim Fest, ein liberalkonservativer Publizist, hat einmal geschrieben: "Unter den Gefährdungen freiheitlicher Systeme steht das Empfinden der Ohnmacht obenan, und dessen Wortführer waren seit je die sichersten Beförderer jenes Menetekels, das sie von den Wänden lasen." In Deutschland muss sich niemand ohnmächtig fühlen, das wollen uns nur falsche Propheten einreden. Ich habe mein Buch gegen diese Verliebtheit in die Ohnmacht geschrieben.

Zu diesem Gefühl der Ohnmacht gehört der erschütterte Glaube an eine positive Zukunft. Haben Sie angesichts des Klimawandels, von Kriegen und Krisen dafür Verständnis?

Selbstverständlich. Gerade für junge Menschen, die sich eine Zukunft aufbauen wollen. Wir leben in brutalen Zeiten, was teils auch unserer Sorglosigkeit und Scheinheiligkeit geschuldet ist. Besonders wehre ich mich gegen die rabulistische Entgegensetzung von Freiheit versus sozialer Chancengleichheit: dieser verschmierte Freiheitsbegriff der sogenannten Libertären, die uns weismachen wollen, Freiheit wäre es, wenn jeder allein an sich denkt. Elon Musk hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Empathie und Solidarität seiner Ansicht nach nur etwas für Schwächlinge sind. Mehr kann man den Begriff der Freiheit kaum verhunzen.

Die Zahl der Menschen, die in Freiheit leben, sinkt, Autokratien sind im Aufschwung. Russland ist militärisch aggressiv, China setzt auf seine Wirtschaftsmacht. Wer ist gefährlicher für die Freiheit?

Auf längere Sicht ist China womöglich sogar noch gefährlicher. Dort herrscht das Ideal einer formierten, fortschreitenden Gesellschaft, in der Menschen eigentlich zu Ameisen gemacht werden. Bei Wladimir Putin findet sich keine politökonomische Vision, noch in seinen blutigen Aggressionen ist das Regime eher rückwärtsgewandt. Er will uns maximalen Schaden zufügen, das reicht ihm. Auch deshalb ist Putin langfristig zum Scheitern verurteilt. Er hat kein Programm, er kann nur Angst, Tod und Zerstörung verbreiten.

Wie konnten wir Russlands Wunsch nach einer Revanche mit dem Westen so lange unterschätzen?

Das lag unter anderem auch daran, dass dem Westen der Sieg von 1989 quasi geschenkt wurde. Sicher, es gab etwa die amerikanische Hochrüstungspolitik unter Ronald Reagan, die zum Zerbröseln der Sowjetunion beigetragen hat. Aber innerhalb des Westens kam es nicht zu einer echten Kraftanstrengung, die dazu beigetragen hätte, den Ostblock implodieren zu lassen. Letzten Endes war es der Mut der Menschen in den autoritären Gesellschaften, aufzustehen und ihre Regime weg zu demonstrieren. Leider haben wir hinterher viel zu oft den falschen Leuten zugehört.

Bitte erklären Sie das.

Die westlichen Gesellschaften sind heute doch auch deshalb von Putin derart überrascht, weil sie vor und nach '89 gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise Russland relativ naiv waren. Man hat nicht verstanden, dass die Idee der Schaffung eines neuen Menschen, des Homo sovieticus, seit 1917 über Generationen hinweg tatsächlich von Erfolg geprägt war. Erst der Kommunismus und nun das nihilistische Putin-Regime hatten ausreichend Zeit, Menschen in ihrem Sinne zu konditionieren. Immer wieder wird davon geredet, dass man Russland verstehen und zuhören müsse. Warum also hat man dann nicht auf die russischen Dissidenten gehört? Weshalb nicht auf Gruppen wie Memorial, die inzwischen sogar den Friedensnobelpreis erhalten haben?

Ja, warum?

Weil es bequemer war, die angebliche russische Seele zu bewundern. Von Dostojewski bis Schwanensee, das klang doch gut. Wichtiger wäre es gewesen, den Kritikern zuzuhören, die uns unter immensen persönlichen Risiken zu warnen versuchten, aus dem Inneren dieser Systeme heraus. Und nein, das ist keine abgehobene Feuilleton-Debatte. Das betrifft die Wahrnehmung von Bedrohungen, das betrifft uns alle. Wir müssten nur richtig hinsehen. Aber das wollen manche nicht.

Wer?

Wir haben über eine weitere vernachlässigte Bedrohung, über den Islamismus, noch nicht einmal gesprochen. Darüber hinaus gibt es generell eine merkwürdige Einstellung, wie sie etwa in einem Wahlplakat der Linken zum Ausdruck kommt: Zwei junge Leute schauen genervt in die Kamera, darunter steht: "Wir sind kriegsmüde". Was ist das für eine ungeheure Anmaßung gegenüber den Menschen in der Ukraine? Eine mentale Kapitulation ...

Die Ukrainer erkämpfen uns gegenüber der russischen Bedrohung Zeit. Nutzen wir sie gut?

Wir könnten sie wesentlich besser nutzen. Aber immerhin kommt etwas in Bewegung. Ein wenig erinnert mich das an die "Briefe an einen deutschen Freund", die der französische Schriftsteller Albert Camus während der Zeit des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat. Der "deutsche Freund" ist ein imaginärer Wehrmachtssoldat, der als stark und schlagkräftig beschrieben ist. Albert Camus resümiert sinngemäß: "Wir hatten lediglich den Zweifel, und das machte uns schwach. Wenn jedoch zum Zweifel die gerechte Stärke kommt, dann ist das mächtiger als pure Gewalttätigkeit."

Höre ich da Optimismus heraus?

Es geht nicht um eine neue Durchmilitarisierung unserer Gesellschaft. Aber wir haben hier durchaus etwas zu verteidigen. Ich sehe das oft bei Lesungen, bei jungen Leuten. Da ist sehr viel Nachdenklichkeit, da ist zivile Wehrhaftigkeit.

Eine letzte Frage: Vor einem Jahr haben Sie im Schloss Bellevue eine kritische Rede zur deutschen Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte gehalten und dabei Frank-Walter Steinmeier als früheren Außenminister direkt angesprochen. Der heutige Bundespräsident reagierte erbost. Gab es seitdem ein klärendes Gespräch?

Nein. Ohnehin müsste er sich ja nicht mir erklären, sondern der gesamten Gesellschaft. Alles, was von der üblichen Abwiegelungs- und Gedenkroutine abweicht, kann uns nur guttun.

Herr Martin, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marko Martin via Videokonferenz.
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