Ost-Berlin, im Herbst 1965: Erzieherinnen unternehmen mit den ihnen anvertrauten Kleinkindern einen Spaziergang (Quelle: dpa)
Eines der dunkelsten Kapitel der SED-Diktatur lässt auch 18 Jahre nach der Wiedervereinigung viele Betroffene nicht zur Ruhe kommen: Zwangsadoptionen. Denn noch immer gibt es Streit darüber, wie viele Kinder ihren Eltern etwa aus politischen Gründen entrissen wurden. Während Experten von nur wenigen wirklich politisch motivierten Fällen ausgehen, sind Betroffene von einer hohen Dunkelziffer überzeugt.
Derweil suchen Dutzende Eltern noch immer nach ihren Kindern und Kinder nach ihren leiblichen Eltern. Auf einer erst seit wenigen Monaten bestehenden Internet-Seite des Geraer Vereins "Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen" sind bereits knapp 60 Suchanzeigen vermerkt.
Lautes Donnern an der Tür
Die Initiatorin Katrin Behr sieht sich selbst als Opfer. Als sie vier Jahre alt war, wurde ihre Mutter 1972 verhaftet. "Wir haben morgens noch geschlafen, als es plötzlich laut an die Tür gedonnert hat", erinnert sie sich. "Dann mussten wir uns ganz schnell anziehen." Die Kinder und die Mutter wurden voneinander getrennt. "Sie hat noch versprochen, dass sie abends wieder kommt, aber sie kam nicht." Sie und ihr Bruder wurden zunächst ins Kinderheim gesteckt.
Die neue Mutter war Parteisekretärin
Behrs Mutter wurde nach dem Asozialen-Paragraf 249 verurteilt und inhaftiert. Sie habe sich trotz des Drucks geweigert, ihre beiden Kinder zur Adoption freizugeben, erzählt die Tochter. Genützt hat es nichts. Behr kam nach mehreren gescheiterten Versuchen drei Jahre nach der Verhaftung ihrer Mutter in eine Familie in Gera. Ihre neue Mutter war Parteisekretärin und linientreu.
Schuldige sind schwer auszumachen
"Bei dem Vorwurf der Asozialität ist der SED-Staat sehr hart vorgegangen", sagt die Juristin Marie-Luise Warnecke, die sich in ihrer Dissertation mit Zwangsadoptionen in der DDR befasst hat. "Allerdings ist es schwierig nachzuweisen, wo das Verschulden zuerst lag." Zwar seien solche Fälle nicht zu verharmlosen, doch es könne auch am Unvermögen und Versagen der Eltern gelegen haben, dass ihnen die Kinder weggenommen wurden.
Zwangsadoption aus politischen Gründen eher selten
Bei ihrer Studie, die von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wurde und im Herbst veröffentlicht werden soll, hat Warnecke fünf vollendete und eine versuchte Zwangsadoption aus politischen Gründen nachweisen können. "Fallzahlen von 1000 und mehr entbehren jeglicher Grundlage", resümiert sie. Zudem habe sie keine Hinweise gefunden, dass es eine direkte Anweisung der damaligen Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, für diese Sanktionen gegeben hat. "Es ist kein einheitlich angewandtes Verfahren zu erkennen, was gegen eine generelle Anweisung spricht."
Erziehung zum sozialistischen Patriotismus
Grundlage für Zwangsadoptionen war das Familiengesetzbuch der DDR. Es ließ den Entzug des Erziehungsrechts bei "schwerer schuldhafter Verletzung der elterlichen Pflichten" zu. Zu den Pflichten gehörte es, Kinder "zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens" und "zum sozialistischen Patriotismus" zu erziehen.
Auch "BRD" hätte in vielen der Fälle die Kinder entzogen
Anfang der 1990er Jahre war in Berlin eine Stelle zur Aufklärung von Zwangsadoptionen eingerichtet worden. Dort kam man zu einer ähnlichen Einschätzung wie Juristin Warnecke. Insgesamt wurden sieben Zwangsadoptionen wegen politischer Vergehen der Eltern aufgedeckt, der Großteil davon in den Jahren 1969 bis 1976. In vielen anderen Fällen, in denen sich Mütter hilfesuchend an die Stelle wandten, mussten die Beamten allerdings einräumen, "dass ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach den Gesetzen der Bundesrepublik die Kinder weggenommen worden wären". Doch hätten die DDR-Behörden diesen oftmals gestrauchelten Müttern übel mitgespielt.
Enthüllung bei der Hochzeit
Nach Einschätzung Behrs gibt es heute noch viele Hürden, die zwangsweise adoptierte Menschen daran hindern, nach ihren leiblichen Eltern zu suchen. So trauten sich viele aus Loyalität zu ihren Adoptiveltern nicht, eine Suche zu starten. "Da sitzt man als Kind zwischen zwei Stühlen." Zudem würden sie mitunter bei den Ämtern mit der Antwort abgespeist, es gebe keine Akte mehr. Ihr sei auch von Fällen berichtet worden, bei denen die Kinder gar nicht wussten, dass sie zwangsadoptiert seien, sagt Behr. Dies komme erst heraus, wenn sie bei einer Hochzeit die Abstammungsurkunde vorlegen müssten. Doch vom 1. Januar 2009 soll diese Urkunde nicht mehr verlangt werden. "Der Zufall spielt dann keine Rolle mehr."