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Corona-Eklat in Gütersloh: Bürgermeister Schulz: "Im Prinzip ist alles kaputt"


Zu Ferienreisen
Gütersloher Bürgermeister: "Im Prinzip ist alles kaputt"

InterviewVon Sophie Loelke

Aktualisiert am 25.06.2020Lesedauer: 5 Min.
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Henning Schulz: Der Gütersloher Bürgermeister ist "fassungslos" über die herrschenden Bedingungen in dem Schlachtbetrieb Tönnies.Vergrößern des Bildes
Henning Schulz: Der Gütersloher Bürgermeister ist "fassungslos" über die herrschenden Bedingungen in dem Schlachtbetrieb Tönnies. (Quelle: t-online.de/imago-images-bilder)

Nach dem Corona-Ausbruch im Kreis kocht die Stimmung hoch. In NRW werden Reifen von Autos mit Gütersloher Kennzeichen zerstochen. Der Bürgermeister kritisiert die Stigmatisierung.

Ein ganzer Landkreis steht unter Generalverdacht: In Gütersloh herrscht seit dem massiven Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb von Tönnies der Ausnahmezustand. Bürgerinnen und Bürgern schlägt Feindseligkeit und Misstrauen entgegen. Eine Frau berichtet, an ihrem Auto mit Gütersloher Kennzeichen seien die Reifen zerstochen worden.

Und nun starten in Nordrhein-Westfalen auch noch die Sommerferien. Doch für viele in der Region dürfte der langersehnte Urlaub allerdings ausfallen.

Es ist eine schmerzhafte Situation, besonders für die, die sich seit Monaten einschränken und auf Besserung hoffen. Bürgermeister Henning Schulz (CDU) ist wütend. Der 47-Jährige ärgert sich auch über die Stigmatisierung seiner Stadt. Gleichzeitig richtet er eine klare Kampfansage an das System Tönnies: "Dieses intransparente Konstrukt existiert hinter unserem Rücken – und es macht fassungslos." So werde es nicht weitergehen.

t-online.de: Herr Schulz, wie geht es Ihnen mit der aktuellen Situation rund um Tönnies, Corona und den einwöchigen Lockdown?

Henning Schulz: Der normale Alltag für mich als Bürgermeister ist aktuell gestrichen. Und auch für viele meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Stadtverwaltung. Wir sind mit nie dagewesenen Herausforderungen konfrontiert.

Was halten Sie von den Einreiseverboten, die einige Bundesländer für Menschen aus Gütersloh verhängt haben? Nur wer einen negativen Corona-Test vorzeigen kann, darf einreisen.

Es ist unerträglich, dass die insgesamt 700.000 Menschen aus den Kreisen Gütersloh und Warendorf jetzt unter Corona-Generalverdacht gestellt werden. Das nimmt Auswüchse an, die sind unfassbar. Die Stimmung liegt bei mir zwischen Trauer und Wut – so geht es sehr vielen Menschen aus Gütersloh und Warendorf. Alle Bestrebungen unserer Gesellschaft seit März waren darauf ausgerichtet, dass es eben nicht einen Corona-Test als Eintrittskarte braucht, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu dürfen. Nun hat die Nachbarstadt Münster mit ihrem eigenen Krisenstab unabgestimmt festgelegt, dass Bürgerinnen und Bürger aus dem Kreis Gütersloh im öffentlichen Raum eine Maske tragen müssen. Das ist unglaublich.

Warum?

Ich finde es einen sehr gefährlichen Weg, zu suggerieren, wir könnten damit Infektionen per se verhindern. Das können wir nicht. Professor Christian Drosten hat selbst gesagt, dass sich nach und nach 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren. Solche Entscheidungen verhindern das nicht.

Eine Frau hat uns erzählt, dass die Reifen eines Autos mit Gütersloher Kennzeichen in einer anderen Stadt zerstochen wurden...

Schlimm! Genau das ist das Ergebnis: dass Leute so einen Mist machen. Das kann nicht wahr sein! Bei Wiesenhof oder in Berlin gab es ebenfalls lokale Corona-Ausbrüche. Wurde da ganz Berlin stigmatisiert? Nein. Das wäre auch falsch. In Gütersloh führt das soweit, dass nicht mal mehr ein negativer Corona-Test in der Tasche hilft. Wer sein Auto abstellt, dem werden womöglich die Reifen zerstochen.

Das klingt nach sozialer Diskriminierung.

Ja. Alle Familien, alle Kinder, die seit März im Homeschooling sind, die keine Osterferien gemacht haben, haben auf bessere Zeiten hingearbeitet. Sie haben konsequent die Regeln beachtet, sind zu Hause geblieben. Jetzt werden sie bestraft und ausgegrenzt. Wir haben Ferienbeginn am Freitag. Im Prinzip ist alles kaputt. Viele bleiben auf ihren gebuchten Reisen hängen. Wir reden über Deutschland, die Nordsee, die Ostsee, die Alpen – und das ist schon richtig traurig.

Aber würde gerade in diesen Fällen ein negativer Corona-Test als Eintrittskarte nicht helfen?

Sie haben bestimmt schon von den Warteschlangen vor den Testzentren hier in Gütersloh gehört. Es können nicht 360.000 Menschen auf einmal getestet werden. Das dauert. Wenn man aber dann diesen Negativtest endlich hat, bedeutet er, dass man an diesem Tag nicht infiziert war. Morgen könnte ich aber theoretisch schon infiziert sein. Das ist eine ganz gefährliche Diskussion. Es wäre gut, wenn wichtige Menschen sich dazu äußern würden, zum Beispiel die Kanzlerin.

Was erwarten Sie von Kanzlerin Angela Merkel?

Der Kanzlerin ist es immer gelungen, die Gesellschaft zusammenzuführen und alle Menschen im Blick zu behalten. Hier fühlen sich fast eine Dreiviertelmillion Menschen im Stich gelassen, fühlen sich stigmatisiert und werden sogar angegriffen. Ich wurde sogar gefragt, warum wir nicht Ausreiseverbote verhängen. Nach dem Motto 'Baut am besten Schlagbäume um die Stadt'. Die brauchen wir gar nicht, weil die Bürger sich letztlich ohnehin schon von einem emotionalen Grenzzaun umgeben fühlen – durch Reaktionen in den sozialen Medien und tätliche Angriffe. Wenn ich aus Nachbarstädten höre 'Um Gottes Willen, jetzt kommen die ganzen Infizierten aus Gütersloh und tragen das Virus in unsere Freibäder' – das ist eine Äußerung, die ich nicht akzeptieren kann.

Sehen die Gütersloher denn ein, dass die einwöchige Quarantäne grundsätzlich sinnvoll ist?

Wie ich es wahrnehme und was mir gespiegelt wird, haben die meisten durchaus Verständnis für den abgemilderten Lockdown. Viele verstehen, dass es Sinn macht, die Lage zu sondieren.

Das Einreisen ist noch nicht überall verboten. Befürchten Sie, dass weitere Länder nachziehen?

Es ist ein bisschen wie ein Kartenhaus, eine Kettenreaktion. Ich hoffe nicht, dass andere Bundesländer oder europäische Länder einfach pauschal so eine Entscheidung fällen. Aber ähnlich wie beim Shutdown im März kann ich mir vorstellen, dass sie wie beim Domino nacheinander umkippen werden. Die Diskussion führt zu extremen Meinungen. Die einen fordern härtere Maßnahmen. Und die anderen sagen 'Irgendwie ist das alles zu viel'. Der Mittelweg wird dabei allerdings zu wenig beschritten. Und die Meinung der Menschen in den jeweiligen Bundesländern zu den Entscheidungen ihrer Ministerpräsidenten, Landräte oder Bürgermeister ist auch durchaus unterschiedlich. Uns erreichen hier im Gütersloher Rathaus seit Tagen Anrufe und Mails aus ganz Deutschland von Menschen, die uns ihre Solidarität aussprechen und es zum Beispiel unmöglich finden, dass Urlauber aus dem Kreis Gütersloh von der Insel Usedom verwiesen worden sind.

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Die Menschen in Gütersloh scheinen zwar Verständnis aufzubringen für den Lockdown, sind aber offenbar auch wütend über den Grund dafür...

Ja. Das System der Sub-Sub-Subunternehmer und der Werkvertragsarbeit gehört abgeschafft. Wir werden es mit dieser Intransparenz nicht weiterführen können, denn das ganze System ist nicht zukunftsfähig. Es wird mit uns hier kein 'Weiter so' geben.

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Wusste man nicht schon vorher, was dort los war?

Diese Intransparenz, die durch das Unternehmen Tönnies, das seinen Sitz ja in der Nachbarstadt Rheda-Wiedenbrück hat, im Hintergrund aufgebaut wurde, war für uns nicht durchdringbar. Wir haben noch vor einigen Wochen mit dem Arbeitsschutz der Bezirksregierung Kontrollen durchgeführt. Seinerzeit hatte man zuerst nur knapp 40 Wohneinheiten benannt, am letzten Samstag hat man uns dann eine Liste mit 175 Wohnungen ausgehändigt, dann am nächsten Tag eine mit 246. Dann stellte sich heraus, dass es manche Wohnungen gar nicht gibt. Dieses intransparente Konstrukt existiert hinter unserem Rücken – und es macht fassungslos.

Wie gehen Sie denn jetzt mit den Tönnies-Arbeitern um?

Wir gehen aktuell gemeinsam mit der Polizei, mit unserem Ordnungsamt und mit Dolmetschern zu den Wohnstandorten, um die Quarantäne durchzusetzen. Aber natürlich auch, um zu gucken, wie es den Menschen geht. Gibt es womöglich Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung, fehlt eine medizinische Versorgung, fehlen Lebensmittel oder Hygieneartikel? Die Menschen sind Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt. Die haben oft keinen Garten oder Balkon, wissen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Darum bemühen wir uns, ihnen zu helfen. Es ist eine Mammutaufgabe.

Herr Schulz, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview vor Ort
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