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Streit um Impfstoff-Beschaffung: Egoismus wird Deutschland nicht helfen


Impfstoff-Beschaffung
"Deutschland zuerst" ist keine Lösung

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 28.01.2021Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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EU-Gipfel mit Maske: Die Europäische Union hat ein echtes Kommunikationsproblem.Vergrößern des Bildes
EU-Gipfel mit Maske: Die Europäische Union hat ein echtes Kommunikationsproblem. (Quelle: imago-images-bilder)

Mit Alleingängen kommen Staaten heute nicht mehr weit. Deswegen war es wichtig, dass die EU gemeinsam Impfstoffe bestellt hat. Das tatsächliche Problem liegt woanders, schreibt Kolumnistin Lamya Kaddor.

Die Welt ist doch schon voll von Egoismus. Milliarden Menschen in ärmeren Staaten – gerade in Afrika – werden womöglich erst in Jahren gegen das Coronavirus geimpft sein. Bevor man das nächste Mal auf die EU schimpft, könnte man das vielleicht ja mal mitbedenken. Apropos EU. Hätten die Staaten in Europa Impfstoffe in nationalen Alleingängen gekauft, wie manche fordern, hätten die wirtschaftlich schwächeren EU-Länder das Nachsehen gehabt. Egoismus ist kein guter Kompass.

Selbstverständlich gibt es viele Menschen, denen das egal ist. Sie folgen dem Prinzip: Nach mir die Sintflut. Sie sind womöglich immer noch stolz auf etwas, für das sie gar nichts können, nämlich in Hamburg und nicht am Rande von Ouagadougou oder von Timișoara geboren worden zu sein.

Mit Alleingängen kommen Staaten nicht weit – siehe Brexit

Aus der Perspektive des Coronavirus sind wir alle eins. SARS-CoV-2 fragt nicht nach unserer Hautfarbe, unserem Geburtsort oder unseren Lebensleistungen. Das Virus kennt keine Moral, kein Gesetz und keine Grenzen. Es war die einzig richtige Entscheidung, der EU-Kommission die Beschaffung der Impfstoffe zu überlassen.

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Mit Alleingängen kommen Staaten heutzutage nicht mehr weit, wie das Scheitern Donald Trumps gezeigt hat, und wie das Brexit-Desaster den Britinnen und Briten vor Augen führt. Gleiches gilt für Impfnationalismus. "Deutschland first" ist als Konzept gegen das Virus so ineffektiv wie "Deutschland only" – die Virusmutanten bezeugen es.

Solidarität steht uns nicht nur gut, sie ist effektiv. Die EU konnte bei den Verhandlungen mit den Pharmakonzernen wesentlich mehr als die potenziellen Abnehmerinnen und Abnehmer in Deutschland allein in die Waagschale werfen und so eine größere Marktmacht ausspielen. Außerdem kann man es der EU-Kommission kaum zum Vorwurf machen, beim Einkauf gründlicher vorzugehen als Regierungen in anderen Staaten. Gerade mit Blick auf Qualität von Vakzinen ist das für die gesellschaftliche Akzeptanz und die Impfbereitschaft ein entscheidendes Argument.

Die Corona-Situation war für alle Neuland

Brüssel stand im Sommer vor der Frage: Welchen Impfstoff kaufen? Dass Biontech und Pfizer das Rennen machen, konnte niemand absehen. Dass Merck und das Pasteur-Institut einen Flop hinlegen und ihre Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen einstellen müssen, ebenso wenig. Die Corona-Situation war im vergangenen Jahr für alle Neuland. Was wäre passiert, wenn die EU Millionen Merck/Pasteur-Dosen vorab bestellt hätte?

Es wäre nicht sonderlich viel geschehen. Selbst wenn Millionen Euro in den Sand gesetzt worden wären, wäre es wirtschaftlich immer noch günstiger gewesen, als die Folgen der Lockdowns nur einen Tag länger zu tragen. Von dem öffentlichen Gezeter über die EU gehört vieles ins Reich des politischen Theaters. Dennoch kann es niemanden zufriedenstellen, wie das Impfen sowohl in der EU als auch in Deutschland vonstattengeht. Zugesagte Lieferungen fürs erste Quartal werden gedrosselt, aufgeschoben, ganz abgesagt. Das ist frustrierend und kostet in manchen Fällen tatsächlich Leben.

Ein klassischer Kommunikationsfehler

Allein die Produktionsengpässe sind keine Überraschung. Sie waren vorhersehbar – insbesondere für Expertinnen und Experten. Zu Beginn der Pandemie haben wir Laien das anhand der Corona-Masken gelernt. Wenn plötzlich eine riesige Nachfrage entsteht, wird es mit dem Angebot schwierig. Dafür muss man keine Wirtschaftswissenschaften studiert haben. Komisch nur, dass man aus dem Frühjahr nichts gelernt zu haben scheint.

Denn statt uns Laien unermüdlich auf die Risiken und Unwägbarkeiten hinzuweisen, und damit unsere Erwartungen bei den Impfterminen nachdrücklich zu senken, wurde vielmehr die Annahme in der Gesellschaft befördert, sobald der Impfstoff verfügbar sei, werde die Pandemie bald überwunden sein. Ein klassischer Kommunikationsfehler. Vor Weihnachten wurde darüber gestritten, ob man den Impfstoff von Biontech und Pfizer nicht nach britischem Vorbild mittels Notfallzulassung früher bereitstellen müsste – in Großbritannien erfolgte dieser Schritt am 2. Dezember, in der EU gab es eine beschleunigte Zulassung am 21. Dezember. Der Bevölkerung wurde so suggeriert, ein paar Tage früher oder später seien entscheidend. Das mag für Einzelne im tragischen Zweifelsfall zutreffend gewesen sein, in der Gesamtschau ist es das offenkundig nicht. In NRW wurden die Impfstarts für Menschen über 80 Jahre, die zu Hause leben, kurzerhand wegen der Impfprobleme um eine Woche verschoben.

Mit mehr Investitionen wäre mehr möglich gewesen

Die EU-Verträge mit den Impfstoffherstellern bleiben im Dunkeln. Die Kommission hält sie unter Verschluss – selbst vor den Parlamentariern. Wie dennoch durchsickerte, haben die Vertragsverhandlerinnen und -verhandler der EU bei der Beschaffung der Impfstoffe offenbar auch aufs Geld geschaut. So soll eine Dosis bei Astrazeneca 1,78 Euro, bei Moderna indes 14,70 Euro und bei Biontech und Pfizer 12 Euro gekostet haben. Israel hingegen, weltweit Spitzenreiter bei den Impfungen in Relation zur Bevölkerung, soll Biontech und Pfizer indes 30 US-Dollar gezahlt haben. So standen den neun Millionen Israelis im Januar in absoluten Zahlen mehr Impfdosen zur Verfügung als den 83 Millionen Deutschen. Gewiss hätte die EU nicht Israel oder anderen die Impfdosen "wegkaufen" sollen, der Vergleich soll nur zeigen: Mit mehr Investitionen wäre mehr möglich gewesen.

Insider gehen davon aus, dass die EU gerade mal einen niedrigen einstelligen Milliardenbetrag für die Impfstoffe aufgewendet hat. Zum Vergleich: Im Sommer wurden 750 Mrd. Euro lockergemacht, um die Folgen der Pandemiekrise zu stemmen.

Die zunehmend negative Stimmung wird gefährlich

Auch die deutsche Impfstrategie ist zwar im Grundsatz richtig, dennoch befreit sie das ebenso wenig von Kritik. Die von dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lediglich verordnete Impf-Priorisierung war und ist diskutabel – warum zum Beispiel werden Lehrkräfte bzw. Erzieherinnen und Erzieher in der Rangfolge nicht höher bewertet, wo angeblich so viel Wert auf die Aufrechterhaltung eines/einer möglichst regulären Schulbetriebs bzw. Kleinkinderbetreuung gelegt werden soll?

In NRW sprach der Ministerpräsident Armin Laschet tatsächlich von einem "gelungen Impfstart". Dabei verzweifeln zahlreiche Menschen über 80 Jahre noch Tage später an der Hotline zur Vereinbarung von Impfterminen und verlieren sich auf restlos überlasteten Internetseiten. Der Ansturm auf die Terminvergabe war seit Wochen genauso zu erwarten gewesen: Warum wurden die Server-Kapazitäten nicht erhöht und die Hotlines massiv ausgebaut? So erzeugen die gesammelten Erfahrungen bei den Betroffenen sowie bei ihren Kindern und Enkelkindern Stoff für neuen Frust und befördern das Vorurteil: Deutschland stümpert wieder mal herum, scheitert an praktischen Umsetzungen wie beim Hauptstadtflughafen BER oder der Digitalisierung von Schulen. Diese zunehmend negative Stimmung ist gefährlich fürs ganze Land.

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Vorrang muss jetzt der Schutz der Menschen haben

Für den Augenblick müssen wir uns wohl oder übel mit diesen Problemen abfinden. Gut finden müssen wir sie nicht. Für die EU wird es jetzt zentral sein, dass die Produktionskapazitäten zügig heraufgefahren werden. Dabei muss sie die Unternehmen absichern, denn logischerweise werden die akut benötigten Kapazitäten nicht mehr in der Höhe gebraucht, wenn Herdenimmunität erreicht ist.

Dieser Aspekt darf die Firmen, die letztlich am längeren Hebel sitzen, beim Ausbau nicht bremsen. Klar ist es ärgerlich, Big Pharma hier ein Stück weit ausgeliefert zu sein. Die Großkonzerne werden am Ende zu den Krisengewinnern zählen – das ist eben so. Katastrophenfälle und Krisensituationen produzieren immer Gewinner. Selbstverständlich muss die EU auf die Einhaltung von Verträgen pochen, sollten sie zum Beispiel von Astrazeneca tatsächlich verletzt werden; was wir nicht genau beurteilen können, weil es eben keine Transparenz gibt. Vorrang muss jetzt aber eindeutig der Schutz der Menschen haben.

Dazu gehört: Die EU, die mit China und den USA nahezu gleich starke größte Volkswirtschaft der Welt, muss die COVAX-Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) voranbringen. Sie verfolgt das Ziel, auch ärmeren Staaten einen raschen Zugang zu den Impfstoffen zu ermöglichen. Diese Initiative sollte man nicht unterschätzen. Dabei geht es nicht nur um moralische Erwägungen. Das Virus kennt, wie gesagt, keine Grenzen. Es landet womöglich als neue Mutation, gegen die unsere Impfstoffe dann vielleicht nicht mehr wirken, schneller wieder bei uns, als viele sich das gegenwärtig vorstellen können. Dann beginnt Corona wieder vor vorn.

Es fehlt noch immer eine überzeugende Marschroute durch die Krise

Deutschland selbst muss ebenso handeln. Die Infrastruktur fürs Impfen muss rasch und deutlich ausgebaut werden – auch mit Hilfe der Bundeswehr –, um die Mängel der ersten Wochen ausgleichen zu können. Schließlich befreit uns selbst die beste Impfstrategie nicht von dem Zwang, einen sinnvollen und akzeptablen Weg durch die Pandemie zu finden. Impfungen hin oder her – es stehen uns noch diverse Corona-Monate bevor.

Der Streit über die Impfstrategie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bund und Länder seit dem Sommer keine überzeugende Marschroute durch die Corona-Krise haben. Sie verlängern bloß immer wieder (halbherzige) Lockdowns, die von den Ländern anschließend zerredet werden, und stellen ausgerechnet die Bedürfnisse all jener immer wieder hinten an, die Deutschland primär durch die Pandemie tragen – und das sind nicht die Menschen, die auf Urlaube, After-Work-Partys und Karnevalsumzüge verzichten müssen oder sich an ihren Arbeitsstellen über geschlossene Kantinen beklagen.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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