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Gaucks mahnende Migrationspolitik: Was der Alt-Bundespräsident meint


Immer mehr Flüchtlinge
Wir sind gescheitert

MeinungVon Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 18.09.2023Lesedauer: 4 Min.
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Geflüchtete auf Lampedusa: Auf der Insel herrscht seit Jahren Chaos. (Quelle: IMAGO/Alessandro Serranò / Avalon)

"Neue Entschlossenheit" hat Alt-Bundespräsident Joachim Gauck in der Migrationskrise gefordert. Er hat recht, aber bleibt zu abstrakt.

Bundespräsidenten haben die Macht des Wortes – und sonst keine. Das Gute für die Amtsinhaber daran ist: Die Schlagzeilen sind dem Staatsoberhaupt sicher, wenn er was sagt, völlig unabhängig davon, ob hinterher etwas passiert oder nicht. Ein Bundespräsident kann folgenlos einen Ruck fordern, wie einst Roman Herzog. Ein Bundespräsident kann wie Christian Wulff sagen, der Islam gehöre jetzt auch zu Deutschland, ohne zu sagen, was das heißen soll. Ein Bundespräsident kann wie Joachim Gauck im Flüchtlingssommer 2015 sagen, unser Herz sei weit, aber unsere Möglichkeiten seien begrenzt. Diese Sätze laufen alle rückstandsfrei und sanft aus wie eine Welle am Sandstrand.

Gaucks Satz vom großen Herzen und den begrenzten Möglichkeiten jährt sich kommende Woche zum achten Mal, wie auch all die Sätze großer Wirtschaftsbosse, die in den Septembertagen 2015 ein zweites Wirtschaftswunder mit den Booten übers Mittelmeer und die Balkanroute kommen sahen.

Pünktlich zum Jahrestag seiner Mahnung hat Bundespräsident a. D. Gauck seine Worte von damals nun in Erinnerung gerufen und neu paraphrasiert. Joachim Gauck hat sich für eine "neue Entschlossenheit" in der europäischen Flüchtlingspolitik ausgesprochen. Die Politik müsse entdecken, "dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, um den Kontrollverlust, der offensichtlich eingetreten ist, zu beheben".

Eine "neue Entschlossenheit" müsse den Bevölkerungen in Europa den Eindruck vermitteln, dass die Regierungen handlungswillig und -fähig seien. "Und dazu bedarf es offenkundig auch der Debatte neuer Wege und nicht nur das Drehen an Stellschrauben."

Wir haben es nicht geschafft

Gauck hat recht, hatte auch damals schon recht, als er dem "Wir schaffen das!" der Kanzlerin seine Relativierung hinterherrief.

Acht Jahre später kann und muss man festhalten: Wir haben es nicht geschafft. Wir sind gescheitert.

Wir, das heißt konkret: sowohl Deutschland als auch die Europäische Union. Zeitgleich mit Gaucks Äußerungen hat sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem europäischen Vorposten, der italienischen Insel Lampedusa, das Chaos berstender Aufnahmelager angeschaut. Das belegt: Europa wird der Migration so nicht Herr.

Der Kontrollverlust von 2015 hat in Wahrheit bis heute angehalten, war nur in Vergessenheit geraten, weil zwischenzeitlich etwas weniger Menschen übers Mittelmeer kamen. Und anderswo ein Krieg ausbrach.

Gauck traut sich allerdings nicht zu sagen, was seine "neuen Wege" und seine "neue Entschlossenheit" denn konkret meinen. Daher müssen das nun andere tun. Und zwar schleunigst. Wenn die handelnde Politik die Migration nicht innerhalb kurzer Zeit einigermaßen in den Griff bekommt, dann droht nicht nur bei den Ost-Landtagswahlen im Herbst 2024, sondern auch bei der Bundestagswahl ein Jahr darauf ein politisches Desaster. Konkret: Eine AfD von 30 Prozent plus wie jetzt in Brandenburg ist dann auch bundesweit nicht mehr außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Und nicht nur nebenbei droht zeitgleich die Europäische Union in die Luft zu fliegen.

Zwei Dinge müssen jetzt passieren

Zwei Dinge müssen jetzt zeitgleich passieren: Erstens: Der Strom an Menschen, die übers Mittelmeer kommen, muss mit allen legalen Mitteln eingedämmt werden. Zweitens: Diejenigen, die schon hier sind, müssen so schnell wie möglich in Arbeit gebracht werden.

Beim ersten Punkt wird die Europäische Union nicht umhinkommen, sich den Ideen der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu öffnen und den Grenzschutz auf See robust, das heißt in letzter Konsequenz: auch mit der Marine, durchzusetzen. Grenzschutz ist legitim und möglich, und eine existierende und gegen illegale Migration verteidigte Grenze ist konstitutiv für ein Gemeinwesen. Dieses Gemeinwesen wird nur intakt bleiben, wenn seine Bevölkerung das begründete Gefühl hat, dass Kontrolle herrscht. Man muss verhindern, dass Migranten unkontrolliert ihren Fuß auf europäischen Boden setzen.

Zugleich gibt es internationales Recht, das erfordert, bei jedem Ankommenden zu prüfen, ob er oder sie ein Recht auf Asyl oder ein anderes Bleiberecht hat. Wenn nun offenbar alle Abkommen mit Tunesien und anderen Länder nicht funktionieren, dann muss überlegt werden, wie schwimmende Asylzentren im Mittelmeer eingerichtet werden können. Die dann schnell entscheiden, wer einen Fuß auf europäischen Boden setzen darf und wer nicht.

Kontingentlösung über ein EU-Asylrecht

Auch die Idee eines europaweiten Asylrechts muss schnell in die Tat umgesetzt werden. Klar ist dabei: Das unkonditionierte deutsche Asylrecht kann und wird nicht die Blaupause dafür sein. Vermutlich wird man dabei auch nicht an einer Kontingentlösung vorbeikommen. Nichts anderes hatte seinerzeit in der heißen Phase von 2015/2016 der Historiker Heinrich August Winkler gemeint, als er für den Zusatz "Nach Maßgabe des Möglichen" im deutschen Asylparagrafen plädierte.

Beim zweiten Punkt, die überwiegend jungen, männlichen Angekommenen in Arbeit zu bringen, muss derweil alles möglich sein. Der sogenannte Spurwechsel ebenso wie ein hartes Kontroll- und Sanktionsregime, wenn die jungen Männer diese Möglichkeit in den Wind schlagen: zu arbeiten, Geld zu verdienen und ins Sozialsystem einzubezahlen, statt daraus Mittel zu beziehen.

Arbeit statt Langeweile

Der Tatendrang dieser jungen Männer, der sich im Moment leider zu oft in Gewalt entlädt, muss ins Konstruktive kanalisiert werden – mit einem Anreiz auf Bestätigung, Anerkennung und Integration, die sich dann an jedem Tag ganz praktisch vollzieht. Wenn sie, wie jetzt, gelangweilt und gefrustet an den Bahnhöfen oder in den öffentlichen Parks herumhängen, kann von Integration keine Rede sein.

Joachim Gauck hat acht Jahre nach seiner ersten Äußerung vom Herzen und den Möglichkeiten abermals das Richtige gesagt. Das war couragiert, weil viele, die die Lage verklären und von offenen Grenzen träumen, so etwas überhaupt nicht hören wollen. Noch couragierter und hilfreicher wäre es gewesen, wenn er dazu gesagt hätte, was sein abstrakter Begriff von der "neuen Entschlossenheit" konkret bedeutet.

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