Millionenfach angesehen Täuschend echt: Rentner-Video schürt Wut auf Merz
Die Rentenpolitik steht bei vielen in der Kritik. Im Netz kursiert ein Video dazu, das seit Wochen Millionen Menschen wütend macht. Doch dabei handelt es sich um eine Manipulation.
Ein TV-Auftritt lag schon neun Jahre zurück, als er Herrmann Wieters einholte. Am 7. Juli rief ein Bekannter von Wieters an und sagte, dass er dem Merz ja ganz schön Kontra gegeben habe. "Ich war überrascht und dann erschrocken", sagt Wieters. Seither wird er immer wieder angesprochen auf Videos mit Titeln wie "Rentner gegen Merz" oder "Rentner stopft Merz das arrogante Maul", in denen er mit Kanzler Friedrich Merz zu sehen ist.
Der 69-jährige Wieters, Grünen-Mitglied und streitbarer Gemeinderat in der Samtgemeinde Hambergen in Niedersachsen, spielt unfreiwillig eine tragende Rolle bei einem beispiellosen Versuch, mit einer Fälschung Stimmung gegen den Bundeskanzler zu machen. Das Video wurde millionenfach angeschaut, zahllos in WhatsApp-Gruppen mit Freunden, Kollegen oder Familienangehörigen geteilt. Es trifft einen Nerv, weil der Rentner sich darüber ärgert, dass Politiker nicht in die gesetzliche Rente einzahlen – und Merz dazu vermeintlich verächtlich lacht. Merz ist unbeliebt, Merz gilt als arrogant – da erfüllt die Szene alle Vorurteile.
Die reichweitenstärkste Fassung des Videos wurde laut YouTube seit dem 9. August 7,2 Millionen Mal angesehen. Unter den Kommentaren ist "Dieses arrogante Getue von dem Merz ist zum Kotzen" mit 9.000 Likes am erfolgreichsten, gefolgt von "Da sitzt die Arroganz pur ..." (mehr als 6.000) und "Wie der Merz schaut, sagt alles, der nimmt den Herr [sic] gar nicht ernst" (mehr als 4.000).
Szenen sind echt – und haben nichts miteinander zu tun
Doch Wieters und Merz sind noch nie aufeinandergetroffen. Die Szenen, die den Rentner so engagiert zeigen, sind zwar echt. Sie entstanden, als er im Juni 2016 beim WDR zu Gast in der Sendung "Ihre Meinung" war. Der Rentner redete dort über kleine Renten, Altersarmut und einen nötigen Systemwechsel. "Das würde ich auch heute jederzeit wieder so sagen, dazu stehe ich", sagt Wieters t-online. Zu Gast war allerdings der damalige Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, der dort neben dem Namensgeber der Riester-Rente saß, Walter Riester.
Aber nicht Friedrich Merz. Die Bilder, die ihn mit einem Grinsen zeigen, sind ebenfalls echt. Sie stammen allerdings aus der Talkshow "3nach9" von Radio Bremen, in der Merz im Juni 2024 neben dem Designer Guido Kretschmer, dem damaligen "Tagesschau"-Sprecher Constantin Schreiber und einem früheren Leuchtturmwärter zu Gast war. Die Sendung war nicht bierernst, Merz musste mehrfach schmunzeln.
Beide Szenen wurden so zusammengeschnitten, dass es wirkt, als wären Wieters und Merz im Gespräch. Es ist ein Lehrbeispiel, wie Menschen emotional manipuliert werden können – in diesem Fall ganz ohne Künstliche Intelligenz und am Computer generierten Inhalten.
"Mich haben seit Juli ganz viele Menschen angesprochen", sagt Rentner Wieters. "Frühere Arbeitskollegen, von denen ich seit Jahren nichts mehr gehört habe." Am Freitag hat er in seiner eigenen Facebook-Gruppe noch einmal den Hinweis gepostet, dass er Merz nicht getroffen habe. "Die meisten können das dann gar nicht glauben, wie sie da getäuscht wurden."
Finanzberater mit Video auf Kundenfang
Zu sehen ist das manipulierte Video jetzt auf diversen Plattformen, etliche Nutzer haben es kopiert, teils leicht verändert, teils mit eigenem Kommentar hochgeladen. Auf TikTok beispielsweise bekommen "Die Moneyboys", die Finanzprodukte verkaufen wollen, 190.000 Herzen für die Szene mit der Betitelung "Rentner stopft Merz das Maul". Viele andere Finanzberater auf Instagram nutzen die Vorlage auch.
Auf Facebook hat gerade erst ein Account mit Namen "Stefan Homburg" das Schwindel-Video gepostet und dafür fast 10.000 Likes bekommen. Der Account ist selbst ein Beispiel, wie weit Desinformation gehen kann. Laut dem echten Stefan Homburg handelt es sich um einen Fall von "Identitätsdiebstahl", er habe nichts damit zu tun, sagt er t-online. Homburg ist ein pensionierter Professor, der zu einer Ikone von Coronaleugnern wurde und regelmäßig selbst Desinformation verbreitet. Allerdings nicht auf Facebook oder Telegram, wo Unbekannte unter seinem Namen Inhalte teilen.
Der Account "Red Scorpion", durch den das Video mit 7,2 Millionen Klicks auf YouTube die größte Verbreitung erhielt, hat dort in seinem Kanal noch ein weiteres Video mit einem weiteren Teilnehmer der damaligen "Ihre Meinung"-Sendung und den identischen, bei anderer Gelegenheit entstandenen Merzbildern gepostet: 1,7 Millionen Abrufe. In dem Kanal finden sich zahlreiche Videos, in denen Politiker demokratischer Parteien zu sehen sind und die mit Titeln über "gestopfte Mäuler" und "Volltreffer in die Fresse" versehen sind. Lediglich die AfD wird dort anhaltend positiv dargestellt.
Den Kanal gibt es seit 2017, die Videos aus anderen Quellen bringen es insgesamt auf 260 Millionen Abrufe. Vordringlich geht es offenbar um politische Motive – die Kanalbeschreibung ist "Einmal wird unsere Geduld zu Ende sein". Einige Inhalte sind pro-russisch.

Telegram-Kanal produziert mit KI Merz-Fakes
Das wirkmächtige Video von Friedrich Merz und dem Rentner besteht zumindest aus echtem Material. Doch auch computergeneriert wird einiges verbreitet, was Merz schaden soll. Russische Kampagnen haben zuletzt versucht, mit Bots den Kanzler als revanchistischen Nazi darzustellen. Ein Telegram-Kanal erstellt zudem mithilfe von KI und der Stimme von Merz Tondokumente, die dann als Beleg dienen für empörende Aussagen, die Merz tatsächlich nie gesagt hat. Dieser Kanal verbreitet auch gefälschte Zitate anderer Politiker. Er nennt sich "Unabhängig-Neutrale Nachrichten". Der österreichische Administrator Christopher Wolf gibt im Impressum eine Adresse in Nicaragua an. Ein Kanal des russischen Staatsmediums Sputnik hat ihn als Partnerkanal bezeichnet und mehrfach empfohlen, wie die Rechercheplattform "Correctiv" berichtete.
Mit dem Merz-Video erzielte er zwar gemessen an der Verbreitung einen großen Erfolg. Urheber desselben ist er jedoch nicht. t-online fand das erste und zugleich längste Video in einem Kanal mit dem Namen "Freiheit". Dort wurde es am 30. Juni gepostet. Es kommt bisher auf "nur" rund 280.000 Abrufe.
Der Kanal sieht inhaltlich kaum anders aus als "Red Scorpion", allerdings ist eine Kontaktadresse angegeben. t-online hat dort angefragt, ob "Freiheit" die Fälschung selbst zusammengeschnitten hat oder woher das Video stammt. t-online wollte auch wissen, was der Betreiber zur Fälschung sagt. Es kam keine Antwort. Geld könnte ein Motiv sein: Der Kanal ist monetarisiert, in den Videos wird Werbung eingeblendet, an der YouTube und der Kanalbetreiber verdienen. Auf der Plattform X hat zudem ein grünennaher Account, der "Faktencheck" im Namen führt, das Video am Donnerstag hochgeladen: 180.000 Abrufe seither. Wut-Videos finden leicht ein Publikum.
Das findet Herrmann Wieters schade: "In den sozialen Netzwerken verlieren Menschen den Respekt, und sachliche Auseinandersetzung bleibt auf der Strecke." Er habe Merz auch schon Lügner genannt, "aber als Menschen achte ich ihn". Und er würde tatsächlich sehr gerne einmal mit Merz über seinen Vorschlag zur gesetzlichen Rente sprechen und dessen echte Reaktion darauf hören. In der WDR-Sendung hatte er gefordert, die Rentenversicherungsbeiträge abzuschaffen und stattdessen die Rente über eine höhere Umsatzsteuer zu finanzieren. "Dann zahlt jeder, auch Politiker und Beamte."
Rentner riet zu Systemumstellung
Seit er das damals in der Runde thematisiert habe, seien bald zehn Jahre vergangen, "und die Probleme mit der Rente haben sich verschärft." Zusätzliche private Vorsorge könnten sich viele Menschen nicht leisten, es drohe Altersarmut.
Wieters hatte damals von sich berichtet: 330.000 Euro habe er schon in die Rentenkasse eingezahlt, 1.900 Euro Rente erwarte er. "Ich hatte da sehr gut verdient und nach der Sendung noch drei Jahre Einzahlungen. Heute bekomme ich tatsächlich 2.350 Euro. Davon kommen aber rund 250 Euro aus Österreich für zwei Jahre, die ich dort gearbeitet habe." In Österreich zahlten auch alle ein.
Ziemiak und Riester waren damals nicht auf seinen Vorschlag eingegangen, aber die Rentenexpertin Ute Klammer, Sozialwissenschaftlerin an der Uni Duisburg-Essen, hatte in Teilen zugestimmt: Eine stärkere Steuerfinanzierung sei ein sinnvoller Weg. Um das System zu retten, müssten alle Formen von Erwerbstätigkeit einbezogen werden, und die Politik berücksichtige das zu wenig.
- Eigene Recherchen
- correctiv.org: Fake-Zitate deutscher Politiker auf Telegram: Spur führt von Österreich nach Russland







