Radikalisierung im Netz Wie Deutschland Islamismus begegnen muss

Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg, München – neun Monate, fünf Anschläge, fünf Städte. Radikalisierung in Deutschland ist digitaler, gefährlicher geworden. Was es jetzt braucht: eine Stärkung der Moscheen – keine Schwächung.
Von Mai 2024 bis Februar 2025 erschütterten Anschläge das Land, verübt von unterschiedlichen Tätern, die sich unabhängig voneinander in Rekordzeit online radikalisiert hatten.
Keine langjährig indoktrinierten Kämpfer, keine konspirativen Netzwerke – sondern Einzelgänger, entwurzelt, oft in persönlicher Krise, verloren in der Welt sozialer Medien. Sie stolpern in die algorithmischen Abgründe von TikTok und Instagram, wo islamistische Influencer mit Hunderttausenden Followern eine Ideologie der Gewalt in mundgerechten Clips servieren.
Ein paar Wochen, ein paar Videos – und aus Frust wird Fanatismus. Was in den Abgründen sozialer Medien entsteht, braucht ein Gegengewicht in der realen Welt – Orte der Orientierung, wie es lebendige und sichtbare Moscheen sein könnten.
Zur Person
Asif Malik ist Diplom-Betriebswirt und MBA. In Hamburg leitet er als Unternehmer ein Immobilienmaklerbüro sowie eine Personalberatung. Ehrenamtlich engagiert er sich seit 20 Jahren im interreligiösen Dialog und ist Mitinitiator zahlreicher integrativer Projekte.
Fehlt dieses Gegengewicht, schlägt die Suche nach Halt leicht in andere Bahnen um – Radikalisierung, die heute keinem klassischen Muster mehr folgt. Es gibt keine festen Gruppen, keine langfristige Einbindung in Zellen oder radikale Hinterhofmoscheen. Stattdessen entsteht ein individualisierter "Baukasten-Dschihadismus", bei dem Täter sich aus ideologischen Versatzstücken ihre eigene Heilslehre zusammenbauen.
Der gemeinsame Nenner ist oft nur Hass: auf "den Westen", auf "die Ungläubigen", auf eine Gesellschaft, die ihnen fremd erscheint. Ob für den sogenannten Islamischen Staat oder als Rache für Militäreinsätze – macht für sie keinen Unterschied. Die Wut ist diffus, die Gewalt der letzte vermeintlich logische Schritt.
Eine Zäsur
Für Sicherheitsbehörden bedeutet das eine Zäsur. Terrorismus war einst ein langfristiger Prozess – man konnte Netzwerke infiltrieren, Verdächtige über Monate beobachten. Doch wie bekämpft man Radikalisierung, die nicht mehr Jahre, sondern nur noch Wochen dauert? Wie kontrolliert man eine Ideologie, die nicht in physischen Räumen wächst, sondern in den digitalen Strudeln sozialer Medien?
Eine naheliegende Antwort lautet: die Plattformen in die Pflicht nehmen. Algorithmen, die Nutzer innerhalb weniger Klicks in eine Spirale aus Hassvideos ziehen, ähneln digitalen Brandstiftern: Sie entzünden Stimmungen, die sich rasch verselbstständigen. Entsprechend betont die Medienwissenschaftlerin Anna Sophie Kümpel im Gespräch mit der Ludwig-Maximilians-Universität München: "Die Algorithmen haben Hatespeech und Desinformation schon immer gepusht, weil sie sehr stark auf Inhalte anspringen, die emotionalisieren und polarisieren."
Gesellschaftliches Vakuum
Dieser Blick auf die Mechanik der Plattformen zeigt: Es geht nicht um einzelne Videos oder Influencer, sondern um ein strukturelles Problem. Algorithmen verstärken systematisch Inhalte, die polarisieren und Emotionen triggern. Unabhängig davon, wie weit soziale Medien ihre Verantwortung wahrnehmen, problematische Inhalte einzudämmen, bleibt das zentrale Problem bestehen: die geistige Leere, die diese Inhalte erst attraktiv macht.
Extremismusexperte Mathieu Coquelin bestätigt diese Einschätzung im Interview mit tagesschau.de: "In der Lebensphase Jugend sind natürlich verschiedene Themen interessant, die Jugendliche beschäftigen. Und wir erleben, dass dort Deutungsangebote gemacht werden, beispielsweise: Was ist deutsch? Was ist muslimisch?"
Zugleich betonte er: "Die Deutungsangebote, die eben derzeit angeboten werden, da müssen wir realistisch sein, kommen nicht aus dem Bereich der politischen Bildung und nicht aus dem Bereich der demokratischen Parteienlandschaft. Dort haben radikale Akteure gerade Oberwasser." Klar ist also: Das Problem liegt nicht allein im Internet, sondern in einem gesellschaftlichen Vakuum, das Jugendliche besonders anfällig für radikale Angebote macht.
Eine gefährliche Kombination mit der digitalen Radikalisierung
Dieses Vakuum zeigt sich besonders in der realen Welt, in der es an sichtbaren, offenen Räumen für junge Muslime mangelt – Orte, die Orientierung, Austausch und gesellschaftliche Anbindung bieten. Radikale Akteure füllen die Lücken, die die Gesellschaft selbst hinterlassen hat – eine gefährliche Kombination mit der digitalen Radikalisierung.
Hier zeigt sich ein deutsches Paradoxon. Seit Jahren werden Moscheen misstrauisch beäugt und unter Generalverdacht gestellt, während der Widerstand gegen neue Moscheebauten enorm ist. Wer ein offenes, sichtbares Gebetshaus errichten will, wird behandelt, als wolle er ein Atomkraftwerk mitten in der Stadt bauen.
Ein besonders drastisches Beispiel liefert die 2008 eröffnete Khadija-Moschee in Berlin-Heinersdorf: Schon früh begannen Anwohner mit Unterschriftensammlungen und Protesten gegen das Bauvorhaben. Trotz der erteilten Baugenehmigung eskalierte der Widerstand – es kam zu Schmierereien an der Kuppel, zum Entsorgen von Schweineblut auf dem Gelände und schließlich zu Brandanschlägen auf das Grundstück. Die Auseinandersetzungen zogen sich über Monate, begleitet von Spannungen in der Nachbarschaft und hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit.
Einst angefeindet, ist sie heute längst respektiert. Der Berliner "Tagesspiegel" schreibt: "Denn nachdem die Moschee im Jahr 2008 – noch unter dem Schutz von Hunderten Polizisten – eröffnet wurde, ist die Gemeinde, die rund 600 Berliner Mitglieder zählt, nun in ihrer Existenz nicht nur unbehelligt, sondern in weiten Kreisen respektiert."
Das liegt fraglos an den vielfältigen Aktionen der Gemeinde: "So veranstalten die Gemeindevertreter Tage der offenen Tür, planen Hilfsaktionen, laden im Wochenrhythmus Schulklassen zum Moscheebesuch ein, verteilen Flyer gegen Rassismus und lassen Events mit dem Ziel stattfinden, den interreligiösen Dialog zu fördern."
Diese Offenheit und das Engagement auf vielen Feldern haben dazu beigetragen, Ressentiments abzubauen und die Akzeptanz sowie das gegenseitige Verständnis zu erhöhen. Die Geschichte des islamischen Gotteshauses macht deutlich: Sichtbare, engagierte Moscheen können Vorurteile abbauen, Integration fördern und jungen Menschen Perspektiven bieten.
So sehr die Berliner Moschee heute als positives Beispiel gilt, verdeutlicht sie zugleich das strukturelle Problem: Eine Moschee mit Kuppel und Minarett in zentraler Lage ist für viele nach wie vor unvorstellbar. Also bleibt der Islam in Deutschland gezwungenermaßen oft unsichtbar, verdrängt in Hinterhöfe, ohne Platz für offene religiöse Debatten.
Begegnungsorte sind dringend notwendig
Doch genau diese Begegnungsorte sind dringend notwendig. Radikalisierung bekämpft man nicht allein mit Polizeiarbeit, sondern mit glaubwürdigen Alternativen. Die Mehrheit der Moscheen richtet sich nicht aktiv an die Mehrheitsgesellschaft – und das ist kein Zufall, sondern Folge politischer Ignoranz. Islamische Verbände werden zu oft nicht als Partner gesehen, sondern als Problemfall oder Sicherheitsrisiko.
Das Ergebnis ist eine Generation junger Muslime, die weitgehend sich selbst überlassen bleibt. Zu wenige Prediger sprechen die Sprache der Jugend, zu wenige Moscheen bieten ein Umfeld, in dem theologisch fundierte und zugleich zeitgemäße Orientierung möglich ist. Die entscheidende Frage lautet längst nicht mehr, ob Jugendliche ihre religiöse Identität in Moscheen finden – oder auf TikTok. Die Realität zwingt uns: Wir müssen Moscheen zu sichtbaren, starken Orten machen.
Dazu gehören gezielte Programme, die Orientierung bieten und junge Menschen fördern. Aber auch klare Anforderungen: Predigten sollten auf Deutsch gehalten werden, um die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs zu sichern. Imame brauchen Fortbildungen, die pädagogische Kompetenz, interreligiösen Dialog und Wertevermittlung stärken. Bildungs- und Integrationsangebote können religiöse Bildung mit praktischer Lebenshilfe verbinden – vom Umgang mit digitalen Medien bis zur Teilhabe an gesellschaftlichen Debatten.
Raum, den man lange verweigern wollte
Offene Moscheen wiederum können Begegnungsräume sein: Orte, an denen Jugendliche erleben, dass sie Teil einer pluralen Gesellschaft sind. Und eine Mehrheitsgesellschaft, die solche Moscheen sichtbar wertschätzt, fördert und in den öffentlichen Diskurs einbindet, trägt dazu bei, dass ein attraktives, demokratisches Deutungsangebot entsteht – eines, das Halt gibt und Radikalisierung wirksam vorbeugt.
Dass dies gelingen kann, zeigt die Khadija-Moschee in Berlin: Einst heftig angefeindet, bietet sie heute jungen Menschen Orientierung, Austausch und gesellschaftliche Teilhabe – genau den Raum, den man ihr lange verweigern wollte.
Das Vakuum wird sich füllen – die Frage ist nur, wer es füllt: eine Gesellschaft, die Verantwortung übernimmt, oder extremistische Akteure, die von unserer Untätigkeit profitieren.
Hinweis: Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinungen der jeweiligen Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.
- Eigene Gedanken und Beobachtungen








