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Antisemitismus: Es gibt ein wirksames Mittel gegen den Judenhass


75 Jahre Auschwitz-Befreiung
Es gibt ein wirksames Mittel gegen den Judenhass

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 26.01.2020Lesedauer: 5 Min.
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Gleise im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau: Angesichts der Zeitzeugen, die nach und nach versterben, kann man nicht genug über den Holocaust sprechen.Vergrößern des Bildes
Gleise im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau: Angesichts der Zeitzeugen, die nach und nach versterben, kann man nicht genug über den Holocaust sprechen. (Quelle: imago-images-bilder)

Reden wir zu viel über den Holocaust? Wenn ja, warum ist der Antisemitismus immer noch so stark? Geld alleine bringt es nicht. Die

Eine Million Follower auf Twitter. Das plante das Auschwitz Museum für den 75. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers. Im Herbst wurde die Kampagne gestartet. Die ursprüngliche Vorgabe von zunächst 750.000 Followern war schnell übertroffen, inzwischen ist auch die anvisierte Millionen-Marke geknackt.

Manche mögen so eine "Rallye" kindisch finden, doch sie ist es mitnichten. Täglich klärt das Museum auf seinem Twitter-Konto über die Geschichten und Einzelschicksale von Opfern auf. Es nutzt die modernen Kommunikationswege, um die Erinnerung wachzuhalten. Genau diese Herausforderung wird mit jedem weiteren Jahr und jedem weiteren altersbedingten Tod der letzten noch verbliebenen Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen wichtiger. Da zählt jeder einzelne Follower.

Oder?

Oder werden wir mit Auschwitz, Zweitem Weltkrieg und Hitler nicht geradezu überschüttet? Geht es nicht andauernd um die Nazi-Zeit? Ein Ja auf diese Fragen ist weit verbreitet. Vor fünf Jahren belegte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, dass 81 Prozent der Deutschen die Geschichte des Holocausts am liebsten "hinter sich lassen" möchten. Das ist die bekannte Schlussstrich-Rhetorik: "Nach so vielen Jahren muss doch mal endlich Schluss sein."

Es fiele leichter, der Forderung nachzugeben, wenn wenigstens der Antisemitismus inzwischen erstickt wäre. Doch das Gegenteil ist der Fall. Diese Woche war sogar die Rede von einer "Explosion des Antisemitismus" in Deutschland und Europa. Wie sollte man da aufhören, an Auschwitz zu erinnern?

Vielmehr muss sich die Welt gerade vor dem Hintergrund des Verlusts von Zeitzeugen verstärkt Gedanken darüber machen, wie sie damit weiter umgehen soll. Twitter, YouTube, Facebook sind eine Lösung. Klassische Ausstellungen wie "Survivors" in der Essener Zeche Zollverein, die Porträts von 75 Holocaust-Überlebenden zeigt und von Bundeskanzlerin Merkel am Montag eröffnet wurde, eine andere. Mahnungen aus der Politik und von Amtsträgern sind ebenfalls wichtig, um das Thema präsent zu halten. Doch in der Sache erreichen routinierte Sonntagsreden und standardisierte Warnungen wenig.

Antisemitismus lässt sich nicht allein durch die Politik bekämpfen – auch wenn es gelegentlich so klingt. Mit Geld allein kann man Hass nicht beseitigen, dafür braucht es Haltung. Die Bundesregierung lobte sich diese Woche auf Facebook selbst dafür, was sie alles gegen Antisemitismus macht. Wozu? So ein Posting bringt niemanden von seinem Judenhass ab. Aber vielleicht ging es dem Bundespresseamt bei diesem Eintrag auch gar nicht um Jüdinnen und Juden, sondern bloß um Werbung für die Große Koalition.

Merkel könnte mal koscher essen gehen und davon ein Foto posten

Warum gehen Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Bundesinnenminister Horst Seehofer nicht einfach mal an einem x-beliebigen Tag in einem koscheren Restaurant essen und posten davon ein Selfie? Vielleicht mit dem Koch? So funktionieren soziale Medien. Das wäre menschlich und das würde viel mehr bewirken, als die amtliche Auflistung eigener Leistungen. Ein Restaurantbesuch spiegelt eine Alltagssituation wider, die jeder nachvollziehen kann.

Doch wenn etwas in diese Richtung erfolgt, ist es in Deutschland ein Großereignis streng nach Protokoll – etwa ein Synagogen-Besuch mit Medientraube an einem hohen jüdischen Feiertag oder nach einem schrecklichen Ereignis wie in Halle. Normalität, nach der sich alle Minderheiten sehnen, schafft das nicht, stattdessen sorgt es für die weitere Exponierung jüdischen Lebens.

Der Zentralrat der Juden plant für 2021 ein Aktionsjahr. 2021 ist jüdisches Leben in Deutschland seit 1.700 Jahren dokumentiert. In einem Edikt des römischen Kaisers Konstantin von 321 wird erstmals eine jüdische Gemeinde erwähnt – die in Köln. Der Zentralrat stellt das Jahr unter das Motto "Jüdisches Leben in Deutschland". Hierbei soll nicht die Geschichte im Fokus stehen, sondern der lebendige Alltag von Jüdinnen und Juden in unserem Land. Ein gute Idee. Sie deckt sich mit den Erkenntnissen moderner Präventionsarbeit und Forschungen zum Antisemitismus. Solidarität und Empathie weckt man am besten durch lebende, nicht durch tote Juden.

Jüdinnen und Juden sind Mitschüler, Nachbarn, Arbeitskollegen, Vereinskameraden. Wer persönlich Menschen jüdischen Glaubens kennt, ist weniger anfällig für nicht objektive, von feindseligen Gefühlen bestimmte Meinungen über eine ganze Menschengruppen.

Daher darf es nicht nur darum gehen, die historischen Grausamkeiten aufzuzeigen, sondern man muss gleichzeitig klarmachen, dass jüdischer Glaube ein Teil des deutschen Alltagslebens ist. Eine gelungene Erinnerungskultur ruht stets auf zwei Komponenten: Geschichte und Gegenwart.

Aber Vorsicht! Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht primäre Aufgabe von Jüdinnen und Juden, sondern von Nichtjüdinnen und Nichtjuden. Die Feindseligkeit basiert schließlich nicht auf dem tatsächlichem Verhalten von Juden, sondern auf Klischees, Vorurteilen und Verschwörungstheorien, die sich Nichtjuden erdacht haben.

Deshalb sind wir als Gesellschaft im Allgemeinen und als nichtjüdische Gruppen im Speziellen zum Handeln gegen Antisemitismus aufgerufen. Ob in Parteien, Vereinen, unter Christen, Muslimen oder sonstwo – jeder muss diese Geißel der Menschheit in den eigenen Reihen bekämpfen.
Am Donnerstag empfing die Gedenkstätte Auschwitz den bisher ranghöchsten muslimischen Gast: den Generalsekretär der Islamischen Weltliga, Scheich Mohammed al-Issa. Seit Gründung der Liga 1962 nun der erste Besuch im Jahr 2020. Für mich ist das kein Grund zur Freude. Die islamische Welt mag sich gerne hinter der Aussage verstecken, sie habe mit dem Holocaust nichts zu tun gehabt, für ein Mitglied der abrahamitischen Familie ist das ein Armutszeugnis.

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Zudem ist Antisemitismus im Islam ein relevantes Thema. Ausgehend etwa von der Auseinandersetzung des Propheten Mohammed mit dem jüdischen Stamm der Banu Quraiza, den er nach einem Verrat auslöschen ließ, entstanden judenfeindliche Vorstellungen. Ganz gleich, ob das theologisch falsch ist, Vorstellungen von den Juden als Feinde der Muslime sind de facto existent. Manche Muslime verwoben sie später mit dem europäischen Antisemitismus und dem Nahostkonflikt. Diese Konstrukte müssen Musliminnen und Muslime auflösen.

Dazu reicht es nicht, dass sich muslimische Verbandsvertreter auf Bühnen stellen und von oben ihre Verurteilung jedweden Antisemitismus betonen. Sie und wir alle, muslimische Deutsche wie muslimische Einwanderer, haben mit dafür zu sorgen, dass sich diese Haltung auch an der Basis uneingeschränkt durchsetzt. Die Ablehnung von Antisemitismus muss dafür gelebt und vorgelebt werden – im Alltag, in den Gemeinden, im islamischen Religionsunterricht, auf der "Kermes" oder bei sonstigen Veranstaltungen.

Es ist nach wie vor bedrückend zu erleben, wie viele antijüdische Vorstellungen bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund vorhanden sind. In Präventionskursen kommt man da schnell an seine Grenzen. Es ist schockierend, immer wieder von Angriffen zu erfahren, die sich an Schulen zutragen, wo Kinder jüdischen Glauben nicht nur beschimpft, sondern körperlich attackiert werden. Nach wie vor geistern die absurden Vorurteile über die angebliche Macht der Juden durch zu viele jugendliche Köpfe. Immer wieder wird mit dem Finger auf Israel gezeigt, als sei das Land das Ungeheuer der Welt, obwohl gleich hinter den israelischen Grenzen Grausamkeiten und Unrecht wuchern.

Der Antisemitismus ist die Achillesferse unserer Gesellschaft, der Lackmustest für den Widerstand gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Verachtung von Menschen im Allgemeinen. Nur wer Ungerechtigkeiten gegenüber anderen anprangert, kann ruhigen Gewissens den Anspruch erheben, dass sich andere gleichsam gegen Ungerechtigkeiten einsetzen, die einen selbst betreffen. Und wenn wir es trotz Shoah nicht schaffen, den Antisemitismus kleinzukriegen, wie soll es uns dann jemals gelingen, andere Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu überwinden?

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e. V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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