10 Jahre "Wir schaffen das" Deshalb ist die Stimmung so schnell gekippt

Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" polarisiert bis heute. Zehn Jahre später spaltet der erbitterte Streit um die richtige Migrationspolitik das Land noch immer.
Es war ein Satz, der Geschichte schrieb. Am 31. August 2015 sprach Angela Merkel jene drei Worte, die bis heute nachhallen: "Wir schaffen das." Die damalige Bundeskanzlerin hatte entschieden, die deutschen Grenzen nicht zu schließen. Hunderttausende Geflüchtete kamen ins Land. Merkels Satz ist zu einem Synonym für die deutsche Flüchtlingspolitik geworden. Für die einen steht er für Hilfsbereitschaft, Offenheit und Willkommenskultur. Für die anderen ist er Sinnbild von Überforderung, Planlosigkeit – und Grund für die Spaltung der Gesellschaft.
Merkel hat ihre Politik – und ihren berühmten Satz – gerade erst in einer ARD-Dokumentation verteidigt. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer spricht von einer "institutionellen Krise" in Deutschland damals. Im Interview mit t-online erklärt der Historiker, der an der Universität Osnabrück forscht, was versäumt wurde und welche Erfolge übersehen werden. Und er schildert, warum die Euphorie der Willkommenskultur damals so rasch verflog.
t-online: Herr Oltmer, was ist Ihre Bilanz zehn Jahre später: Haben wir es wirklich geschafft?
Jochen Oltmer: Ich antworte mit zwei rhetorischen Gegenfragen: Wer sollte eigentlich etwas schaffen? Denn die Bundeskanzlerin sprach im August 2015 vom Bund, von den Bundesländern und von den Kommunen. Erstaunlicherweise nahm sie gar keinen Bezug auf die Ehrenamtlichen, die für die Frage der Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden aber ungeheuer wichtig sind. Aber auch die Schutzsuchenden selbst wurden nicht genannt, obgleich Ankunft und gesellschaftliche Teilhabe ohne Zweifel in höchstem Maße auch von ihnen mitgestaltet werden.
Und die zweite Gegenfrage?
Was sollte überhaupt geschafft werden? Offenbar ging es um Fragen der Integration. Hier blicken wir auf sehr viele unterschiedliche Bereiche, wie zum Beispiel Arbeitsmarkt, Bildung, Wohnen. Beim Arbeitsmarkt sehen wir, dass zwei Drittel der 2014 bis 2016 Gekommenen inzwischen in Arbeit sind – und zwar drei Viertel auch in Vollzeitbeschäftigung. Allerdings ist der Anteil der Frauen deutlich geringer als jener der Männer.

Zur Person:
Jochen Oltmer (geboren 1965) ist ein führender Historiker auf dem Gebiet der Migrationsgeschichte. Er forscht und lehrt unter anderem am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Er ist außerdem Vizepräsident für Studium und Lehre der Universität. Seine Schwerpunkte liegen auf Arbeits- und Bildungswanderungen, Flucht, Vertreibung sowie den Reaktionen von Gesellschaften auf Migration.
Woran liegt das?
Das hat verschiedene Gründe: Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in der Bundesrepublik seit jeher deutlich kleiner als jene der Männer. Die Menschen, die um 2015 herum kamen, waren überwiegend jung: Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene. Zehn Jahre später haben viele Familien gegründet. Wegen der weiterhin schwierigen Versorgung mit Kita- oder Ganztagsschulplätzen ist es für viele Frauen nicht einfach, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder beizubehalten.
Manchmal spielen aber auch patriarchalische Vorstellungen in den Familien eine Rolle, wonach die Männer die "Ernährer" der Familie zu sein haben und ihre Ehefrauen sich auf die Rolle als Hausfrau und Mutter zurückziehen sollen. Darüber hinaus schätzen die Frauen ihre Sprachkenntnisse als deutlich geringer ein als die Männer. Sprachkenntnisse sind für den Zugang zum Arbeitsmarkt naturgemäß von Relevanz. Das gilt ebenso für Berufserfahrungen, bei denen die Frauen ebenfalls gegenüber den Männern deutlich zurückliegen.
Im Bereich der Bildung wurden gerade Ergebnisse des Bildungsmonitors 2025 vorab bekannt, die zeigen, dass sich die Lage an den Schulen seit 2015 verschlechtert hat. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?
Das Bildungswesen ist schon seit Jahren stark gefordert, auch durch die Folgen der Fluchtbewegungen. Hierbei ist aber nicht nur an die Bewegungen um 2015 herum zu denken, sondern auch an die größere Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in kürzerer Zeit 2022 aus der Ukraine zu uns kamen. Es kamen und kommen viele unterschiedliche Aspekte zusammen, die die Qualität der schulischen Bildung offenbar insgesamt sinken lassen: Die Nutzung digitaler Medien, zunehmend geringe Lesekompetenzen, der Bedeutungsgewinn der sozialen Herkunft für den Erfolg im Bildungssystem, die Vernachlässigung frühkindlicher Bildung, der Mangel an Lehrkräften. Man könnte also sagen: Auf ein angeschlagenes System kam insbesondere um 2015 und um 2022 die Herausforderung des Umgangs mit einer großen Zahl von Schutzsuchenden hinzu.
Wie sieht es beim Thema Wohnen aus? Der Wohnraum in Deutschland ist knapp, es fehlen Analysen zufolge Hunderttausende Wohnungen.
Es gibt Schätzungen, wonach auch heute noch ein Viertel der Geflüchteten, die 2015 gekommen sind, in Gemeinschaftsunterkünften leben. Allein diese Zahl zeigt, dass es vielfach sehr lange gedauert hat, bis Schutzsuchende auf dem freien Wohnungsmarkt ankommen konnten. Dass das mit dem Mangel an Wohnraum – bezahlbarem Wohnraum – in Deutschland zu tun hat, lässt sich rasch erschließen. Aber auch Diskriminierungen spielen eine Rolle. Die Folge ist: Zugang zum Wohnungsmarkt fanden Schutzsuchende erst sehr spät. Und jene, die 2015 ankamen, bezahlen überdurchschnittlich viel Miete für in der Regel eher schlecht ausgestattete und gelegene Wohnungen.
Was wäre also Ihr Fazit für die genannten Bereiche?
Es gibt weiterhin deutliche Defizite. Aber wenn man sich die Bereiche Arbeit, Bildung, Wohnen anschaut, lässt sich ausmachen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch passabel wegkommt, der Prozess der gesellschaftlichen Teilhabe hat im internationalen Vergleich recht gut funktioniert.
Würden Sie im Rückblick sagen, dass die damalige Kanzlerin den Satz gesagt, dann aber nicht geliefert hat, weil sie vieles im Vagen ließ?
Offensichtlich ging es ihr ja darum, mit einer recht simplen Formel zu zeigen, dass insbesondere die genannten Ebenen, sprich Bund, Bundesländer und Kommunen, verlässlich Unterstützung bieten, dass Verantwortliche bereitstehen. Und es ging ihr wohl auch darum, den Beteiligten Anerkennung für das Geleistete auszusprechen. Faktisch hat die Bundeskanzlerin insofern recht gehabt, als dass die staatlichen Institutionen funktioniert haben. Im Zusammenwirken mit den vielen Ehrenamtlichen ist es gelungen, dass sehr große Herausforderungen bewältigt wurden.
Viele Menschen sehen das anders, glauben, das Land sei unsicherer und polarisierter seit 2015 geworden.
Das stimmt. Aber Merkels Satz im August 2015 kam in einer Situation, in der sehr viele Menschen, wenngleich natürlich nicht alle, in der Bundesrepublik der Auffassung waren: Ja, es gibt die Notwendigkeit, sogar die Pflicht, diesen Schutzsuchenden zu helfen. Doch schon zwei oder drei Monate später drehte sich die Stimmung.
Bereits Ende Oktober hätte die Bundeskanzlerin wahrscheinlich etwas ganz anderes gesagt. Denn im Herbst 2015 erschien immer mehr Menschen die hohe Zahl von Ankommenden als nicht mehr bewältigbar. Migration wurde zunehmend mit Terrorismus und Kriminalität in Verbindung gebracht und als Belastung und Gefährdung eingeordnet. Auch die mediale Darstellung änderte sich: Es wurde nicht mehr über einzelne Personen und ihre Schicksale berichtet, vielmehr erschienen die Ankommenden immer mehr als bloße Masse.
Wie kam es so schnell dazu?
Je mehr Menschen kamen und je größer die täglich berichteten Zahlen wurden, desto mehr entstand der Eindruck, dass das Land überfordert sei. Und dann kam das Thema Terrorismus auf. Wir hatten es mit einer Situation in Europa zu tun, in der es mehrere große, sehr spektakuläre terroristische Anschläge gab. Niemand musste diese mit der Fluchtbewegung in Verbindung bringen, weil diese Taten ja keineswegs mehrheitlich von Menschen verübt wurden, die einen Fluchthintergrund hatten. Aber in der gesellschaftlichen Debatte wurde genau das gemacht.
Sie spielen auf die Anschläge rund um die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" im Januar 2015 in Paris an und dann im November auf die Anschläge auf die Pariser Konzerthalle Bataclan, die Bars und auf das Stade de France?
Genau. Die Täter waren in der Regel in Europa aufgewachsen und hatten sich hier radikalisiert. Aber dennoch wurde explizit der Bezug zu dem Thema Flucht hergestellt.
Sie sagen, es entstand der Eindruck, überfordert zu sein. War das nur ein Eindruck oder basierte der nicht auch auf realen Erfahrungen?
Das ist schwer auszumachen. Im Kontext der gesellschaftlichen Debatten war auf jeden Fall die Wahrnehmung der Überforderung wichtig, also ein Gefühl, dass es eben nicht geschafft werden kann. Zumindest nicht, wenn die Zahlen weiterhin so hoch sein würden. Eine Reaktion der Bundesregierung bestand darin, die Zahl der Ankünfte zu senken. Ich erinnere an das EU-Türkei-Abkommen, das Anfang 2016 geschlossen worden ist.
Der sogenannte Flüchtlingsdeal sah vor, dass irregulär nach Griechenland eingereiste Migranten in die Türkei zurückgeführt werden, während die EU im Gegenzug syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufnimmt und Ankara Milliardenhilfen erhält.
Ja, das war ein wesentlicher Einschnitt, der dazu beigetragen hat, dass die Zahl der Schutzsuchenden sehr deutlich absank. Dennoch änderte sich das gesellschaftliche Sprechen über das Thema nicht erneut: Über Einzelschicksale wurde kaum noch berichtet. Es kam zu einer gewissen Entmenschlichung. Begriffe wie Welle, Ströme, Flut – diese ganzen Wasser- und Naturkatastrophenbilder dominierten weiterhin.
Aber die Stimmung kippte ja schon früher: Schon im August 2015 gab es Ausschreitungen in Heidenau in Sachsen gegen eine Erstaufnahmeeinrichtung, die deutschlandweite Empörung auslösten. Der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) nannte die gewalttätigen Randalierer damals "Pack".
Das stimmt. Auf der lokalen Ebene gab es in einigen wenigen Fällen schon früh Diskussionen über die Frage des weiteren Ausbaus von Unterkünften und darüber, wo solche Einrichtungen zu platzieren seien beziehungsweise wo nicht. Die Behörden sahen ihre Aufgabe vor allem darin, die Ankunftsprozesse zu bewältigen. Viel weniger wurde demgegenüber darüber kommuniziert, was sie aus welchen Gründen taten.
Klingt so, als sei das alles nur eine Frage der falschen oder ausgebliebenen Kommunikation. Dabei zeigt das doch, dass Behörden tatsächlich auch überfordert waren, weil sie gar nicht genug Leute hatten für all die Ankommenden und die Aufgaben, die diese mit sich brachten.
Ich will damit nur sagen: Da, wo Menschen an der Entscheidung beteiligt wurden, wo Erstaufnahmeunterkünfte entstehen sollten, lief es besser als dort, wo dies nicht passierte. Aber natürlich lässt sich von einer institutionellen Krise sprechen. Viele Behörden sahen sich damals sehr, sehr großen Anforderungen ausgesetzt.
Haben Sie denn den Eindruck, dass sich die Lage heute wesentlich verbessert hat? Mit den Flüchtlingen aus der Ukraine sind ja heute noch mal weit mehr als eine Million nach Deutschland gekommen.
Vor allem muss man sich im Klaren darüber sein, dass 2022 mehr Schutzsuchende in kürzerer Zeit nach Deutschland gekommen sind als 2015. Und man muss sich im Klaren darüber sein, dass Deutschland nicht das Land gewesen ist, das proportional zur Bevölkerung am meisten Menschen aufgenommen hat. Schweden zum Beispiel hat damals so gerechnet viel mehr Menschen aufgenommen. Aber um auf das Thema Ukraine zurückzukommen. Die Aufnahme lief ganz anders: Weder wurden die Menschen aus der Ukraine in den Apparat der Asylbürokratie überführt, noch unterlagen sie den Regelungen zur Verteilung auf Bundesländer und Kommunen. Sie konnten ihren Wohnort frei wählen, ein sehr großer Teil ist privat untergekommen.
Kommen wir auf die Zeit rund um 2015 zurück. Welche Rolle spielte die Verteilung der Flüchtlinge zwischen Stadt und Land?
Wenn man auf die Verteilung der Schutzsuchenden insgesamt schaut, zeigen sich doch deutliche Ungleichgewichte. Es waren keineswegs die ostdeutschen Bundesländer, die die meisten Menschen aufnahmen. Vielmehr finden sich Schutzsuchende vor allem im Nordwesten, der gegenüber dem Süden und dem Osten dominiert. Es wurde deutlich, dass es vor allem dort die stärksten Proteste gab, wo die Vorerfahrungen mit Schutzsuchenden am geringsten waren.
Man muss sich auch noch mal die Dynamik der gesellschaftlichen Debatten damals anschauen, die sich schwer einfangen ließen. Der AfD gelang es, das Thema Flucht und Migration zu ihrem Leitthema zu machen und sich vom Thema Euro-Skepsis zu verabschieden. Und diese viel zitierten Verschiebungen der Grenzen des Sagbaren, die begannen im Herbst 2015. Da hätte man natürlich insbesondere vonseiten der etablierten Parteien weit früher reagieren können.
Was hätten die sogenannten etablierten Parteien denn anders machen sollen?
Es hätte in jedem Fall klarer gemacht werden müssen, dass Probleme gesehen und auch angegangen wurden. Und dass es keineswegs um einen Kontrollverlust geht. Das scheint mir nicht im ausreichenden Maße passiert zu sein.
Sie sagen also, es gab damals keinen Kontrollverlust?
Genau. Davon würde ich nicht sprechen. Die Gesellschaft und die Behörden waren ohne Zweifel stark gefordert, weil nicht immer zu jedem Zeitpunkt klar war, auf welche Art und Weise auf welche Ereignisse reagiert werden sollte. Es bedurfte einer gewissen Zeit, um die Verhältnisse in den Griff zu bekommen. Aber es gab keinen Kontrollverlust. Und das gilt letztlich auch für das ungeheuer schwierige Thema des Terrorismus.
Würden Sie denn sagen, dass diese Ereignisse, aber auch dieser sehr einprägsame Satz von Merkel damals ein Wendepunkt in der neueren deutschen Geschichte waren?
Der Satz selbst war kein Wendepunkt. Er steht gewissermaßen für eine Phase von wenigen Monaten, in denen die viel zitierte "Willkommenskultur" im Vordergrund stand. Aber die war ja dann kurze Zeit später schon vorbei. Die Ereignisse selbst dagegen hatten eine sehr große Bedeutung für Europa und für die Bundesrepublik. Es kamen sehr viele Menschen, das hat die deutsche Gesellschaft verändert. Dadurch, dass sie kamen, wurden sie Teil des "wir", von dem die Bundeskanzlerin sprach, auch wenn das nicht von allen akzeptiert wird. Und diese Nicht-Akzeptanz sieht man auch auf der politischen Ebene mit dem Aufstieg der AfD.
Haben die Menschen, die damals nach Deutschland kamen, heute hier stabile Perspektiven?
Ja, aber das gilt natürlich nicht für alle. Viele haben großes Interesse an der deutschen Staatsangehörigkeit. Aber etliche sind auch skeptisch mit Blick auf die Frage, ob sie sich hier angekommen fühlen dürfen. Sie haben den Eindruck, dass sie doch noch häufig sehr weit am Rande der Gesellschaft stehen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten über Abschiebungen und Rückkehr nach Afghanistan oder Syrien zeigt sich, dass die deutsche Staatsangehörigkeit ein deutliches Plus an Sicherheit für die Menschen mit sich bringt.
Herr Oltmer, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefoninterview mit Prof. Dr. Oltmer













